FORVM, No. 191/I
November
1969

Studenten lehren Professoren

Wir werden einander unverständlich. Die Verwirrung greift um sich und setzt Entrüstung an die Stelle der Frage nach den Gründen eines anderen Verhaltens. Außenstehenden scheint die Universität dem Chaos zu verfallen.

Bei Professoren und Studenten hindern Emotion, Mißtrauen und Klischeebilder das ernsthafte Zur-Kenntnis-Nehmen der gegenseitigen Argumente. Die Vertreter der Wissenschaft machen alles nur Mögliche zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion, am wenigsten aber ihr eigenes Verhalten und das Verhalten der Gegenseite in den gegenwärtigen inneruniversitären Auseinandersetzungen. Wer nicht der eigenen Gruppe die Stange hält, wird zum Gegenstand allgemeinen Kopfschüttelns.

Nicht von den materiellen Fragen der Universitätsreform sei hier die Rede, sondern nur von der menschlichen Komponente, die, wie längere Lebenserfahrung jedem beweist, ein entscheidender Faktor in allen politischen, also auch in den jetzigen heftigen hochschulpolitischen Auseinandersetzungen ist.

Das erste, was einem Hochschullehrer (wenigstens im Bereich der Geisteswissenschaften) im Verlauf dieser unruhigen Jahre auffallen mußte, war die Tatsache, daß ein immer größerer Teil meiner Studenten, und unter ihnen gerade viele der eifrigsten und begabtesten, von der politischen Linksbewegung erfaßt wurden, und daß sie die Parolen der radikalsten Sprecher wenn nicht selbst teilen, so doch mindestens für so diskutabel halten, daß sie sich nicht von ihnen wegdividieren lassen.

Wer selbst an den politischen Fragen beteiligt ist, wer die politische Apathie eines Großteils der studentischen Jugend in früheren Jahren beklagt hat, wer die Entwicklung unseres demokratischen Systems mit Sorge betrachtet und wer meint, daß in der gegenwärtigen Weltsituation die Idee des Sozialismus nicht antiquiert ist, sondern neu aktuell wird, der hatte es natürlich leichter, zu der studentischen Bewegung in ein positives Verhältnis zu kommen.

Ihn schockieren die Bürgerschreckmethoden und Äußerungen weniger als den, dem die marxistische Gesellschaftskritik fremd ist, und er ist mehr geschützt davor, daraus eine Parallele zu dem antibürgerlichen Gebaren der dem Nationalsozialismus verfallenen akademischen Jugend um 1933 zu ziehen; im Gegenteil, er wird froh darüber sein, daß hier endlich einmal eine junge deutsche Generation sich politisch nicht in Richtung auf Nationalismus und militärischen Drill bewegt, sondern weltoffen, demokratisch und in einer mich immer wieder neu bewegenden Weise humanitär denkt.

Aber unabhängig von Nähe und Distanz der politischen Anschauung sind die Zumutungen dieser Studentengeneration an die Professoren nicht gering. Nicht nur ihre Ignorierung aller überlieferten akademischen Würde, ihre militante Sprache, ihr wilder, von keiner Hemmung gegenüber dem Ordinären eingeschränkter Vokabelschatz, sondern auch ihre Vorstellungen von Lehrbetrieb sind für unser Selbstgefühl schwer akzeptabel. Nicht ein unangreifbarer König soll der Ordinarius sein, „Inhaber“ eines „Lehrstuhls“, sondern (wie Alexander von Vinet schon vor 150 Jahren gesagt hat) ein „älterer Student“ in einem Team von erwachsenen Menschen, und die Studenten sollen aus Adressaten unserer Lehrtätigkeit in mitbestimmende Partner verwandelt werden.

Daß Lehren nicht die gleiche Freiheit haben kann wie Forschen, sofern Lehren eine Funktion zwischen verschiedenen Personen ist, war uns bisher nicht geläufig. So spürten wir auch die Mängel unseres akademischen Lehrbetriebs nicht so empfindlich wie die Studenten. Immer ja sind die Mängel einer gesellschaftlichen Struktur denen unten fühlbarer als denen, die oben stehen. So erhob sich denn nicht nur der Protest, sondern auch die Phantasie der Studenten, und überholte bei weitem die offiziellen Reformideen.

Was davon rein phantastisch ist, muß sich zeigen und kann sich erst zeigen, wenn die Realisierung, soweit wie es im Rahmen der gegenwärtigen Gesellschaftswirklichkeit nur möglich ist, mindestens für Experimente freigegeben wird. Ihre Frustration im Studienbetrieb beklagen sie heftiger als frühere Studentengenerationen. Bildungsfreude und Wissenstrieb gelten nicht als Tugenden.

Wie soll aber akademische Welt bestehen, wenn diesen Tugenden nicht mehr gehuldigt wird? Daß sie diese Huldigung offen verweigern, macht sie uns Lehrern besonders fremdartig, ja unerfreulich. Wir kennen ihre Nöte wenig; denn wer wird Professor? Der, dem das Studium Vergnügen machte, den die Bücher anlockten, dem Wissensvermehrung und Problemewälzen sinnvoll erschienen. Er versteht deshalb diejenigen nicht, die Studenten sein wollen und zugleich über die Langeweile der akademischen Wissenschaft, über die Sinnlosigkeit ihrer spezialistischen Themen stöhnen und mit Schaudern an ihre Zukunft als Studienräte, Theaterdramaturgen oder Ministerialbeamte denken. Vermutlich versprechen sie sich zuviel von den noch so weitgehenden Reformen.

Hinter den Frustrationen steht die Sinnfrage. Die Sinnfrage ist die Gottesfrage. Sie kann von der Universität nicht beantwortet werden. Verwunderlich ist nur, daß sich die Universität in einem Zeitalter, das von ihren Philosophen als ein nihilistisches und atheistisches definiert wird, darüber wundert, daß ihre Studenten so explosiv nach dem Sinn von Wissenschaft fragen und Spezialforschung als Fachidiotentum verachten, wenn sie ihren Bezug zu einem sinngebenden Ganzen nicht praktisch manifest macht.

Diesen sinngebenden Bezug finden sie heute in einer Politik, die auf Humanisierung der Gesellschaft geht, und solange die Universität ihnen keine andere Sinngebung anzubieten weiß, wird sie sich über diese „Politisierung der Wissenschaft“ nicht beklagen dürfen.

Aber gibt es nicht auch destruktive Kräfte unter den heutigen Studenten, kleine Extremistengruppen, die nichts als zerstören wollen und für die alle Einzelbeschwerden nur Vorwand sind? Einzelne mag es geben, für die das zutrifft (mit Psychopathen muß überall gerechnet werden), aber Gruppen solcher Art gibt es nicht. Wo eine Gruppe so erscheint, kommt das von ihrem scharfen Gegensatz zum gegenwärtigen Zustand. Wie man diesen negieren und zugleich an seiner Veränderung konstruktiv mitarbeiten kann, wird in allen Gruppen intensiv diskutiert. Würde eine Gruppe sich auf die pure Negation beschränken, würde sie sich selbst isolieren, denn das Interesse an sinnvoller Gestaltung der Studienbedingungen ist zu groß und setzt sich immer wieder durch. Wo eine Gruppe mit sehr radikalen Vorschlägen Anhang gewinnt, so liegt das daran, daß ihre Gedanken einleuchten.

Sollte ein Teil davon irreal sein, so kann das nur am Experiment und durch rationales Argumentieren bewiesen werden, also dadurch, daß man sie zunächst einmal ernst nimmt. Kann bestritten werden, daß es am Ernstnehmen der Studenten und ihrer weitausgreifenden Phantasie oft genug gefehlt hat? Wir Professoren waren dafür nicht vorbereitet, wir haben ja die Lehrautorität, es ist uns ungewohnt, von unseren Studenten lernen zu wollen.

Aber nur gegenseitiges Lernen kann aus den Konflikten herausführen. Davon dürfen auch Beleidigungen und Rechtsverletzungen der Studenten nicht abhalten. Sie dürfen nicht übelgenommen werden, sondern müssen verstanden werden, zumal da auch die Studenten Rechtsverletzungen von staatlicher Seite (z.B. bei manchen Polizeieinsätzen) erfahren, bei denen sie fast nie ein Eintreten ihrer Professoren für sie erlebt haben.

Wir Älteren haben an uns strengere Anforderungen zu stellen als an die Jüngeren. Von uns, nicht von ihnen, haben wir zuerst Verstehen und unermüdliche Geduld zu verlangen; sie haben wir zugleich als gleichberechtigte Partner und als unerfahrene Jugend anzusehen. Sie sind in diesen Jahren von neuen Ideen überrumpelt worden und kennen die heutige Welt zum Teil schlechter, zum Teil besser als wir. Sie wissen selbst, daß sie in einem ungeheuren Lernprozeß stehen.

Sie müssen bei uns Widerspruch und Solidarität finden; auch im Widerspruch die bedingungslose Treue derer, die ihnen die Welt in einem schlimmen Zustand hinterlassen und die sie — das dürfte das Entscheidende sein — gerade deshalb um so mehr lieben.

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