FORVM, No. 342/343
Juli
1982

Tibetanische Papiermühlen

Plädoyer für Kleine Wissenschaft

Erwin Chargaff hielt am Salzburger Symposion zu Ehren von Leopold Kohr Abrechnung mit der Großforschung. Der Text ist eine leicht gekürzte Abschrift des Tonbands.

Klein bei Kaiser Wilhelm

Das Dilemma zwischen groß und klein — Sie haben ja alle schon gelernt: „Small is beautiful“. Das ist natürlich nicht immer wahr, klein kann auch boshaft sein, mißgünstig, neidig, kann alle möglichen schlechten Eigenschaften haben. Groß ist zum Beispiel die 9. Symphonie. Das Englische hilft da besser, es hat drei Synonyme für groß: „great“, „big“ und „large“. Ich spreche vom Gegensatz zwischen „Small science“ und „Big science“, nicht zwischen „Small science“ und „Great science“.

Wir sprechen ja auch nicht von kleiner Literatur gegenüber großer Literatur und sagen, Dante ist große Literatur und ein lyrisches Gedicht ist kleine Literatur; wir sagen auch nicht, daß Proust ein Riesenbuch geschrieben hat, das ist große Literatur, und Robert Walser hat nur Skizzen geschrieben, das wäre kleine Literatur. Da besteht ja der Gegensatz zwischen schlecht und gut. Oder unecht und echt.

Denn wenn man mich fragt, was meinst du mit „Small science“, also „Kleiner Wissenschaft“, dann würde ich sagen, im wesentlichen die Naturwissenschaften wie wir sie bis zum Anfang des Zweiten Weltkrieges gekannt haben. Es hat einige Auswüchse gegeben, aber die reinen Naturwissenschaften wurden in kleinen Gruppen betrieben, in relativ kleinen Laboratorien. Das galt sowohl für Europa wie für Amerika. Es hat schon damals Ausnahmen gegeben, das waren die großen Industrielaboratorien: IG-Farben, Ciba, Hofmann La Roche. Aber die befaßten sich im wesentlichen mit der angewandten Naturwissenschaft.

Angewandte Wissenschaft kennen Sie alle. Wir sind ja umgeben von den Früchten der angewandten Wissenschaft — dieses Mikrophon hier ist so eine Frucht und dieses Sodawasser. Wir müssen uns klar darüber werden, daß die Naturwissenschaften von der Hölle bis in den Himmel ragen.

Nun, ein naturwissenschaftliches Konzept kann definitionsgemäß ja nur in einem Gehirn entstehen. Eine Gruppe kann keine Idee fassen — sie kann sie später ausarbeiten, ausschroten, anwenden. Die Idee kommt aus einem Gehirn. In der Wissenschaft wie im menschlichen Leben — da erlaube ich mir etwas zu sagen, was ich vielleicht nicht sagen sollte — ist ja der einzelne Mensch die kleinste Einheit, nicht das Dorf, nicht die Familie, nicht die Region! Und dieser einzelne Mensch treibt Wissenschaft, so wie der einzelne Mensch die Schubert-Lieder geschrieben hat. Es ist ein Einzelner.

Und bis zum Zweiten Weltkrieg oder kurz vorher, würde ich sagen, haben die Einzelnen die Wissenschaften gemacht — ein Professor mag zwei, drei, vier Doktoranden gehabt haben, vielleicht einen Assistenten. Die alten Kaiser Wilhelm-Institute in Deutschland waren sehr gute Beispiele für „kleine Wissenschaft“. Sie bestanden aus kleinen Gruppen, in denen ein bedeutender Forscher umgeben war von einigen jüngeren, auf Bedeutung hoffenden Forschern.

Wissenschaften-KZ

Das hat sich im Lauf des Zweiten Weltkrieges enorm verändert, aber ich glaube nicht, daß das ein absichtlicher Entschluß war. Ich glaube nicht, daß da einige böse Leute in Washington zusammengekommen sind und gesagt haben: „Let’s make it big!“ Sondern es hat sich von selbst ergeben, zum Beispiel im Zuge der unheilvollen Entwicklung der Atombombe.

Im „Manhattan Project“ wurde das erste riesige wissenschaftliche Konzentrationslager gebildet, in dem die Häftlinge — und sie waren ja fast Häftlinge, „Inmates“, Eingekerkerte, die bewacht wurden vom CIA, FBI und Gottweißwas dann eben drei Jahre geschuftet haben und mit diesem herrlichen Äpfelchen herausgekommen sind, mit dieser wunderbaren Frucht, die in Hiroshima soviel Freude gemacht hat ...

Das war eigentlich das erste Beispiel für große Wissenschaft, die aus reiner Wissenschaft herausgekommen ist. Jedes Medikament, jedes Pharmazeutikum ist natürlich auch angewandte Wissenschaft, aber das ist nicht in so großem Stil gemacht worden wie im Manhattan Project.

Damals ist eine neue Klasse entstanden, die ich Wissensproduzenten nennen möchte, nämlich ein ganzer Stand, der damit befaßt ist, unser Wissen zu vergrößern. Wenn man einen jungen Mann in Amerika fragt, „What do you want to do?“, sagt er: „I want to do research“. Er sagt nicht worüber, ob ihn das oder jenes interessiert, er ist angezogen von diesem angenehmen Aroma bezahlter Kongreßreisen und so weiter.

Das hat sich derart ausgewachsen, daß der Präsident der Sowjetakademie erklärt hat, es gebe in der UdSSR — ich glaube — zweieinhalb Millionen Wissenschafter. Was er da alles zählt, weiß ich nicht, ob auch die Geschirrwäscher und so dazugehören ... Die American Men and Women of Science, letzte Auflage, ein achtbändiges Riesenlexikon voller Namen, enthaltend nur solche, die bereits einige Arbeiten auf dem Gewissen haben, führt glaube ich 120.000 Namen an. In den Vereinigten Staaten werden jährlich 30.000 Philosophiedoktoren produziert, und von denen sind, fürchte ich, die meisten Naturwissenschafter.

Was an vielen Universitäten nicht stärker vertreten war als Archäologie oder Kunstgeschichte, hat sich plötzlich zu einem massiven Berufsstand ausgewachsen. Das letzte Budget des Präsidenten Carter seligen Angedenkens enthielt einen Posten von 500 Millionen Dollar für ein Jahr „for the search for new knowledge“, für die Suche nach neuem Wissen ...

Verzehnfacht, verhundertfacht

Wenn Sie eine wissenschaftliche Zeitschrift aus dem Jahre 1935 zur Hand nehmen, irgendeine, und sehen sich die Arbeiten an, dann werden Sie finden, daß meist ein einzelner Autor, manchmal zwei, und höchstens — in sehr seltenen Fällen — drei Namen über einer Arbeit stehen. Nehmen Sie sich jetzt die Proceedings of the National Academy of Sciences her, oder Nature, dann werden Sie sehen, daß häufig 15 bis 20 Namen über den Arbeiten stehen, ja ich habe schon einmal 23 Autorennamen gezählt!

Was bedeutet das? Ist das ein geistiges Produkt oder ist es stumpfe Automatik? Wie können 23 Menschen zusammen denken? In Wirklichkeit hat’s wahrscheinlich nur einer gedacht, oder in den meisten Fällen niemand, denn die Idee ist von jemand anderen gestohlen, man hat sie sich unter der Hand zustecken lassen ...

Wissenschaft ist unglaublich teuer geworden. Ursprünglich, im 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts, hat der Professor seine Arbeiten selbst finanziert. Wenn Sie die wunderbaren Briefe von Lichtenberg lesen, der ja Professor der Physik in Göttingen war — da beschwert er sich, daß er für seine Studenten ein neues kleines Teleskop hat anschaffen müssen, aus seinem Gehalt! Später sind die Produktionsmittel, um marxistisch zu sprechen, nicht mehr im Besitz des Wissenschafters gewesen, sondern im Besitz der Universität, sie waren aber bis vor kurzem sehr primitiv. Ich würde sagen, daß man bis 1938 ein ganz nettes Laboratorium mit jährlich 8000 Dollar führen konnte. Da waren schon zwei Leute dabei, die Chemikalien, die Apparate usw. So etwas kostet jetzt 80.000 Dollar.

Die Zahl der Wissenschaftler hat sich in den letzten 30 Jahren verzehnfacht, das ganze Geld muß vom Staat, vom Volk kommen. Das hat nicht nur die Bürokratisierung, sondern auch die Politisierung der Wissenschaft zur Folge gehabt.

Wenn ein Gelehrter eine verrückte Idee hat, die nicht viel Geld kostet, und er möchte sie ausprobieren — ich hoffe nicht, daß es ein neues Giftgas ist, sagen wir es sei ein neues Naturgesetz (meist ist es leider eher ein Giftgas) —, wenn ein Gelehrter so eine billige Idee hat, dann ist es kein großes Risiko, das auszuprobieren, zu finanzieren.

Analogie statt Genie

Wenn er hingegen um 500.000 Dollar ansuchen muß, um ein Laboratorium in Gang zu bringen, so bedeutet das ein großes Risiko. Er muß seine Idee ausführlich begründen, sie wird einem Komitee unterbreitet, und dann wird das Projekt ausgewählt, von dem man annimmt, daß es stimmt. Mit anderen Worten: Forschung wird zur Analogie-Forschung. Man tut nur mehr das, wo man mit 95-prozentiger Sicherheit weiß, was herauskommen wird. Wenn es nicht geht, hat man eine halbe Million Dollar verputzt und dann ist man ja ein Staatsverbrecher und kriegt nie wieder Geld.

Das führt auch zu diesen neuen Schwindelfällen — Schwindel im Sinne von Gaunerei — nicht von vertigo — von denen Sie vielleicht gelesen haben, wo Versuche gefälscht wurden, aus der panischen Angst des Forschers heraus, daß, wenn er es nicht herauskriegt, er nie wieder Geld bekommt.

Wir haben also eine völlige Politisierung und, würde ich sagen, eine Desintellektualisierung der Naturforschung, die sich vollkommen von der früheren unterscheidet — ich kann Ihnen das bestätigen, denn ich bin selbst noch ein Überbleibsel der „Kleinen Wissenschaft“, ich werde ausgestopft ins Museum kommen ...

Das hat eine radikale Veränderung aller Forschungsbedingungen und des ganzen intellektuellen, moralischen, ethischen Status des Wissenschafters hervorgerufen. Wie kann man dem abhelfen? An sich kann man ja nie irgendeiner Sache abhelfen. Alles geht weiter, man redet herum ... Wenn ich hör, das ist ein Problem, weiß ich, man wird sagen, das ist ein unlösbares Problem. Und wenn es gelöst ist, war es kein Problem. Das hier ist auch eines, das ich an sich nicht lösen kann. Ich habe aber versucht, die Bedingungen zu analysieren, was macht den Unterschied aus zwischen der Zeit, wo ich anfing, und heute? Der Unterschied ist die Freiheit des einzelnen.

Nun brauche ich Ihnen nicht zu sagen, daß man ja jetzt nicht mehr von der Freiheit des Einzelnen spricht, sondern nur von der Freiheit einer Gruppe, von der Freiheit als Ideal und so weiter. Es gibt aber so etwas wie Freiheit des einzelnen Menschen und des einzelnen Wissenschafters.

Jetzt ist es so: ein Mann sucht um einen Kredit an, um sein Laboratorium zu eröffnen. Sagen wir, es ist ein junger Mann. Während er noch ein Student war, hat man ihm schon gesagt, bei uns in Amerika ist es viel leichter, 5 Millionen als 5000 Dollar zu bekommen. Es ist wahr. Der bürokratische Apparat sieht mit Verachtung auf die kleinen Ansuchen herab, es lohnt sich ja fast gar nicht! Die Bürokraten sind alle sehr kostenbewußt. Es ist billiger, wenn man gleich nein sagt. Also sagen sie nein. Bei 5 Millionen Dollar wird ein riesiges Kuratorium einberufen, da mahlt die tibetanische Papiermühle Monate hindurch — und am Schluß kriegt er die Hälfte. Jeder Mensch sucht um das Doppelte dessen an was er nachher will. Um ganz sicher zu gehen hat der Mann in sein Projekt hineingeschrieben, was er im letzten Jahr bereits getan hat. Als Zukunftsmusik! Denn das ist natürlich das sicherste. Wenn er es dann publiziert, hat er sein Geld verdient.

Ein Eckchen Freiheit?

Nun braucht man, wenn man jung ist, etwas Freiheit und wenn möglich eine gute Luft und die herrscht nicht mehr in der Wissenschaft, zumindest nicht in Amerika. Ich bin überzeugt, daß es in anderen Ländern kaum besser ist. Was also tun?

Ich habe mir gedacht, man sollte den amerikanischen Staat dazu bringen, ein bis zwei Prozent der Forschungsgelder, die in Riesenprojekte gehen, in eine Stiftung abzuzweigen, die dazu dienen würde, jungen oder älteren bescheidenen Menschen einen kleinen Kredit für eine längere Zeit ohne viel Fragen zu eröffnen. Ein Projekt kostet vierzig- oder fünfzigtausend Dollar im Jahr, er bekommt einen Kredit und man sagt ihm, mach was du willst. Du kannst über alles arbeiten, was dich interessiert, du wirst nicht zur Verantwortung gezogen, wenn nichts herauskommt; vielleicht kriegst du dann keinen weiteren Fünfjahresvertrag, aber fünf Jahre lang bist du sicher.

Die Entwicklung führt zu einer Verhärtung, einer fürchterlichen Verhärtung des Wissenschaftsbetriebes, der ja jetzt ein Produktionsbetrieb zur Erzeugung von Daten geworden ist zwecks Speicherung in Computern. Dieser harte Betrieb hat auch zur Folge, daß er nur in wenigen Kanälen laufen kann. Die Natur ist enorm. Sie ist unbegrenzt. Die menschliche Phantasie ist ja auch fast unbegrenzt. Ein junger Mensch kann sich was einfallen lassen, wovon wir gar nicht träumen. Er kann in der jetzigen Situation nicht darum ansuchen.

Krebs-Schäden

Es gibt gewisse Sachen, die von der Mode gestattet sind, weil sie Erfolg haben. Ich nenne als Beispiel aus meinem Gebiet die Krebsforschung — so erfolgreich ist sie ja nicht, aber das meiste Geld geht dorthin. Die Krebsforscher leben davon, daß die Krebsforschung nicht erfolgreich ist. Wär das Krebsproblem gelöst, gäb’s ja keine Krebsforschung mehr. Es gibt riesige Krebsforschungs-Institute, eines in Heidelberg, es gibt ein kleines in Wien, etwa zehn Rieseninstitute in den Vereinigten Staaten.

Ein weiteres Gebiet, für das man jetzt Riesengelder bekommen kann, ist Biotechnologie, Gentechnologie, „Genetic Engineering“. Dafür interessieren sich jetzt ja auch Firmen, da hat sich eine Kommerzialisierung der Universitäten herausgebildet, die es früher überhaupt nicht gegeben hat. Jetzt weiß man schon nicht mehr, wo Hoechst aufhört und das Massachusetts General Hospital beginnt! Monsanto hat sich in Harvard mit 8 Millionen eingekauft usw. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre. Das war ja früher unerhört, daß sich Harvard, Yale, Stanford so hätten verkaufen können!

Es ist eine derartig unappetitliche, kommerzialisierte, konventionalisierte Forschung geworden, daß sich sicherlich einige hundert junge Leute sozusagen zu einem Gelübde mäßiger Armut bereitfinden sollten. Meine Idee ist, daß diese Kredite, die ich beschrieben habe, nur unter Bedingungen gegeben werden, daß der betreffende Empfänger keine anderen Gelder empfängt.

Es wird nicht geschehen, denn wie ich das in Amerika vorgebracht habe, hat mich eine höfliche Lachflut begrüßt. Ich bin ja ein alter, ehrwürdiger Mann, man lacht mich nicht laut aus, mehr kichernd, aber geschehen tut nichts. Man hat gesagt, was hat das für einen Sinn, daß du uns das Leben mies machst, es ist ja eh schon arg genug!

Da hab ich immer gesagt, ich seh meine Funktion als die des Hohepriesters in Johann Nestroys Judith und Holofernes. Der geht in diesem wunderbaren Nestroy-Stück durch Jerusalem und — ich zitiere nur beiläufig — schreit „Weh geschrieen, weh geschrieen!“ und fragt man ihn „Was tut Ihr, Hoher Priester?“ und er sagt: „Ich träufle Balsam und Trost in die Herzen meiner Leute.“ Und das ist meine Funktion. Dankeschön.

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