FORVM, No. 140-141
August
1965

Thomas Manns Republik der Unpolitischen

(II.)
voriger Teil: Die Republik der Unpolitischen

Kann nach eindeutigem Frontwechsel noch von einer Kontinuität der Weltanschauung gesprochen werden, wie es Thomas Mann bei der Drucklegung seiner Rede „von Deutscher Republik“ tat?

Dieser republikanische Zuspruch setzt die Linie der ‚Betrachtungen‘ genau und ohne Bruch ins Heutige fort, und seine Gesinnung ist unverwechselt, unverleugnet die jenes Buches: diejenige deutscher Menschlichkeit.

Da haben wir ihn wieder, diesen schillernden Begriff, dem Kaiserreich wie Republik nur Mittel zum Zweck, dienende Werkzeuge sein sollten: die deutsche Menschlichkeit. Es verwundert nun nicht mehr, in seiner Studie „Kultur und Sozialismus“ (1929) eine eigentümlich deutsche Definition der Demokratie zu vernehmen:

Wer also in Deutschland der Demokratie das Wort redet, meint nicht eigentlich Pöbelei, Korruption und Parteienwirtschaft, wie es populärerweise verstanden wird, sondern er empfiehlt damit der Kulturidee weitgehende zeitgemäße Zugeständnisse an die sozialistische Gesellschaftsidee, welche nämlich längst viel zu siegreich ist, als daß es nicht um den deutschen Kulturgedanken überhaupt geschehen sein müßte, falls er sich konservativ gegen sie verstockte. Wer ihn um seiner großen Vergangenheit willen liebt, sagt ihm, was wahr und notwendig ist, indem er ihm den sicheren und schon vollendeten Sieg des sozialistischen Gegengedankens vor Augen rückt und Beweglichkeit, Anpassungswilligkeit, Aufnahmefähigkeit von ihm fordert.

Das bedeute, meint der Dichter, nicht notwendig politischen Radikalismus, worunter er offenbar Barrikadenkampf, Kirchenschändung und Guillotine versteht. Dessenungeachtet enthüllt er in seiner Lessing-Rede (1929) eine Konzeption, die vielleicht auf den ersten Blick politisch harmlos, gar sphären-harmonisch klingen mag, in ihrer Berührung der Extreme aber an geistiger Explosivkraft ihresgleichen sucht. Da werden gleich drei oder vier irdische Paradiese in eins gegossen: die sagenhafte griechische Polis, die Tugendrepublik der Jakobiner, die blaue Blume der Romantik und die klassenlose Gesellschaft:

Was not täte, was endgültig deutsch sein könnte, wäre ein Bund und Pakt der konservativen Kulturidee mit dem revolutionären Gesellschaftsgedanken, zwischen Griechenland und Moskau, um es pointiert zu sagen — schon einmal habe ich dies auf die Spitze zu stellen gesucht. Ich sagte, gut werde es erst stehen um Deutschland, und dieses werde sich selbst gefunden haben wenn Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen haben werde — eine Begegnung, die übrigens im Begriffe sei, sich zu vollziehen. Ich vergaß hinzuzufügen, daß eine einseitige Kenntnisnahme unfruchtbar bleiben müßte.

Mit dem demokratischen Sozialismus unserer politischen Praxis, mit der mühseligen, glanzlosen Kleinarbeit in Parlamenten und Gewerkschaften, die die Voraussetzung sozialen Fortschritts ist, hat ein Credo wie das eben zitierte gewiß nichts gemein. Die edle Einfalt, stille Größe unseres Marmorbildes von Griechenland wird man im Alltag politischer und sozialer Interessenkämpfe vergebens suchen. Und genauso wenig kann die moderne Massendemokratie, die nun einmal ohne „Pöbelei, Korruption und Parteienwirtschaft“ nicht denkbar ist, mit jenem donnergrollenden Pathos der Menschheitsbefreiung aufwarten, das unser Dichter wie so viele seiner Kollegen aus Moskau zu hören meinte. Wir können Thomas Mann den Vorwurf nicht ersparen, daß sein Sozialismus eben nicht demokratisch, sondern utopisch war.

In dem Essay „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“ erklärte er 1932:

Der Bürger ist verloren und geht des Anschlusses an die neu heraufkommende Welt verlustig, wenn er es nicht über sich bringt, sich von den mörderischen Gemütlichkeiten und lebenswidrigen Ideologien zu trennen, die ihn noch beherrschen, und sich tapfer zur Zukunft zu bekennen. Die neue, die soziale Welt, die organisierte Einheits- und Planwelt, in der die Menschheit von untermenschlichen, unnotwendigen, das Ehrgefühl der Vernunft verletzenden Leiden befreit sein wird, diese Welt wird kommen, und sie wird das Werk jener großen Nüchternheit sein, zu der heute schon alle in Betracht kommenden, alle einem verrotteten und kleinbürgerlich-dumpfen Seelentum abholden Geister sich bekennen.

Das ist noch kein Kommunismus, gewiß nicht. Aber es ist Volksfront-Ideologie: die Einladung, mitzumarschieren. Es ist die Aufforderung zur Kapitulation und Selbstentmannung an alle Nichtkommunisten, entsprungen dem politischen Minderwertigkeitskomplex eines verschreckten, irregelaufenen Bürgers und Künstlers, der sich den neuen Wirklichkeiten des Industriezeitalters nicht mehr gewachsen fühlt. Kein Wunder, daß die Kommunisten gerade dieses Wort Thomas Manns immer und immer wieder zitieren: Da bestätigt ihnen einer, der nicht zu ihnen gehört, ihren Führungsanspruch.

Thomas Mann hat immer wieder beteuert, daß der Kommunismus eine Idee sei, die weit über Marxismus und Stalinismus hinausreiche, eine uralte Menschheitsidee, ein Leitmotiv der Menschheit schlechthin. Diese Meinung spricht sehr deutlich aus einer Äußerung aus dem Jahre 1952, in der es dem Dichter darum ging, seine Stellung zum Kommunismus abzugrenzen und zu präzisieren:

Ich habe keine politischen Glaubensbindungen und bin kein Kommunist. Das viel zitierte Diktum ‚Der Antikommunismus ist die Grundtorheit unserer Epoche‘ meint nichts anderes, als daß die Verwirklichung der Fernziele der Menschheit: Weltregierung, gemeinsame Verwaltung der Erde und ihrer Güter, Völkerfriede, ohne kommunistische Züge kaum vorzustellen ist.

Eben dies meinen wir: Thomas Mann dachte, wenn er vom Kommunismus sprach, wie stets nicht an die konkrete, wirkliche Welt, sondern an eine Erscheinung im Reich der Geister. Er hat, das soll nicht verschwiegen werden, ein längeres Schreiben an Ulbricht gesandt, worin er die SED-Herrschaft ein „Blutschauspiel“ nannte. Im Westen, so argumentierte er, könnte aus der Verwandtschaft der kommunistischen mit den faschistischen Praktiken auf eine Verwandtschaft der beiden Systeme geschlossen werden, eine Auffassung, die Thomas Mann selber immer entrüstet zurückgewiesen hat. Unsere Zeit ist reich an solchen Briefen besorgter Dichter an Diktatoren: Auch Brecht schrieb an Ulbricht, Knut Hamsun an Hitler, Romain Rolland an Stalin. Das Ergebnis war stets das gleiche: der Diktator antwortete nicht, und der Dichter, dessen Illusion schon ganz andere Schläge hatte hinnehmen müssen, fand sich auch damit ab.

Thomas Manns Nachsicht, wenn nicht Sympathie für den Kommunismus fand in seinem — zumindest zeitweise — leidenschaftlichen Haß auf Deutschland eine Entsprechung; in beiden Fällen war sehr viel Emotionales und Unbewußtes im Spiel. Die außerordentliche Reizbarkeit gegenüber allem Deutschen, das bodenlose Mißtrauen, die Kompromißlosigkeit der Absage haben sicherlich darin ihren Grund, daß er selbst sich zutiefst als Deutscher fühlte, im Guten wie im Bösen — nicht als Staatsbürger, der er ja seit seiner Ausbürgerung nicht mehr war und nicht mehr wurde, aber in seinem innersten Wesen. Er war im Ersten Weltkrieg durch die nationalistische Verblendung hindurchgegangen, er wußte, wie groß und gefährlich die Versuchung war. Er mußte schreien, um die verführerischen Stimmen in sich selbst zu übertönen; er rechnete mit Deutschland ab wie mit dem Bösen in sich selbst.

Die deutsche Katastrophe, die schmerzlichen Erkenntnisse aus dem zweiten Krieg und der zweiten Niederlage hat Thomas Mann 1947 im „Doktor Faustus“ gestaltet. Wieder treten uns die beiden Prinzipien entgegen, die wir aus dem „Zauberberg“ kennen, nun in Gestalt des Chronisten der Geschichte, des Gymnasialprofessors Dr. Serenus Zeitblom, und ihres Helden, des Musikers Adrian Leverkühn. Inzwischen aber sind diese Prinzipien ganz auf den Hund gekommen. Zeitblom, „ein mäßiger Mann und Sohn der Bildung“, hockt in einer hinterwäldlerischen bayrischen Kleinstadt am Schreibtisch, räsoniert hilflos über Gott und die Welt und den Führer, schöpft lauwarmen Trost aus den klassischen Schriften und ist doch wie ein verstörtes Kaninchen vor der Schlange hypnotisiert von seinem genialen, dem Teufel und der Paralyse verfallenen Freunde. Dieser Adrian Leverkühn hat aus der Krankheit — es ist nicht mehr die hektisch-blühende Schwindsucht, sondern die finster und unterirdisch schleichende Syphilis — höchsten Gewinn gezogen; an der Grenze von Genie und Wahnsinn komponiert er unsterbliche Werke in Zwölfton-Reihen.

Eine mittlere Figur, wie es auf dem verwunschenen Berge Hans Castorp war, gibt es nicht mehr, will man nicht das zarte Knäblein „Echo“ dafür ansehen, das früh und jammervoll verlischt. Die Mitte ist aufgehoben, was ein Zeichen der tief pessimistischen, ausweglosen Konzeption ist, der übrigens auch das für Thomas Mann charakteristische Element der Ironie vollständig abgeht. Das Ringen zwischen Gott und Teufel um den Menschen ist entschieden: Leverkühn — das ist Castorp, der sich dem Teufel verschrieben hat, und Zeitblom — das ist auch wieder Castorp, der naive, staunende Zuschauer, der genauso, wenn auch auf passive und reflektierende Weise, dem Teufelsspuk verfallen ist. Das Ringen um die Gesundheit ist ausgekämpft: Auf der einen Seite gibt es die „schöpferische, Genie spendende Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Fels sprengt“, auf der anderen die „zu Fuße latschende Gesundheit“. Das Ringen um die rechte Lebenshaltung ist ausgekämpft: Der Künstler ist zum amoralischen Artisten geworden, der die Größe seiner Werke mit der Verdammnis seiner Seele bezahlen muß, der Bürger zum Philister und Spießer, zum Kauz in der Dachstube. Auch das politische Ringen ist zu Ende: Leverkühn ist ein deutschtümelnder Barbar, dem selbst die Ambivalenz Naphtas gegenüber dem Kommunismus spurlos abhanden gekommen ist (der Teufel erscheint ihm im faschistischen Italien!); Zeitblom ist ein Abbild der bürgerlich-demokratischen Parteien, die sich durch ihre Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933 im Reichstag selber entmannten und von da an ein kümmerliches Schattendasein in der inneren Emigration fristeten.

Thomas Mann hat seinen „Faustus“ ein „Buch des Endes“ genannt. Vor allem sollte es ein Buch des deutschen Endes sein. „Alles drängt und stürzt dem Ende entgegen, in Endes Zeichen steht die Welt — steht darin wenigstens für uns Deutsche, deren tausendjährige Geschichte widerlegt, ad absurdum geführt, als unselig verfehlt, als Irrweg erwiesen durch dieses Ergebnis, ins Nichts, in die Verzweiflung, in einen Bankrott ohne Beispiel, in eine von donnernden Flammen umtanzte Höllenfahrt mündet.“

Thomas Mann inszeniert in seinem Roman eine Götterdämmerung à la Wagner, die, und das ist immerhin verdächtig, gewiß den Beifall des im Bunker der Reichskanzlei zur Hölle gefahrenen Führers gefunden hätte. Mindestens seit Stalingrad bereitete die Propagandamaschinerie des Dritten Reiches das Furioso einer solchen Götterdämmerung vor. Wenn der Nationalsozialismus untergehen mußte, sollte auch das deutsche Volk zugrunde gehen. Das deutsche Volk hat seinem Führer den Gefallen nicht getan, und einer der letzten Sprüche dieses Führers war es denn auch, daß das deutsche Volk seiner nicht würdig sei. Der linke Schriftsteller Thomas Mann aber stimmte in die Goebbels’sche Operninszenierung ein, übermannt von der nun allerdings typisch deutschen Eigenschaft, „Apokalypsen zu träumen“.

Will sagen: der Krieg ist verloren, aber das bedeutet mehr als einen verlorenen Feldzug, es bedeutet tatsächlich, daß wir verloren sind, verloren unsere Sache und Seele, unser Glaube und unsere Geschichte. Es ist aus mit Deutschland, wird aus mit ihm sein, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab ...

In Wahrheit hat Deutschland, wenn auch arg zerschunden, überlebt, nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch moralisch und geistig, und dieser nicht vorhergesehene Effekt brachte den alten Dichter, worauf wir noch zu sprechen kommen werden, in nicht geringe Verwirrung gegenüber seinem Land. Thomas Mann hat, aus den Abgründen seiner Seele schöpfend, den Nationalsozialismus unzulässig dämonisiert, wie er es schon 1938 in seiner seltsamen Studie „Bruder Hitler“ tat, worin er den zum Diktator aufgestiegenen Dilettanten als einen tragisch gescheiterten Künstler interpretierte. Hier haben wir die ganze Verworrenheit einer Politik zwischen Mystik und Ethik. Natürlich hatte der Nationalsozialismus spezifisch deutsche Züge, und Deutsche waren seine Werkzeuge, aber genauso war der Faschismus italienisch gefärbt, hat der Bolschewismus russisches, der Kommunismus in China chinesisches, der Fidelismus exotisch-kubanisches Gepräge, was nicht hindert, daß sie einander ähneln wie ein Ei dem anderen. Nicht jener geniale Apokalyptiker Leverkühn ist das Symbol der modernen Diktatur (wo gab es eine solche Gestalt in der Spitze des Dritten Reiches!), sondern viel eher der mediokre Funktionär Eichmann, der, nachdem er fünf Millionen Juden vernichtet hatte, in aller Unschuld sagte: „Ich saß am Schreibtisch und machte meine Sachen.“ Um nachzuweisen, daß die Diktatur ausschließlich eine deutsche und die einzige deutsche Möglichkeit war, bedient sich Thomas Mann in seinem Roman eines Kunstgriffs.

Er schiebt drei historische Ebenen ineinander. Da ist zunächst einmal der historische Ort des legendären Doktor Faustus aus dem deutschen Volksbuch, der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, im Roman lokalisiert in der altertümlichen Stadt Kaisersaschern mit ihren Wällen und Türmen, in der Leverkühn und Zeitblom geboren sind und die sie für immer geprägt hat. Kaisersaschern, „die Stadt der Hexen und Sonderlinge, des Instrumentenlagers und des Kaisergrabes im Dom“, hat etwas von Luthers Wittenberg und Nietzsches Naumburg und natürlich von dem alten Lübeck Thomas Manns. Vor allem Luther erscheint als die Schlüsselfigur jener Zeit. Das dürfte nicht nur auf die protestantische Herkunft des Autors zurückzuführen sein, sondern mehr noch darauf, daß der Schriftsteller Thomas Mann dem Reformator und Bibelübersetzer, der die hochdeutsche Sprache schuf, eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung des Deutschtums zumaß. Für das moderne deutsche Denken erkannte er diese Rolle dem nicht minder bedeutenden Sprachschöpfer Nietzsche zu.

Nietzsche ist denn auch die zentrale Figur der zweiten Ebene, so daß man geradezu von einem Nietzsche-Roman sprechen kann. Der tragische Denker von Sils Maria lieferte, wie Thomas Mann in der „Entstehung des Doktor Faustus“ berichtete, die Biographie Leverkühns bis in die Details. Ist nicht schon der Name Leverkühn eine plattdeutsche Form des Nietzsche-Wortes „Gefährlich leben“, das als „vivere pericoloso“ ein Schlagwort des italienischen Faschismus wurde? Nietzsche steht als Exponent der modernen Philosophie und Kunst, die den Autor in seiner Jugendzeit tief bewegte. Insofern es ein Musikerroman ist, spielen auch andere Elemente hinein, so der von Nietzsche in Haßliebe verfolgte späte Wagner, der Wagner des „Tristans“ und des „Parsifals“, von dem ein direkter Weg zur Zwölfton-Technik Schönbergs führt, welcher sich Adrian Leverkühn bei seinen Kompositionen bedient. Die dritte Ebene schließlich ist die Zeit des Nationalsozialismus, in der der Chronist Zeitblom, in der auch Thomas Mann selber an die Niederschrift der Geschichte ging.

So kunstvoll der Dichter die drei Ebenen montiert und ineinander verschränkt hat, so kann doch weder dem Leser noch dem Kritiker entgehen, daß sie nicht zusammenpassen, daß sie im Grunde unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Der Totalitarismus mag mittelalterliche Züge haben, insbesondere den Rückfall in die Barbarei, aber es waren doch Panzer und Sturzkampfbomber, die über Europa herfielen, nicht auf Besenstielen reitende Hexen, und die Gestapo-Keller wurden nicht von altertümlichen Wunderkerzen und Kandelabern, sondern von den grellen Scheinwerfern des technischen Zeitalters erhellt. Die Lutherkirche, um dieses Beispiel zu nennen, war im Dritten Reich eine feste Burg gegen die Ansprüche des totalen Staates. Und was die zweite Ebene anbelangt: Mussolini hatte, wenn er es auch nur zu einer Karikatur des Übermenschen brachte, Nietzsche immerhin gelesen. Hitler aber kannte kaum mehr als den Namen; er ging zwar ins Bayreuther Festspielhaus, liebte jedoch wie jeder Kleinbürger mehr die konventionellen Werke Wagners als die verführerisch schillernden der Spätzeit. Die atonale Musik Leverkühns wäre im Dritten Reich als „entartet“ verboten, das geisteskranke Genie selber als „lebensunwertes Leben“ von SS-Ärzten abgespritzt worden.

Ein zweiter Kunstgriff Thomas Manns, den wir schon vom „Zauberberg“ kennen, ist das Vorführen einer geschlossenen Gesellschaft, der die Kommunikation zum wirklichen Leben fehlt. Es gibt im „Doktor Faustus“ keine Arbeiter und keine Industriellen, keine Beamten, Offiziere, keine technische Intelligenz, nicht einmal Nationalsozialisten und Kommunisten, wenn man von einigen skurrilen Vorläufern absieht. Statt dessen finden wir Künstler und Literaten, Bohêmiens, versprengte und parasitäre Bürger, auch einige Professoren und Studienräte, aber nur solche, die humanistische Fächer lehren, schließlich ein paar altertümlich stilisierte Handwerker und Bauern. Es ist eine Studierstuben- und Winkelatmosphäre, in der die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht wiederzuerkennen ist. Bei solcher Optik kommen die Antriebe und Strukturen des Totalitarismus allenfalls als verzerrter Spiegelreflex ins Bild. Thomas Mann hat einmal gesagt, daß er sich nie ums Geldverdienen zu sorgen brauchte; als das ererbte Vermögen in der Inflation zerrann, war er durch seine Einkünfte als arrivierter Schriftsteller gesichert. So fehlte ihm der Blick dafür, daß der Nationalsozialismus vor allem durch die Not der Wirtschaftskrise zur Macht kam. Was Thomas Mann ein höchst interessanter und komplizierter Vorgang im Denken schien, war für Millionen schlechtweg eine Frage des leeren Magens.

Und mag auch das traditionelle humanistische Denken angesichts des nationalsozialistischen Infernos ans Ende seines Lateins gekommen sein, die Deutschen räumten 1945 die Trümmer weg und setzten die Fabriken wieder in Gang. Schon unter der Hitler-Diktatur hatten Zehntausende von Widerstandskämpfern eine andere Alternative gewußt als die von Leverkühn und Zeitblom, am sichtbarsten die Empörer vom 20. Juli 1944. Nach der Höllenfahrt der „blonden Bestien“ wuchs aus dem angeblich seit dem Mittelalter verseuchten deutschen Boden eine recht stabile Demokratie; und die angeblich zur Revolution konstitutionell untauglichen Deutschen vertraten in der Sowjetzone, wo der Teufel inzwischen neuen Einzug gehalten hatte, diese Demokratie sogar auf den Barrikaden.

Was Thomas Mann als Untergang Deutschlands mißverstand, war in Wahrheit etwas anderes: der Untergang der bürgerlich-humanistischen Intelligenz. Ihn bis in die Tiefen gestaltet zu haben, macht den Rang des Dichters aus. Der freischwebende, schöngeistige Intellektuelle entstammt in der Tat jener dämmrigen Umbruchsepoche zwischen Mittelalter und Neuzeit, deren Spuren sich in dem alten Gemäuer der Stadt Kaisersaschern erhalten haben, dem Zeitalter der Renaissance, der Reformation und des Humanismus, dessen ökonomische Basis jene Handelshäuser und Manufakturen waren, aus deren Tradition noch die Buddenbrooks stammten. Sieht die Apotheke „Zu den seligen Boten“, Leverkühns Vaterhaus, nicht einer Alchimisten-Küche zum Verwechseln ähnlich? Leverkühns Vater „spekuliert die Elementa“, er erzeugt im Wasserglas fressende Tropfen und sich bewegende, lichtempfindliche Kristallgespinste, was den Kindern einen unheimlichen Schauer über den Rücken jagt.

Aus jener Zeit der Studiergehäuse und spinnwebbedeckten primitiven Laboratorien, da Chemie und Goldmacherei, Astronomie und Sterndeutung, klassische Studien und Teufelsbeschwörung noch Hand in Hand gingen, hat der Intellektuelle etwas von der Würde und dem Odium der Allwissenheit des Magiers behalten. Er ist bis in unsere Zeit Autorität geblieben, nicht nur in philosophischen und ethischen, auch in politischen Fragen, ein Mann, der aufgrund seiner Bildung die Welt überschaut und in den Sternen liest. Das Aufkommen der Industrie, der Arbeitsteilung und der modernen Produktionsprozesse hat diese universale Funktion des Intellektuellen unterhöhlt. Der bürgerlich-humanistische Intellektuelle wurde von einer ihm rätselhaften, aber unaufhaltsam fortschreitenden Krankheit befallen, von Frustration und Dekadenz, er kam mit der Welt nicht mehr zurecht. Hegel und Marx haben dieses Phänomen Entfremdung genannt.

Thomas Mann hat die Problematik in den Erscheinungen der Kontaktlosigkeit und Herzenskälte erfaßt, von denen im „Doktor Faustus“ so viel die Rede ist. Durch den Roman weht eine Kälte, die weit beklemmender ist als die im „Zauberberg“, weil es sich nicht um die eisige Frischluft des Hochgebirges handelt, sondern um die feuchte Kühle einer Gruft. Um nicht wieder der Gesichtslosigkeit und gnadenlosen Prädestination ausgeliefert zu werden, aus der er sich am Ausgang des Mittelalters strebend befreit hat, rettet sich der Bürger in Exzentrik und Vertracktheit, was den Roman zu einem „wunderlichen Aquarium von Geschöpfen der Endzeit“ macht. Es hilft nichts, der Bürger ist verloren, die Erlösungsbotschaft von Goethes „Faust“ wird in Thomas Manns „Doktor Faustus“ in allen Punkten umgedreht, der revoltierende Mensch wird wieder wie im alten Volksbuch vom Teufel geholt, der nun allerdings die Fratze von Hitler und Stalin zeigt.

Der Dichter konnte sich die Republik („was Demokratie genannt wird und was ich Humanität nenne“) nur als eine Republik der Geister vorstellen, gelegen auf einem Zauberberge weit über den realen Vorgängen der Ökonomie, Soziologie und Politik, eine platonische Bildungsrepublik in machtgeschützter Innerlichkeit. Deutschland war für ihn immer nur das Land der Dichter und Denker. Machtgeschützte Innerlichkeit erwartend, hatte er auf das Wilhelminische Kaiserreich gesetzt, dann auf die Weimarer Republik, und er brauchte mehr als drei Jahre, ehe er sich — nach den Bücherverbrennungen und mannigfacher Diffamierung — entschieden vom Dritten Reich distanzierte. Er war und blieb ein Unpolitischer, für den die gesellschaftlichen Vorgänge zwischen Mystik und Ethik verschwammen. Die funktionale Industriegesellschaft und die Massendemokratie, auf die selbst im Ostblock und in den Entwicklungsländern alles hintreibt, kamen ihm von seinem Olymp aus überhaupt nicht in den Blick. So konnte er mit der Wirtschaftswunder-Demokratie der Bundesrepublik Deutschland nichts anfangen, und auch mit der amerikanischen Demokratie kam er, als die Intellektuellen-Hegemonie der Roosevelt-Ära vorbei war, nicht zurecht. Er ließ sich in der Schweiz nieder, also am konkreten Ort des „Zauberbergs“; dieses Land mit seiner urtümlichen Demokratie, an dem Kriege und Diktaturen vorübergegangen sind, in dem schon aus geographischen Gründen für große Industrie und Millionenstädte kein Platz ist, bot dem bürgerlich-humanistischen Einzelgänger eine letzte Zuflucht.

Thomas Mann war „ein mäßiger Mann und Sohn der Bildung“. Dennoch kommt er 1945 in der „Entstehung des Doktor Faustus“, das deutsche Trümmerfeld überblickend, zu der fragwürdigen Prognose: „Die Ausrufung eines Nationalbolschewismus und der Anschluß an Rußland sind immer noch nicht unmöglich. Für eine dezente liberal-demokratische Republik ist dieses Land verloren ...“ Angesichts der faulen und erledigten Alternative Zeitblom-Leverkühn, das heißt: antiquierte bürgerliche Demokratie oder Faschismus, setzte der Dichter, wenn auch, wie immer, mit sichtlichem Unbehagen, auf die noch nicht ausprobierte neue Utopie.

Thomas Mann, unbestreitbar die repräsentative und bedeutendste Gestalt der deutschen Literatur zwischen den Kriegen, hat, durchdrungen von einer tragischen Sehnsucht nach Demokratie, nach dem, was er Humanität nennt, das unglückliche Verhältnis der Intellektuellen zur Demokratie des 20. Jahrhunderts auf vielen tausend Seiten zu Papier gebracht. Wie die skurrilen Figuren seiner Romane drängten, verzaubert und behext, viele gerade der besten Intellektuellen zum Teufelspakt.

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