FORVM, No. 19/20
August
1955

Titos großes Spiel

Die Analysen, die Prof. Franz Borkenau (Zürich) über die Vorgänge im Weltkommunismus und in der Sowjetunion anstellt (vgl. FORVM 11/15), erregen immer wieder lebhaftes Interesse bei Freund und Feind — bei Feind erregen sie außerdem noch Unbehagen, das sich in hämischen Bezeichnungen wie „Kreml-Astrologe“ Luft macht. Der unvoreingenommene Leser wird aber auch dort, wo er Borkenaus Schlußfolgerungen nicht unbedingt akzeptiert, von der profunden Sachkenntnis und der scharfsichtigen Untersuchungsmethode des Verfassers beeindruckt und angeregt sein.

Wenige Vorgänge der letzten Zeit waren so undurchsichtig wie die Verhandlungen und das Abkommen zwischen Belgrad und Moskau, und es werden sich noch viele Aspekte dieser Beziehung enthüllen, ehe wir völlig klar sehen. Eines aber ist gewiß: die offizielle Belgrader Version, derzufolge Moskau vergeblich versucht hätte, Tito wieder ins kommunistische Lager einzugliedern, dient nur der Verwirrung. Der Westen wird einen hohen Preis zu zahlen haben, wenn er den sorgfältig ausgeklügelten Schein für die Wirklichkeit nimmt.

Die sowjetische wie die jugoslawische Propaganda hat vor allem darum so großen Spielraum, weil man den neu geschlossenen Frieden zwischen Belgrad und Moskau nicht verstehen kann, ohne den vorangegangenen Konflikt zu verstehen; und gerade daran fehlt es.

Der „nationale“ Keim des Konfliktes

Man hat den Konflikt zwischen Tito und Stalin meist als eine Revolte des jugoslawischen Nationalismus gegen den Moskauer zentralistischen Despotismus gedeutet. Nun spielte zwar das nationale Motiv zweifellos eine Rolle, aber nicht im üblichen Sinne. Denn vor Tito hatte es einen echten jugoslawischen Nationalismus überhaupt nicht gegeben, sondern bloß die einander feindlichen Nationalismen der Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedonier und Albaner. Der jugoslawische Nationalismus, der angeblich ein so überragendes Motiv sein soll, hat keinerlei geschichtliche Wurzeln. Er ist heftig in einer Art, wie es alle aus Ideologien entsprungenen, künstlich hochgepäppelten Bewegungen sind. Er ist nicht Grundlage, sondern Funktion der Doppelrolle der jugoslawischen KP: als zentralisierende Macht gegenüber den Nationalitäten nach innen, als abwehrende Macht gegenüber den Moskauer Ansprüchen nach außen. Wie so viele neugebackene Nationalismen äußert er sich hauptsächlich in territorialen Ausweitungstendenzen. Der jugoslawische Einheitsnationalismus erstarkte an dem Verlangen nach Triest und Kärnten, obgleich dieses Verlangen den Triester Slowenen so wenig willkommen war wie den kärntnerischen; im übrigen hatte er auch bei den Mazedoniern Griechenlands keinen dauerhaften Erfolg.

Bedenkt man all das, so wird man sich darüber klar werden, daß der Konflikt zwischen Tito und Stalin älter ist als Titos Nationalismus. Er geht auf den Anfang des russisch-deutschen Krieges zurück, nicht auf das Ende, auf das Jahr 1941, nicht auf das Jahr 1945, und er entstand — lange bevor die Kärntner oder die Triestiner Frage sich überhaupt stellte und die mazedonische Frage wichtig wurde — aus den innerjugoslawischen Vorgängen im Oktober-November 1941, als Tito seinen Aufstand nicht bloß gegen die deutschen Okkupanten richtete, sondern viel unmittelbarer gegen die von Mihailović geführte, vom exilierten König unterstützte und von London anerkannte Tschetnik-Bewegung. Tito begann die „Befreiung“ Jugoslawiens mit einem Bürgerkrieg innerhalb des antinazistischen Lagers. Langsam, geschickt und mit grenzenlosem Zynismus drängte er Mihailović in eine Situation, in der der Tschetnik-General zwar keine deutsche, wohl aber italienische Hilfe annehmen mußte — worauf er von Tito prompt und erfolgreich als Kollaborationist denunziert wurde. Und sogleich nach seinem Bruch mit Mihailovic, im November 1941, zog Tito nach Uzice an der serbisch-bosnischen Grenze, um dort unter fürchterlichem Blutvergießen eine offene kommunistische Parteidiktatur zu proklamieren.

Gegen dieses Vorgehen meldete die Sowjetregierung, sobald Moskau außer Gefahr war, heftigen Protest an. Die Jugoslawen haben nach 1948 eine (unvollständige) Sammlung der einschlägigen Dokumente veröffentlicht, die eine interessante Lektüre darstellen, auch heute noch, ja gerade heute, da so viel von der Liquidierung dieser alten Konflikte die Rede ist. In den chiffrierten Funksprüchen aus Moskau wurde Tito nachdrücklich darauf verwiesen, daß die Moskauer Politik auf einem Drei-Mächte-Bündnis beruhe, dem die Zusammenarbeit aller antideutschen und antifaschistischen Kräfte zu entsprechen habe, und daß jedes offen diktatorische oder isolierte Auftreten der Kommunisten dieses Bündnis gefährde. Auf die Verleumdungen Titos gegen Mihailović reagiert Moskau mit offenem Unglauben und verlangt Zusammenarbeit der beiden Bewegungen — läßt allerdings auch durchblicken, daß man eines Tages die Maske abwerfen und zur Errichtung einer offenen kommunistischen Diktatur schreiten werde; einstweilen jedoch bestehe die Aufgabe der Kommunisten darin, sich innerhalb der gemeinsamen Widerstandsbewegung durchzusetzen, das heißt weniger diplomatisch ausgedrückt: sie erfolgreich zu infiltrieren. Über diesen Moskauer Opportunismus äußerte sich Tito im internen Kreis mit großer Verachtung. Erst nach langem Zögern machte er ein paar formale Zugeständnisse: die kommunistischen Symbole wurden weggepackt, aus der Diktatur wurde, schon im Kriege, eine „Volksdemokratie“, aus den „proletarischen Brigaden“ eine „nationale Befreiungsarmee“, und auf den nach wie vor roten Fahnen traten an Stelle von Hammer und Sichel die nationalen Embleme. So hatte Tito, äußerster kommunistischer Extremist, auf Moskaus Drängen den jugoslawischen „Nationalismus“ ins Leben gerufen, ohne daß er in der Sache von seinem Standpunkt gewichen wäre. Hier mußte vielmehr Moskau nachgeben. Der Kampf gegen Mihailović dauerte bis zu dessen Ende, und von der Zulassung auch nur einer einzigen echten nichtkommunistischen Strömung war keine Rede.

Die Dinge erreichten im Winter 1944/45 ihren Höhepunkt. Tito traf erst mit Churchill zusammen, dann flog er nach Moskau. Churchill setzte es durch, daß mit dem früheren königlichen Minister Subasić als Strohmann eine „Regierung der nationalen Sammlung“ gebildet wurde. Wiederum akkommodierte sich Tito zum Schein, doch behandelte er die Vertreter der Königspartei von Anfang an wie Gefangene und jagte sie nach wenigen Monaten aus dem Lande. Daß er die Zustimmung Moskaus besaß, wurde damals um so sicherer angenommen, als die analogen Vorgänge in Polen unzweifelhaft direkt vom Hauptquartier der sowjetischen Polizei, d.h. von Berija, organisiert waren. Im Rückblick hat es jedoch den Anschein, als wäre die jugoslawische Politik, anders als die polnische, von Moskau nicht einhellig gebilligt worden. Jedenfalls stammt aus jener Zeit das Bündnis zwischen Tito und der von Schdanow und Wosnesensky geführten Kreml-Fraktion, die vom Krieg sofort zur internationalen Revolution vorstoßen wollte.

Die Moskauer Kontroverse, die man in bezug auf innerjugoslawische Fragen nur vermuten kann, zeigte sich hingegen unverhüllt in Fragen der jugoslawischen Außenpolitik. Zwischen Tito und den italienischen Partisanen (die von Longo, einem alten Gegner Togliattis, geleitet wurden) bestand ein enges Bündnis, und die Triester Parteiorganisation kam völlig unter Titos Kontrolle. Dennoch lehnte Molotow in seiner brüsken Art jede Unterstützung Titos in der Triestiner und Kärntner Frage ab. Tito replizierte schon im Mai 1945 mit einer öffentlichen Rede in Lubljana, wo er dagegen protestierte, daß „die großen Mächte“ die kleinen in solchen Fragen wie Triest als Spielball behandelten. Damals entstand die unauslöschliche Feindschaft zwischen Tito und dem von Stalin gedeckten Molotow.

Die Rebellion gegen Stalins Kontrolle

Die extremistische, zum Kriege treibende Fraktion in Moskau, 1945 zurückgedrängt, setzte sich von 1946 an wieder stärker durch, und Tito selbst gehörte ihrem Vortrupp an. Zu einer Zeit, da die ungarischen und tschechischen Kommunisten noch gar nicht an der Macht waren, leitete Tito bereits mit Rekordschnelligkeit sein Programm in die Wege: Einparteiensystem, Monolithismus, blutiger Terror, Zwangskollektivisierung und eine alle Utopien überbietende Industrialisierung. Es war zum großen Teil sein persönlicher Triumph, als 1947, aus Anlaß des Marshall-Plans, die von Malenkow bis dahin hintangehaltene Gründung der Kominform zustande kam, und folgerichtig in Belgrad ihren Sitz aufschlug. Damit wurde Jugoslawien zum Hauptkampfplatz der zwei einander opponierenden Moskauer Richtungen. Während Tito den griechischen Bürgerkrieg hochtrieb, in Rom und Paris bei der Umbildung der kommunistischen Parteiführungen und dadurch bei der Entfesselung revolutionärer Streiks mithalf, während er vor ausländischen Kommunisten offen von der Notwendigkeit sprach, den zögernden Gottwald zu „beseitigen“, legte die Gegenpartei ihre Minen in seinem eigenen Lande. Der Sowjetbotschafter Lawrentjew wirkte als Agent Molotows und schuf Konflikt auf Konflikt in Fragen derrussischen „Sachverständigen“. Der Kominformvertreter Judin — offiziell im Dienste Schdanows, faktisch im Dienste Stalins, Berijas und Malenkows — schürte die gleichen Konflikte auf der ideologischen Ebene. Tito reagierte auf diese Provokationen bei weitem nicht so brillant, wie man es ihm heute nachsagt, und sah sich schließlich vor die Wahl gestellt, entweder die Infiltration feindlicher Sowjetagenten auf allen Gebieten hinzunehmen oder offen zu rebellieren: was er dann tat, und zwar ungern tat. Denn nicht nur trieb es ihn in eine Isolierung, die er mehr als alles andere fürchten mußte, sondern es bedeutete zugleich das (vermutlich gewaltsame) Ende seiner russischen Verbündeten Schdanow und Wosnesensky, die jetzt als „Agenten eines Verräters entlarvt“ wurden. Aber auch für die Gegenseite ging nicht alles nach Wunsch. Denn Malenkow und Berija — die durch Titos Vorgehen tatsächlich in die Lage gesetzt wurden, Schdanow zu vernichten — hatten darüber hinaus erwartet, daß Titos Regime im Augenblick der Verurteilung durch Moskau widerstandslos zusammenbrechen würde; und darin haben sie sich bekanntlich getäuscht.

Erst in diesem Augenblick, erst als er seine Stützen in Moskau einbüßte, griff Tito auf den jugoslawischen Nationalismus zurück — ohne darum auch nur im mindesten seine fraktionelle Tätigkeit innerhalb der kommunistischen Bewegung einzustellen. Ganz im Gegenteil. Die Jahre 1949/50 waren die Jahre des wildesten Extremismus in der jugoslawischen Innenpolitik. Tito war von Moskau des „Opportunismus“ und der „Rechtsabweichung“ beschuldigt worden; er wollte und mußte demonstrieren, daß nichts dergleichen vorlag. Niemals war der Terror — keineswegs nur gegen Kominformisten, sondern gerade gegen das einfache Volk — fürchterlicher, niemals die Zwangskollektivisierung grausamer, die Industrialisierungspläne utopischer als in jenen zwei Jahren, und wenn das Land auch heute noch am Rande des wirtschaftlichen Bankrotts steht, so ist das zum großen Teil eine Folge davon. Gleichzeitig aber begann damals das unverhohlene Werben um die ausländischen Partisanenführer, vor allem um Mao Tse-Tung. Tito machte sich daran, eine große Gegenbewegung gegen die stalinistische Kontrolle aufzuziehen, und überall zwischen London und Tokio traten seine Agenten in Aktion. Als die gewünschten Ergebnisse sich nicht einstellten, begann 1951 der außen- wie innenpolitisch unvermeidliche Rückzug. Tito suchte und fand Kontakt mit Amerika. Die Zwangskollektivisierung wurde eingestellt, die industriellen Ziele herabgesetzt. Bald begann die Entkollektivisierung und die industrielle Dezentralisierung. Der Einfluß der Partei verringerte sich bis zum Punkt ihrer Umwandlung in einen angeblich rein erzieherischen „Bund der Kommunisten“. Tito schien unter Hintansetzung der Partei festen Boden im Volke zu suchen — ein Experiment, das sich in jedem Fall lohnte, auch wenn es in der Hauptsache kein andres Resultat erbrachte als die unverhältnismäßig große amerikanische Hilfe, die den totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch des Systems verhinderte. Diese Hilfe verdankte Tito dem Prestige, das er im Westen durch die Lockerung seines Regimes gewann. Alle Radikalen der Welt, die Kommunisten sein wollten, ohne Totalitäre zu sein, bewunderten Tito als den großen Zauberer, der es scheinbar fertiggebracht hatte, das Unmögliche zu verwirklichen: eine totalitäre Diktatur ohne Terror und Elend. In Wirklichkeit konnte es sich dabei nur um ein Durchgangsstadium handeln. Entweder mußte das kommunistische Regime einem völlig andern Platz machen — oder die totalitären Prinzipien mußten sich erneut durchsetzen.

Stalins Tod und Djilas’ Sturz

Mit Stalins Tod und dem gleich darauf erfolgten Sturz Berijas änderte sich das Bild. Tito, hin- und hergerissen zwischen Parteibürokratie und Volk, erkannte, daß die schmerzhafte Operation der Liquidierung der Partei überflüssig war, seit zwei seiner unversöhnlichsten Feinde in Moskau nicht mehr lebten. Die große Spannung löste sich, und die jugoslawische Beteiligung an der Donaukommission gab eine erste, sehr willkommene Gelegenheit zu erneuter Zusammenarbeit. Mit deutlicheren Maßnahmen mußte man sich noch gedulden: Malenkow war noch Ministerpräsident und Schukow befand sich im Aufstieg. Aber solche Wendungen haben ihre unausweichlichen Konsequenzen, die kein langes Zuwarten erlauben. Seit 1948 hatte Tito mit einer zeitweise sehr starken Kominformfraktion in der Partei ringen müssen, und in den Jahren des Rückzugs hatte sich unter den titotreuen Elementen eine Richtung herausgebildet, die mit der Demokratisierung ernstmachen wollte. Diese Frage des Einlenkens auf den freiheitlich-demokratischen Weg wurde gerade jetzt, da Titos alte Feinde in Moskau entmachtet wurden oder verschwanden, höchst akut, und indem die demokratischen Elemente ihre Forderungen im gleichen Augenblick steigerten, da die moskaufreundliche Richtung neuen Boden gewann und Aussicht auf Moskauer Hilfe gegen die antikommunistischen Bauernmassen bestand, verwandelte sich die Gruppe der Reformer an der Parteispitze aus einer Avantgarde in eine Opposition. Das war der Mechanismus der Affäre Djilas, dieses heroischen Versuchs einiger zur Demokratie bekehrter Partisanenführer, das Abgleiten nach Moskau zu verhindern. Doch es ging, wie es in solchen Fällen oftmals geht: der Versuch, das Geschehen aufzuhalten, beschleunigte es bloß. Djiias’ Niederlage beim ersten und seine Absetzung beim zweiten Vorstoß bedeuteten die Entscheidung. Die schwankenden Elemente kehrten um, totalitäre Ideologie und Praxis verfestigten sich, und von einer Liquidierung der Partei war keine Rede mehr.

Fast nirgends wurde die Affäre Djilas als der große Wendepunkt verstanden, der sie war — fast nirgends: außer in Moskau. Dort begriff man sofort, daß sich Tito durch diese innerparteiliche Entscheidung und die mit ihr verbundene Umwälzung des innerparteilichen Gleichgewichts viel gründlicher festgelegt hatte, als er das durch jederzeit widerrufliche Versprechungen auf internationaler Ebene hätte tun können. Von da an war der Weg zur Verbindung zwischen Belgrad und Moskau frei. Was bis jetzt davon sichtbar wurde, ist nur ein Bruchteil der unausweichlichen innen- und außenpolitischen Folgen. Die Absetzung von Djilas war Titos eigentliche Rückkehr ins Vaterhaus.

Moskau geht nach Belgrad

Damit ist Tito auch auf die Linie zurückgekehrt, die er seit 1948 verfolgt hatte. Der Westen gab sich falschen Hoffnungen hin, wenn er die zögernden Demokratisierungsversuche der Jahre 1951-1953 für eine Tendenz der titoistischen Politik hielt. Tito wollte im Grunde immer ein höchst einflußreicher Kommunist sein, und Jugoslawien als Tätigkeitsgebiet war ihm immer viel zu eng. Als nach Stalin und Berija auch Malenkow aus der sowjetischen Führerschicht ausschied, war das letzte ernste Hindernis beseitigt, das Titos Absichten entgegenstand. Schukow und Molotow sind keine Staatsführer vom Schlage Stalins (nicht einmal vom Schlage Berijas und Malenkows). Schukows Ansprüche auf eine solche Rolle wurden seit Mitte März immer weiter zurückgedrängt, und die Gruppe Konjew-Wassiljewsky-Tschuikow, die augenblicklich in der Armee das große Wort führt, war mit Tito nie verfeindet gewesen. Was aber Molotow betrifft, der an seiner Feindschaft gegen Tito unentwegt festhält, so erteilte man ihm in Moskau eine öffentliche Rüge, indem man Titos Angriffe gegen seine Person in der gesamten Presse wörtlich abdruckte — und dann erlaubte man ihm nicht, nach Belgrad mitzufahren. Tito konnte zufrieden sein.

Wäre das alles für die Wandlung in den russisch-jugoslawischen Beziehungen bedeutungslos? Hätte Tito, einfach auf Grund von Moskauer Worten über „Koexistenz“, auch den Besuch eines Berija oder Malenkow entgegengenommen? Die Frage stellen, heißt sie beantworten. Tito schätzt den Wert von Moskauer Worten ungleich klarer ein, als man das im Westen tut, und ohne den Sturz der Männer, die ihn 1948 aus der Kominform vertrieben hatten, ohne die Rückkehr der Überreste jener Schdanow-Gruppe, zu der er einst selbst gehört hatte, hätte er niemals eine echte Annäherung an Moskau gesucht.

Warum dann aber immer noch, auch bei den Belgrader Verhandlungen wieder, diese nachdrückliche Ablehnung einer Rückkehr unter Moskaus Kontrolle? Nun — diese Formel hat sich seit 1948 taktisch viel zu gut bewährt, um jetzt aufgegeben zu werden. Zwar zog sich Tito 1948 nur darum auf sein jugoslawisches Reich zurück, weil seine Position in Moskau geschwächt worden war: der Besitz eines eigenen Territoriums war damals für ihn die einzige Rettung. Doch das schloß die bis dahin von ihm mißachtete Notwendigkeit ein, sich wenigstens gegenüber Moskau der Unterstützung des Volkes zu versichern und die einzige Karte, die er spielen konnte, war der jugoslawische Nationalismus. Gleichzeitig aber versuchte er den Nachweis zu erbringen, daß Jugoslawien den Kommunismus nicht etwa gemäßigter, sondern radikaler verwirkliche als Moskau. Der Nationalismus war für Tito stets nur ein Aspekt seines Kampfes um Anerkennung und Macht in einem weit größeren Bereich. Warum das heute anders sein sollte, ist nicht einzusehen. Auch heute weist Tito dem Nationalismus die gleiche Funktion zu wie 1948: russische Eingriffe in seinem Machtbereich abzuwehren — und sich selbst eine Basis für Eingriffe in die gesamtkommunistische Politik zu schaffen.

Spiegelfechterei auf dem Flugplatz?

Wäre freilich die Gesamtlage in dem Zwischenfall enthalten, der sich bei Chruschtschews Ankunft auf dem Flugplatz von Zemun zutrug, dann bedürfte es keines solchen Spieles. Dann bliebe aber auch unverständlich, warum Chruschtschew, Bulganin, Mikojan und Schepilow überhaupt nach Belgrad fuhren und warum Tito sie dort aufnahm. Doch nicht, um ein paar diplomatische und Wirtschaftsfragen zu besprechen? (Und gerade über diese vielzitierten Wirtschaftsfragen hat man sich in Belgrad eben nicht verständigt.) Oder lebten die Belgrader, nach monatelangen Verhandlungen, etwa in der Einbildung, die Frage der Beziehungen zwischen den Parteien werde bei der Konferenz nicht aufgerollt werden? Oder wollte Tito die Moskauer, die in ihrer Presse von kaum etwas anderem als den Beziehungen zwischen den Parteien gesprochen hatten, spaßeshalber nach Belgrad locken, um ihnen dann in diesem Hauptpunkt eine öffentliche Abfuhr zu erteilen? Jede dieser Hypothesen ist offenkundig absurd. Belgrad wußte, daß bei der Konferenz über die Parteibeziehungen zu verhandeln war und war dazu bereit; nur wahrte es sich, aus guten taktischen Gründen, die nationalistische Karte.

Im übrigen haben die Jugoslawen keine sehr hohe Meinung von den westlichen Beobachtern. Sie hätten sonst in ihrer Flüsterpropaganda nicht so plumpe Methoden angewandt, die gleichwohl in vielen Fällen Erfolg hatten. Da machten sich hohe jugoslawische Parteiführer vor beliebigen Auslandskorrespondenten ungeniert über Chruschtschew und seine Äußerungen lustig — ein unerhörter Vorgang, der höchstes Mißtrauen hätte erregen müssen. Statt dessen deutete man ihn dahin, daß die Jugoslawen ihre Gäste „abblitzen“ ließen, und erwartete ein nichtssagendes Schlußkommuniqué. Als dann das wirkliche Kommuniqué mit seinen umfangreichen und komplizierten Bestimmungen herauskam, war die Überraschung groß. Aber sie war nicht groß genug, um an den laut geflüsterten Bemerkungen der jugoslawischen Funktionäre Zweifel aufkommen zu lassen. Man nahm weiterhin alles für bare Münze, obwohl es sich ja bei solchen Konferenzen im allgemeinen umgekehrt abspielt: die Partner pflegen einander hinter den Kulissen zu bekämpfen und wahren vor ihnen, also der Öffentlichkeit gegenüber, den Anschein der Einigkeit. Hier jedoch wurde gerade dem Publikum deutlich und demonstrativ das Schauspiel der Uneinigkeit geboten. Ist es gänzlich von der Hand zu weisen, daß diese Taktik etwas mit den Dollars und Düsenjägern zu tun hat, die Tito von Washington erhält?

Ein paar extreme Interpreten gehen so weit, in dem ganzen Konflikt zwischen Tito und Chruschtschew, ja sogar in der berühmten Szene auf dem Flugplatz, nur eine Komödie zur Irreführung des Westens zu sehen. Das ließe sich immerhin in Einklang bringen mit der Praxis kommunistischer Tarnmanöver, auf die man im Westen immer wieder hineinfällt, wie eintönig sie sich auch wiederholen. Ferner kann diese These für sich geltend machen, daß ein offen ins kommunistische Lager zurückschwenkender Tito für die Moskauer „Koexistenz“-Kampagne nicht halb so nützlich wäre wie ein Tito, der ein klassischer Kommunist ist, ohne es zu scheinen. Dennoch glaube ich nicht, daß es sich in Belgrad ausschließlich um ein abgekartetes, Spiel gehandelt hat. Wozu sonst die vieltägige Konferenz? Wozu das äußerst gewundene Kommuniqué, das die unverkennbaren Spuren heftiger Auseinandersetzungen zeigt? Auch hätte sich, selbst bei einem abgekarteten Spiel, der eitle Chruschtschew wohl kaum der öffentlichen Demütigung ausgesetzt, von Tito auf dem Flugplatz keiner Antwort gewürdigt zu werden. Und wenngleich die „Komödien“-These dem wahren Sachverhalt immer noch näher kommt als der gezwungene Optimismus, der von einer „Niederlage“ Moskaus in Belgrad spricht — sie übersieht die wirklichen Konflikte, die zwischen Russen und Jugoslawen bestehen, und sie übersieht den eklatanten Interessengegensatz zwischen Chruschtschew und Tito.

Chruschtschew braucht Erfolge

Chruschtschew steht, wie aus den Kundgebungen verschiedener Sowjetmarschälle anläßlich der Gedenkfeiern der ersten Maiwoche hervorgeht, unter stärkstem innerpolitischen Druck von seiten extremistischer Offiziere, die (den Einfluß Schukows bekämpfend) ein zu großes Entgegenkommen der Regierung gegenüber allen nicht orthodox kommunistischen Ländern und Strömungen befürchten. Diese Offiziere (Konjew, Wassiljewsky, Tschuikow, Moskalenko, wahrscheinlich auch Bulganin) stehen Molotow nahe, befürworten eine aktive Außenpolitik, die durch Zerbrechung der NATO den Weg zu einer russischen Weltsuprematie freilegt — und sind gleichzeitig von der Sorge besessen, daß ein allzu elastisches Manövrieren in Opportunismus und Friedensmachereien enden könnte. Auf die ungewisse und schwankende Unterstützung dieser Offiziersgruppe ist Chruschtschew angewiesen, und um ihretwillen muß er möglichst schnell Erfolge buchen, die denen Molotows gleichkommen. Im Falle Jugoslawiens konnte ein solcher Erfolg nur darin bestehen, daß Tito eine dramatische „Rückkehr ins Vaterhaus“ vollzöge.

Für Tito liegen die Dinge anders. Nicht nur würde eine solche formell bekundete Rückkehr seine internationale Stellung erheblich schwächen (was Mikojan sehr gut versteht), sondern er wäre dann auch im eigenen Lande dem Druck des Kreml ausgeliefert, er befände sich in einer schlechteren Position als 1948 — und warum sollte er sich dem aussetzen? Tito verfügt nicht über Machtquellen wie die Herren Chinas, und abgesehen von seiner Brauchbarkeit im Felde der internationalen Politik über die ein rabiates Oberhaupt im Kreml jederzeit hinweggehen könnte — gibt es für ihn nur eine einzige reale Garantie: seine taktische Stellung als Zünglein an der Waage in den inneren Machtkämpfen des Kreml. Diese Stellung aber ist mit einer noch so ehrenvollen „Heimkehr“ unvereinbar.

Wie das praktisch aussieht, haben Ablauf und Abschluß der Belgrader Verhandlungen gezeigt. Auf dem Flugplatz in Zemun stand das Mikrophon für Chruschtschew bereit — irgend etwas muß also über seine Ansprache schon vorher vereinbart gewesen sein, vermutlich hätte er ein paar kurze Allgemeinheiten von sich geben sollen. Kein Zweifel, daß Tito von Chruschtschews ausführlicher Ansprache überrascht und erbittert war. Aber es ist noch kein Fall bekanntgeworden, wo Tito sich hätte gehen lassen. Da er immerhin eine Viertelstunde Zeit zum Nachdenken hatte, handelte er aus Berechnung, als er seinen Unmut drastisch zeigte. Chruschtschew hatte durch eine bloße Handbewegung Titos einen schweren Prestigeverlust erlitten, der ihn die Macht und sogar den Kopf kosten konnte, falls Tito ihm etwa noch eine zweite Blamage bereitete. Das hat Tito wohlweislich unterlassen. Er will nicht riskieren, daß Molotow oder Malenkow an die Stelle Chruschtschews treten. Sein Verhalten hat ihm einen Positionsvorteil gebracht, der ihm vollauf genügt. Und in Anbetracht dieser politischen Tatsache ist es von geringerer Wichtigkeit, was in dem unveröffentlichten Belgrader Abkommen steht. Tito ist heute einfach deshalb wieder ein Glied der kommunistischen Weltbewegung, weil er in deren inneren Kämpfen eine Großmacht darstellt.

Das Abkommen selbst, soweit sich das aus den Andeutungen des Schlußkommuniqués beurteilen läßt, hat Bedeutung vor allem insofern, als es beträchtliche Zugeständnisse an die UdSSR enthält — denn ganz ohne Preis hat Tito seine neue Stellung innerhalb des Kommunismus nicht bekommen. Er mußte etwas tun, um das Prestige Chruschtschews, das er so sehr erschüttert hatte, auch wieder zu stützen. Auf diese Weise konnte Chruschtschew in einer Reihe wichtiger Punkte eine russisch-jugoslawische Gegenseitigkeit durchsetzen, auf die Tito ganz gewiß lieber verzichtet hätte. Punkt 5 des Schlußkommuniqués kennzeichnet diese Lage am deutlichsten. Er gibt Tito ein klares Mitspracherecht bei der Formulierung der Atompolitik des kommunistischen Blocks, und angesichts der innerkommunistischen Wirkensmöglichkeiten Titos wäre es lächerlich, das für ein bloß formales Zugeständnis zu halten. Anderseits jedoch ermöglicht Punkt 5 den Russen einen unzweifelhaften Zugriff auf die jugoslawische Uranproduktion und damit, abgesehen von direkten Zufuhren oder indirekter Bereitstellung dieses hochwichtigen Elements, auch eine Infiltrationsmöglichkeit in die jugoslawischen Apparate. Ähnliches gilt, laut Punkt 4, von der beiderseitigen internationalen Propaganda, die in beiden Ländern nicht Staats-, sondern Parteisache ist; und da Propaganda und Politik dort weitgehend zusammenfallen, stipuliert dieser Punkt eine tagtägliche Zusammenarbeit in der internationalen Politik.

Wie man unter solchen Umständen bezweifeln kann, daß Tito wieder als vollgültiges Mitglied in den kommunistischen Weltblock aufgenommen ist, verstehe ich nicht.

Titos Machtstellung im Weltkommunismus

Tito hat sein Mitspracherecht gewonnen, hat sich mit beiden Füßen auf den Boden der inneren Kämpfe des Kreml gestellt. Auch der Kreml hat ein Mitspracherecht in Jugoslawien erworben. Doch enthält das Abkommen eine große Zahl von Wendungen, die diese beiderseitigen Rechte im Namen der „Unabhängigkeit“ wieder in Frage stellen. Und hier liegt, nach der formalen Seite, Titos wichtigster Erfolg. Denn während Chruschtschew sich eine scharfe Abrechnung mit Titos Vorgehen entschieden nicht leisten kann, wird sich Tito keinerlei Zurückhaltung auferlegen. Er wird, wie er das schon bisher getan hat, auch weiterhin kommunistische Führer attackieren (die letzten Opfer jugoslawischer Presseangriffe waren der Italiener Longo undder Franzose Fajon, beide alte Schdanow-Leute). Er wird gleichzeitig von innen und von außen in die innersowjetischen Kämpfe eingreifen. Und er wird gar noch in der Lage sein, jede solche Aktion mit dem Hinweis zu rechtfertigen, daß die jugoslawische Politik für die russische Kampagne gegen den Westen desto wertvoller ist, je deutlicher Jugoslawien vor der Welt als ein „unabhängiges“ Land erscheint. Einerseits, nach Punkt 7, direkte Zusammenarbeit der beiden „gesellschaftlichen Organisationen“, d.h. der Parteien — anderseits offene Polemiken der jugoslawischen Presse gegen wen oder was immer ihr mißfällt: Tito hat sein Hauptziel erreicht. Er kann den Weltkommunismus beeinflussen, ohne durch ihn gebunden zu sein.

Daß sich von hier aus eine zersetzende Wirkung auf die Struktur der kommunistischen Weltbewegung ergeben muß, unterliegt keinem Zweifel, wenngleich dieses Faktum nicht mehr so ungeheuerlich ist, wie es 1948 gewesen wäre. Denn inzwischen hat sich Mao Tse-Tung eine analoge Stellung erobert, auf der Tito aufbauen konnte. Freilich geht die Unabhängigkeit Titos noch über diejenige Mao Tse-Tungs hinaus und wird sich um so zersetzender auswirken, als ihr die natürliche Machtgrundlage fehlt. Im Bemühen, an die Macht zu kommen, verzichtete Chruschtschew Ende 1954 in Peking auf die Reste des russischen Einflusses im chinesischen Politbüro. Im Bemühen, die Macht zu behaupten, verzichtete er im Mai in Belgrad auf ein wesentliches Stück russischer Kontrolle über den europäischen Kommunismus. Und Molotow hat mit seinen Warnungen gewiß recht, insofern es sich um Moskaus Machtstellung im Weltkommunismus handelt. Freilich soll man keine zu schnellen Entwicklungen erwarten — denn niemand könnte armseliger sein als (die Polen vielleicht ausgenommen) die Führer der Satellitenstaaten.

Der Westen aber — und das ist für uns das eigentliche Fazit der Belgrader Vorgänge — hat nur zu verlieren, wenn an Stelle einer innerlich zerfallenen und von ihren eigenen Satelliten gehaßten Moskauer Führung eine breitere internationale kommunistische Führung tritt. Sie wäre ungleich schlagkräftiger, ungleich manövrierfähiger, ungleich gefährlicher. Und gerade darauf arbeitet Tito hin — wobei er natürlich für sich selbst einen führenden Platz in diesem Gremium zu erreichen sucht. Ja man muß sich fragen, was ihn angesichts des Kleinformats der überlebenden Epigonen Stalins eigentlich hindern sollte, auf die faktische Leitung, wenn auch nicht auf die kommandomäßige Beherrschung des europäischen Kommunismus hinzuarbeiten.

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