FORVM, No. 235/236
Juli
1973

Studenten am Ende, Arbeiter am Anfang

Ein Interview
Rudi, die linken Studentengruppen sind zerstritten. Ist die Studentenbewegung am Ende?

Nun wollen wir erst mal feststellen: Es hat niemals nur eine Studentenbewegung gegeben. Das muß erst mal klar aus der Ideologie ’rausgetrieben werden. Solange es eine antiimperialistische Bewegung gegeben hat, war es immer eine Bewegung aus verschiedenen sozialen Schichten innerhalb des Gesamtkomplexes der Gesellschaft der Bundesrepublik und West-Berlins. Insofern muß gesagt werden: Es gab niemals nur eine Studentenbewegung, es gab eine antiimperialistische Bewegung, die primär getragen wurde von militanten Studenten und anderen sozialen Schichten, von Jungarbeitern bis zu Schülern.

Hältst du es für richtig, daß sich die Studentengruppen zu Wurmfortsätzen von Parteien entwickeln?

Ich halte das für einen grundlegenden Fehler. Ich glaube, diese Gruppen, die den Anspruch erheben, Kommunistische Parteien zu sein, sind in der Tat sektiererische Organisationen in der Tradition — nicht der Kommunistischen Partei Deutschlands, oder sagen wir genauer: der deutschen Arbeiterklasse —, sondern sie sind Organisationen in der Tradition der KI, der Kommunistischen Internationale, die im Frühjahr 1919 gegründet wurde. Alle diese Organisationen haben ein Prinzip, das für unsere Verhältnisse grundlegend falsch ist. Der Ausgangspunkt ist der demokratische Zentralismus als Form der Organisation, genauer: die Partei neuen Typs im Leninschen Sinne. Nun überlegen wir uns einmal, wie sah die Leninsche Partei aus? Sie war die direkte, revolutionäre Negation des despotischen Zentralismus unter den zaristischen Verhältnissen. Nun, jeglicher Versuch, eine Produktionsweise, die aus halbasiatischen Verhältnissen kommt, mit unseren Verhältnissen zu vergleichen, ist eine Absurdität. Kurz gesagt: der demokratische Zentralismus ist unter unseren Verhältnissen eine Organisationsform, die die bürgerlichen Verkehrsformen unter den Menschen, unter den Genossen in den Organisationen beibehält. Insofern ist sie nicht im geringsten eine Alternative für die bestehenden Organisationen der herrschenden Klasse.

Du lehnst also den „Parteiaufbau“ ab?

Ja. Ich glaube, wir haben einen grundlegenden Fehler gemacht in der Zeit der sogenannten Studentenbewegung, genauer gesagt der anti-imperialistischen Bewegung. Wir haben die Dialektik zwischen Bewegung und Organisation nicht verstanden. Wir haben die Bewegung zum Prinzip erklärt und die Organisation zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.

Könntest du das konkretisieren?

Ja. Die Bewegung ist immer ein schlechtes Beispiel. Der Revisionist Bernstein sagte einmal: Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts. Nun will ich nicht behaupten, daß wir Revisionisten im Bernsteinschen Sinne waren. Aber wir haben tatsächlich gesagt, die Bewegung, Bewegung, Bewegung, die treibt uns voran, die bringt uns einen Weg in Richtung Sozialismus. Wir waren aber nicht in der Lage, die Bewegung in einen dialektischen Zusammenhang zur Organisation zu stellen. Der SDS war niemals eine revolutionäre studentische Bewegung, noch eine, die über die studentische Ebene hinausgehen konnte. Ich glaube, es ist ungeheuer wichtig, die Spontaneitätsfrage, die wir so betont haben, in keinem Augenblick zu erniedrigen. Es war von entscheidender Bedeutung, Spontaneität und Organisation in ein richtiges, den historischen Umständen angemessenes Verhältnis zu bringen. Man muß heute differenzieren zwischen den Organisationen, die sich gebildet haben, und der Gesamtheit derjenigen, die ein klares antikapitalistisches, ein klares sozialistisches Denken entwickelt haben. Und ich glaube, es ist ganz grundlegend wichtig, sich klar darüber zu sein, daß diese Organisationen nicht im geringsten die Bedürfnisse und Interessen der anti-kapitalistischen und sozialistischen Jungarbeiter, Studenten etc. widerspiegeln.

Deine Strategie wird von den heutigen Studenten abgelehnt.

Ihr Recht. Warum sollten sie nicht? Aber die Frage ist nur: Was reden sie eigentlich? Reden sie von der Geschichte oder von der Ideologie, die sie sich zugelegt haben? Und ich würde sagen, der lange Marsch durch die Institutionen bedeutet eine Negation der Illusionen über die Unmittelbarkeit des Sieges der Revolution. Das ist ein langer Prozeß. Er bedeutet permanenten Kampf in allen Institutionen. Keine elitäre Begrenzung auf die studentische Ebene, sondern ein Prozeß voller Widersprüche in allen Bereichen. Von der Industrie, vom Proletariat bis in die Universität, die Schulen etc. Das ist der lange Marsch. Man sollte sich hüten, eine Bewegung, die versucht hat, gerade die Elite als solche zu negieren, dabei natürlich teilweise steckengeblieben ist, heute als elitär abzutun.

Wie hältst du’s mit den Jusos?

Es ist eine Illusion, den Jusos zu glauben, durch die SPD den Sozialismus schließlich erreichen zu können. Es ist ganz richtig, eine kritische Arbeit zu machen von ihrem Standpunkt aus. Das bezweifle ich nicht im geringsten. Daß da Wesentliches schon geschehen ist, ist richtig. Jetzt werden sie tatsächlich Handlanger der Sozialdemokratie, und zwar der Führung.

Rudi, was ist deine Perspektive des sozialistischen Kampfes? Reform, Revolution oder Doppelstrategie?

Ich glaube, du hast die Frage falsch gestellt. Erstens geht es nicht um meine Perspektive allein. Es geht darum, wo kann man politisch agieren, wie sind die Bedingungen, wo sind die Kampfmöglichkeiten. Ich meine, nach den September-Streiks von 1969 ist eine neue Etappe eingetreten, wo Schichten innerhalb der Arbeiterschaft in Bewegung gesetzt wurden. Eine neue Dynamik hat begonnen. Nun daraus zu schlieBen, die Arbeiterklasse beginnt sich nun endlich voll zu entfalten und wird die Diktatur ausrufen, ist eine Illusion, ist Proletkult. Die Arbeiterklasse ist kein Mythos, sie ist eine reale Kraft innerhalb der Gesellschaft, reale Menschen, die reale Bedürfnisse haben, und wir sollten uns hüten, daraus einen Mythos zu machen mit den Illusionen der zwanziger Jahre.

Wie siehst du für die Studenten eine Perspektive heute?

Ich glaube an die Notwendigkeit einer Autonomie militanter Studentenorganisationen. Es muß klar herauskommen, daß die einzelnen Bereiche eine relative Autonomie behalten sollen und ein Dialog zwischen einer militanten Studentenorganisation, militanten Organisationsformen der Arbeiterklasse, anderen Organisationen sich entwickeln soll.

Du widersprichst also der Hinwendung der Studenten zu den Parteien — ob jetzt DKP, SPD oder eine Neugründung einer KPD?

Ich würde meinen, unser entscheidender Fehler in der Zeit der Jahre 64 bis 69 war gerade, daß wir das Moment der Organisation im Verhältnis zur Bewegung nicht richtig eingeschätzt haben. Und zur Zeit ist es halt ungeheuer wichtig geworden, sich dieser Dynamik zwischen Bewegung und Organisation neu zu stellen, aber ich glaube, nicht abstrakt technizistisch. Und wir haben darum so große Schwierigkeiten in der Bundesrepublik und auch anderswo. Es gibt keine konkrete Analyse des Kapitals in seiner Realität in der Bundesrepublik. Die haben wir nicht geleistet, sie ist nicht da. Es gibt nur, was sehr viel, ungeheuer viel wert ist, die methodische Skizze im allgemeinen, die uns Marx geliefert hat mit dem „Kapital“, Band 1 und 2. Das sagt aber nicht: Nun, da habt ihr alles, damit könnt Ihr Weltgeschichte machen. Marx hat klar gesagt: Ja, das sind die Grundkategorien, das ist die Wesenslogik. Aber die entscheidende Analyse der konkreten, realen Bewegung des Kapitals haben wir noch zu leisten, die haben wir nicht geleistet. Das ist die erste Schranke für die richtige Einschätzung der Organisationsfrage.

Siehst du nicht auch die Beherrschung des Staatsapparates durch Großkonzerne, wie die STAMOKAP-Theoretiker?

Daß da eine historisch neue Erscheinungsform entstand, ist ohne jeden Zweifel. Aber das ist noch keine Theorie, daß man sagt, da sind ein paar große Monopole, und die beherrschen den Staatsapparat. Man müßte eine konkrete Analyse des Kapitals in seiner Realität in der Bundesrepublik leisten, mit den Kategorien, die uns Marx geliefert hat. Gerade das geschieht bei STAMOKAP nirgendwo.

Wie siehst du, zusammenfassend, die revolutionäre Perspektive?

Im September 1969 mit den Streiks hat eine neue Balance begonnen, und alle militanten Studenten, die nun glauben, Studenten als Studenten haben weiterhin die dominierende Funktion in der revolutionären Perspektive — ich glaube, die erliegen einer Illusion. Wir suchen das richtige Verhältnis zwischen militanten Studenten und militant werdenden Arbeitern, genauer gesagt: einer sich neu entwickelnden und konstituierenden revolutionären Arbeiterklasse. Die wir im Augenblick nicht haben. Sie wird aber werden. Und diesen Prozeß müssen wir als Prozeß begreifen.

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