FORVM, No. 101
Mai
1962

Tod und Renaissance

Meine Damen und Herren,

erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen einen professoralen Vortrag halte, der beflügelte Schritte mit Fußnoten beschwert. Hierzu fehlt es mir weniger an Kenntnis als an Unvoreingenommenheit. Ich habe Arthur Schnitzler, den Dichter, bewundert, Arthur Schnitzler, den Menschen, geliebt, und wenn bewundernde Liebe redet, hat die Kathedersprache zu schweigen, die ich seinerzeit selbst sprach, als ich auf dem Katheder stand. Damals fügte es sich, daß mein Fach „Vergleichende Literatur“ hieß, also dasselbe war, welches Georg Brandes eingeführt hatte, der Arthur Schnitzler — sein Briefwechsel zeigt es — bewunderte und liebte; in der Zeitung „Politiken“ nannte der große dänische Literatursachverständige den Wiener jenen Dichter, „dessen Talent vor allen österreichischen Dichtern am eigentümlichsten und sichersten ist“; in dem Buch „Gestalten und Gedanken“ steigert er diese Anerkennung, indem er Schnitzler „zum interessantesten Dichter Österreichs“ erhebt. Frank Wedekind griff noch höher: „Arthur Schnitzler ist ein deutscher Klassiker“, schrieb er. „Ich weiß keinen andern lebenden deutschen Schriftsteller, von dem sich das mit gleicher Sicherheit behaupten ließe ... Kein anderer verdient so wie er die Bezeichnung eines Meisters. Der Mangel aller Aufgeblasenheit, aller Gespreiztheit, allen falschen Pathos und aller Manieriertheit ließ ihn den Hausknechten des Naturalismus als kein sauberer Gast auf dem Parnaß erscheinen. — Heute, wo die literarische Falschmünzerei jener Tage aufgedeckt und abgetan ist, steht Arthur Schnitzler als der Dichter da, der Deutschland ... die größte Zahl vollendeter Werke geschenkt hat.“ (Daß er von allen deutsch-schreibenden Autoren seiner Zeit der meistübersetzte, internationalste gewesen ist, nebenbei.)

Vergleicht man mit solchem emphatischen Lob wesentliche andere zeitgenössische Meinungen, etwa die des Wedekind-Apostels Karl Kraus, der über Schnitzler drucken ließ: „Zu gutmütig, um einem Problem nahetreten zu können, hat er sich ein für allemal eine kleine Welt von Lebemännern und Grisetten zurechtgezimmert, um nur zuweilen aus diesen Niederungen emporzusteigen“, oder die noch absprechenderen Verdikte klerikaler und nationaler Widersacher, dann steht man vor kraß widersprüchlichen Urteilen, die Schnitzlers Schaffen bis zum Ende verdüsterten. „Es scheint“, schreibt er an Brandes, „man kann die Empfindlichkeit gegenüber dem Dümmsten, wenn es nur einmal gedruckt ist, nicht ganz verlieren ... Die Philosophie hilft wohl gegen die Todesangst, aber nicht gegen Flohstiche.“ In der Schrift „Kritik und Fälschung“ trat er schließlich aus der ihm gemäßen noblen Zurückhaltung und entlarvte die Pfiffe und Kniffe jener wildernden kritischen Jäger, die den Autor vor den Schuß zerren wollen. In einem unveröffentlichten Gedicht „Mein Kritiker“ freilich tut er das ihm Angetane mit jener Ironie ab, die sein gesamtes, dem Tragischen zugeneigtes Œuvre immer wieder souverän-befreiend überlächelt:

Der Anatol und die Liebelei —
Nichts als sentimentale Plauderei.
Die Frau des Weisen und andere Novellen —
Ich sagt’ es seit jeher: Nur Bagatellen!
Beatrice? Gar Verse! Nun hat er vertan.
Der Weg ins Freie? Ein Judenroman.
Der Kakadu? Bestenfalls Variete.
Das Zwischenspiel? Wieder nur Liebesweh!
Der einsame Weg und das weite Land? —
Psychologie, und aus zweiter Hand.
Der Reigen? Wir wissen ja — Schweinerein.
Marionetten? Aha, jetzt gesteht er es ein.
Der Ruf des Lebens? Spekulation!
Medardus —? Ausstattungssensation.
Bernhardi? Pfui Teufel, ein Thesenstück
Und ohne Weiber! Er geht zurück.
Komödie der Worte? Die schreibt er ja immer,
Nur freilich wird’s mit den Jahren schlimmer.
Was bin ich für ein Mann ihm gegenüber!
Was er auch schreibt, ich schreibe drüber.

Als ich meine erste akademische Vorlesung, die Schnitzler galt, in den USA hielt, begann ich sie denn auch mit dem Hinweis auf Georg Brandes, dessen Fach ich zu lehren haben würde, und mit der Erklärung, ich wollte, als Österreicher, dem für Österreich kennzeichnenden Dichter den ihm gebührenden Vorrang geben. „Sie werden“, sagte ich damals, „an meiner Darstellung Arthur Schnitzlers die Distanz vermissen, die Lehrer und Kritiker unzweifelhaft haben sollen. Doch hoffe ich, diesen Mangel durch die Nähe der Betrachtung wettzumachen, die vielleicht kurzsichtiger schaut, aber — da Neigung ihr die Augen öffnet — besser sieht.“

Verzeihen Sie das Selbstzitat, jedoch auch heute, da ich seiner in dem Hause gedenke, das die Ehre hatte, viele seiner dramatischen Dichtungen uraufzuführen, bekenne ich mich zu meiner Voreingenommenheit, die durch das Seitherige nur stärker und, wie ich glaube, begründeter wurde. Daß ein wahrer Dichter ein wahrer Mensch sein müsse, haben die Dichter widerlegt, die falsche Menschen waren; daß ein Dichter Charaktere schafft, legt die Vermutung nahe, er müsse ein Charakter sein — sie trifft selten zu. Die zwei trotzdem in einem, noch dazu ganz zu finden, bleibt ein Glücksfall. Bei Arthur Schnitzler wurde er Ereignis.

Dergleichen hätte überall viel bedeutet; es bedeutete noch mehr in dem Land und zu der Zeit seines Schaffens. Das Land war jenes vielgesichtige Österreich, das Grillparzer das Wort im Mund so lange verbitterte, bis er es nicht mehr hören ließ, sondern in seinen drei letzten, größten Dramen niederschrieb, um es zu verschweigen; die Zeit war in der Politik die des rechtsradikalen Ritters Georg von Schönerer und des Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lueger, eines sich jovial Gebärdenden, der das gespenstische Wort sprach: „Wer ein Jud’ ist, bestimm’ ich!“; in der bildenden Kunst war es der nach-Makart’sche Samt- und der vor-Klimt’sche Jugendstil; in der Musik nicht mehr Bruckner und noch nicht Mahler, jedoch bereits die Duliöh-Operette; in der Literatur die Goldschnittverselei der Friedrich Halm und Anastasius Grün. Die Symbolgewitter Ibsens standen noch fern am nordischen Horizont, Gerhart Hauptmanns soziale Blitze hatten noch nicht eingeschlagen, und der Gymnasiast Hofmannsthal, der unter dem Namen Loris die Gedichte der unabgegriffenen Worte schrieb, die wie Juwelen schimmerten, schrieb sie noch ins Dunkel. Aus dieser Dämmerung trat ein junger Wiener Arzt, der Sohn und der Bruder von Ärzten; er veröffentlichte zuerst eine medizinische Abhandlung „Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion“, sodann eine Novelle. „Sterben“ hieß sie. Ihr Verfasser enthüllte darin etwas bisher Unerforschtes, dem Millionen Ärzte entgegengewirkt hatten, ohne sein Geheimnis zu Kennen: den Tod.

Ein wenig dem Pariser Schriftsteller Alphonse Daudet ähnelnd, trug der junge Wiener Mediziner seinen rötlichblonden Bart; Daudets Locke fiel auch ihm in die hohe Stirn; er band seine schwarzen Atlaskrawatten mit derselben Sorgfalt, ließ seine Anzüge von derselben unaufdringlichen Eleganz sein — ein Boulevardier scheinbar, der aus dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus wie ein Zufallsbesucher schritt, obschon er dort zu Hause war, wo er das erste seiner drei großen Themen gefunden hatte. Daß er aus der Sterbestätte wie ein Flaneur auf die Wiener Alserstraße, von dort auf die Ringstraße und in den Prater ging, als spazierte er auf den Champs Elysées und im Bois, gehörte zu seiner Lebensführung, die dem Auffälligen abhold blieb, doch auf weltmännische Formen hielt. Er wich der Sentimentalität aus, wenngleich er Sätze schrieb wie: „Es gehen eigentlich lauter zum Tode Verurteilte auf der Erde herum.“ Unsentimental sezierte er vielmehr, was er selbst „die Verfälschung des Gefühls zur Sentimentalität“ nannte. Beliebte es den meisten trotzdem, Schnitzlers Todesverbundenheit — um dem vagen Wort Melancholie auszuweichen — sentimental zu nennen, dann wußte er mit der Exaktheit eines Menschen-Naturforschers ihre Ursache, weil er — in seinen Worten — wußte, „wie tief Gräber sein können“. Das Leben lernte er erst nachher exakt kennen, im Vorbeigehen, im plötzlichen Stehenbleiben, weil es ihn so himmlisch anzog, im Abschiednehmen, wenn die Himmel sich bewölkten — eines wie das andere phrasenlos, mit einer visionären, die „lebendigen Stunden“ verewigenden Einsicht. Der von den Totenbetten kam, um herzüber in den Kontrast zu fliehen, ermaß den fürchterlichen Abgrund zwischen beiden und daß darüber nur die Brücke führte, die Liebe hieß. Als er dies diagnostiziert hatte, gab er den Ärzteberuf auf und folgte seiner Berufung.

Sie blieb von drei Themen begrenzt, von grenzenlosen Themen des Menschseins, die daher immer gegenwärtig sind: die tödliche Liebe; das Spiel mit dem Leben; der Tod. Jenen Glanz vor Augen, der Finsternis erzeugt, verstand er Humanität als das, was sie ist: die erste Hilfe gegen die Heuchelei. Folglich bedeutete die Existenz ihm, was sie ist: Teilnahme, also Güte; Zeitgenossenschaft, also Mißtrauen; Abkehr von falscher Toleranz, also Strenge; Geduld, also Nachsicht. Wer mit ihm sprach, wurde von der Gabe seines Zuhörens fasziniert, einer Art Auskultierens im Gespräch, Bereitschaft, den andern zu Wort kommen zu lassen, bis er sich und der Zuhörer ihn gefunden hatte. Dann erst antwortete er mit seiner warmen Stimme, die nur im Widerstand erkaltete; er formulierte schnell und gültig — das Wort „geistreich“ blieb ihm zuwider, obgleich oder weil er es blendend war —, er sprach seine Meinung mit gewinnender Bescheidenheit. So unerbittlich er sein konnte, wenn es Grundsätzliches betraf, so nachgiebig schien er, wenn Tadel den Gesprächspartner hätte verstummen lassen. „Wer nicht hilft, trete beiseite“, notierte er. Daher war es ihm — vor Karl Kraus, dem darob mit Recht Gerühmten — ein Greuel, die Begeisterung zu teilen, die (— „Jeder Schuß ein Russ’!“) beim Ausbruch des ersten Weltkrieges von den im Hinterland geschützten Hurrahschreiern und -schreibern angefacht wurde. „Große Zeit“, stellte er 1915 fest, „das ist diejenige, in der die Entdeckungen und Erfindungen, die in der kleinen Zeit gemacht worden sind, zur Tötung und Verstümmelung von Menschen ausgenützt werden. Sobald ich einen im Feld Erblindeten kennengelernt haben werde, der auch um den Preis seines Augenlichtes nicht darauf verzichten würde, diese große Zeit tätig und leidend mitgemacht zu haben, erst dann werde ich glauben, daß es wirklich eine große Zeit gewesen ist.“ Ihm blieb das „Pathos der Selbstverständlichkeit“ fremd, das er — in einem von Romain Rolland ins Französische übersetzten Protest — allen jenen vorwarf, die ihn beschuldigten, er habe sich trotz dem Krieg für Shakespeare, Tolstoi, Anatol France und Maeterlinck ausgesprochen. Und den Gemeinplatz der Liebedienerei betrat er nicht, weil er die Liebe liebte.

Am 15. Mai werden es hundert Jahre sein, seit er in einem Haus der Wiener Jägerzeile geboren wurde. Die Straße hieß später Praterstraße. Noch immer heißt sie nicht Schnitzlerstraße, ja nicht das winzigste Wiener Gäßchen trägt seinen Namen. Auch den Nobelpreis, für den er inoffiziell vorgeschlagen worden war, erhielt er nicht. Dagegen nahm ihm ein Offiziersehrenrat als Vergeltung für den „Leutnant Gustl“ seinen Offiziersrang, und sein „Grüner Kakadu“ verschwand auf kaiserlichen Befehl vom Burgtheater-Spielplan (genau so wie es dem „Treuen Diener“ Grillparzers dort ergangen war). „Seine Unbescholtenheit“, sagte Franz Werfel in einer Gedenkrede nach Schnitzlers Tod, „war nicht einmal durch ein ganz kleines Ehrendoktorat getrübt“. Die Ursache liegt auf der Hand: Wer bedingungslos objektiv ist, ist unbedingt unbequem. Hätte es ein Großkreuz des öffentlichen Ärgernisses gegeben, es wäre der einzige Orden gewesen, den ihm das franzisko-josephinische Österreich verliehen hätte.

Da die Frage nach Schnitzlers Menschentum vorangestellt wurde, ist die Antwort auf Entscheidendes seines Dichtertums bereits gegeben. In einem Gespräch anläßlich der Würdigung, die ich, damals ein Einundzwanzigjähriger, zu Schnitzlers 50. Geburtstag veröffentlicht hatte, sagte er: „Sie haben mit der zu sicheren Sicherheit, die man nur in Ihrer Jugend besitzt, gemeint, Dichter sei, wer zum Sehen die Vision und zur Kenntnis die Erkenntnis empfing. Das ist ja ganz hübsch formuliert, aber es trifft nur auf die Schreibenden zu, die des Schreibens wegen schreiben.“ Keineswegs auf jene, die schreiben, weil sie ihre Menschen gewähren lassen wollen. Mit der „sittlichen Forderung“ des Gregers Werle ist es nämlich nicht getan, obwohl Sie mich als wienerischen Ibsen reklamieren. Für mich ist es erst dann getan, wenn das Dargestellte sein Eigenleben führt — da helfen weder Vision noch Erkenntnis. Da gibt es nur Überraschungen und Abenteuer.“ (Er bediente sich im „Buch der Sprüche und Bedenken“ auch später genau dieser Wendung.) „Wenn man wirklich Menschen erfindet“, sagte er, „dann fügen sie sich weder Plan noch These; sie mögen als Liebhaber erfunden sein und enden als Lieblose; als Revolutionäre und werden unter der Hand Duckmäuser; als Bekenner und verändern sich während des Zwischenaktes in Verschweiger. Die meine Geschöpfe ‚unverläßlich‘ nennen, wissen das eben nicht.“ Und in einer Nachlaß-Anmerkung heißt es: „Eine seltsame Wechselwirkung entwickelt sich zuweilen zwischen dem Dichter und seiner Gestalt. Die Gestalt ... gewinnt in immer höherem Maße Eigenleben; der Dichter gerät zu ihr allmählich in ein Verhältnis wie zu einem nicht von ihm, sondern von Gott geschaffenen Wesen.“ Schließlich: „Daß wir geschaffen sind, das Unfaßbare zu fassen und das Unerträgliche zu ertragen, das ist es ...“

Hier haben Sie den Schnitzler’schen Schaffensvorgang, und damit zugleich die Entkräftung der dagegen erhobenen vier Haupteinwände:

Erstens: daß er „mehr unsympathische Gestalten schuf als sympathische“. Wenn das zutrifft, weshalb? Weil er, ein Rationalist, Nichtkonformist, Skeptiker und Nichtbeschöniger, seine Gestalten aus einer Freud antizipierenden Seelenkunde bildete, deren Spruch der Widerspruch, deren Denken Bedenken, deren tragische Bestimmung der Zufall, deren Glaube die Unerträglichkeit des Zweifels ist. „Was meine Zweifel anlangt“, bekannte er, „so ist in ihnen soviel Andacht, daß sie der Frömmigkeit noch verwandter sein dürften als das, was Ihr Euern Glauben nennt“. Das Schlagwort von Schnitzlers „Nihilismus der Dekadenz“ erschlägt sich daher selbst, weil dieser falschgemeldete Nihilismus nichts anderes als Ethik mit dem negativen Vorzeichen wissender Kritik ist, folglich die ihm unterschobene Dekadenz im positiven Zeichen eines Kämpferwillens steht, der Entartung nicht um ihrer selbst willen entblößt, sondern um Unmenschtum zum Menschentum zu zwingen.

Nächster Einwand: daß der dritte Stand in Schnitzlers Werk nie erscheine, also: absoluter Mangel an sozialem Gewissen. Weshalb? Weil Schnitzler seine Gestalten „stellt“, wie es in der Offiziersprache hieß, nämlich in ein herausforderndes Licht, das trotz oder wegen aller Vordergründigkeit die Abgründe der Epoche zeigt: hierfür ist unter anderem das Duell, das bei ihm so oft erscheint, jedoch die Herausforderer zu herausgeforderten Angeklagten einer asozialen Gesellschaftsordnung macht, ein zwingender Beweis: dies eben war seine Art, Sozialkritik zu üben; sie unterschied sich vom Naturalismus der „Weber“ wie ein Spiegel von einem Vergrößerungsglas, hatte vom Symbolismus Ibsens die pathos-entschärfte Essenz, vom Realismus Maupassants den farbig-zwielichtigen Einfall.

Dritter Vorwurf: daß Schnitzler „seine Probleme monoton wiederhole, ohne sie zu lösen“. Die das behaupteten, ließen außer acht, daß Probleme zur Diskussion zu stellen, nicht sie zu lösen, Schnitzlers Absicht blieb und daß ihn weniger „Weltanschauung“ als „Weltbetrachtung“ zu der Überzeugung führte: „Der Endzweck aller Kultur ist es, das, was wir Politik nennen, überflüssig, jedoch Wissenschaft und Kunst der Menscheit unentbehrlich zu machen.“ Ich wüßte weniges, was sozialer wäre.

Vierte und letzte Verdammung: daß Schnitzler, „weit entfernt davon, einen Weg in die literarische Zukunft zu weisen, bei seiner überholten, an Aphorismen Genüge findenden Vergangenheit verweilte“. Die Tadler dieser Kategorie haben vermutlich weder Pirandello erlebt, dem der „Grüne Kakadu“ das Schein- und Sein-Thema schenkte, noch das von Schnitzler wörtlich verordnete Rezept: „Schüttle ein Aphorisma, so fällt eine Lüge heraus und eine Banalität bleibt übrig.“ Seine angebliche Einflußlosigkeit auf die seitherige Literatur — wollte man den Unsinn ernstnehmen, dichterische Bedeutung bekunde sich im Schule-Machen — widerlegen zumindest die Existentialisten, die sehr wohl in die Schnitzler-Schule gegangen sein, zumindest aber seine Lehre vom „Dasein um des Nichtseins willen“ inskribiert haben mögen. Und was den österreichischen Marcel Proust betrifft, so weiß ich es von Robert Musil selbst, wieviel sein „Mann ohne Eigenschaften“ Schnitzler verdankte.

Trotz alledem: für die Unbelehrbaren blieb er der Hervorbringer des „süßen Mädels“ und des unzüchtigen „Reigens“, ein Arzt, der seine eigenen Schwächen nicht kurieren konnte.

Er stellte trotzdem keine Fehldiagnosen, und daß seine Klientel im Absterben begriffen war, vermehrte nur seine Praxis, sie unsterblich zu machen. Er trachtete, sie so lange konservativ zu behandeln, als er sie Repräsentanten jener Kulturepoche der Jahrhundertwende werden ließ, deren unschätzbare Wichtigkeit für die Bewahrung des Individualismus erst heute völlig hervortritt und an der er selbst mitgeschaffen hatte, wie der Österreicher Grillparzer am Geistigen des gesamtösterreichischen Widerstandsgeistes, der Österreicher Adalbert Stifter am Fortbestand des edelsten Verständigungsmittels aller Deutschen, der Sprache, und Schnitzlers Zeitgenosse, der Österreicher Hofmannsthal, an der gesamteuropäischen Sendung jeder europäischen Nation.

In den Schnitzler’schen Schauspielen gilt diese konservierende, unsere Gegenwart mit ihrem Gegensatz konfrontierende, daher heilsame Behandlung der Typenerhaltung vom Anatol, vom jungen Medardus, vom Filippo Loschi im „Schleier der Beatrice“, einem Werk, das jenen „Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl“ zeigt, den er die Grundidee der modernen Tragödie nennt. Im Epischen trifft es vom Leutnant Gustl zu, jenem (nach Dujardins „Les lauriers sont coupeés“) von Schnitzler entdeckten erzählenden Monolog, dem Hofmannsthal nachsagte, er sei „innerhalb der deutschen Literatur ein Genre für sich“; es trifft auch zu vom „Blinden Geronimo“ und der „Hirtenflöte“, Novellen, deren erste in Stifters zauberische Atmosphäre dringt, während sich die zweite den Kleist’schen wie den C. F. Meyer’schen Vollkommenbheitsbereichen nähert; auf den Badearzt Gräsler hat es Bezug, auf die Unheilstifterin Berta Garlan und den Schriftsteller Bermann des „Weg ins Freie“, der ausspricht, was der Autor dieses vielschichtigen Romans entdeckte: „Die meisten Menschen ahnen nicht einmal, was sie alles wissen.“

Dort aber, wo es der „Fall“ gebietet — und Schnitzler sah seine Einfälle insgesamt als „Fälle“ — nimmt er den chirurgischen Eingriff vor. Im „Weiten Land“ der Verirrungen; im ziellosen „Einsamen Weg“, im „Ruf des Lebens“, den das Schweigen der erkannten Vergeblichkeit verstummen macht; in „Fräulein Else“, dem schwarzgeränderten Gegenstück zum inneren Monolog des „Leutnants Gustl“; in der auf dem Grat des Verhängnisses balançierenden „Traumnovelle“ und in der Lebens-Chronik „Therese“, jenem grauen Frauenschicksal, dessen dichterischer Herkunftsort in der Nähe von Flaubert liegt. „Dämmerseelen“ sind sie einer wie die andere, zwischen Nachtlust und dem ersten Hahnenschrei der Tagesangst. Das „private Weltereignis“, als das Alfred Polgar die Liebe definierte, stützt sie, stürzt sie; und die drei von ihrem Schöpfer statuierten Kriterien des Kunstwerks: „Einheitlichkeit, Intensität, Kontinuität“ geben ihnen Rang und Dauer. Daß ein so großes schöpferisches Gebäude manches minder Wohlgeratene, ja Mißratene einschließt, gehört zu seiner Weiträumigkeit, nicht zu seiner Brüchigkeit. Was aber die wohlgemeinten literarischen Fehlurteile über diesen unfehlbaren literarischen Diagnostiker betrifft: sein scheinbarer Impressionismus porträtierte das Ab- (und Schreck-) Bild einer völlig realistisch durchschauten Egoistenwelt; die Neuromantik, der er sich „auslieferte“, lieferte die Neurotik der Geschlechterbeziehung ihrer Fragwürdigkeit aus; und sein vielberufener „Illusionismus“ räumte mit der Illusion vom Voraussehbaren auf und setzte das Zufallsgesetz schroff an dessen Stelle.

Das alles war Schnitzler. Das alles war er nur zum Teil. Denn was er ganz ist und für immer sein wird, hat er nicht in vielen, sondern in zwei Werken vollbracht, das eine steht am Beginn, das zweite in der Lebensmitte. Ein Schauspiel, tragisch-heiter, erschütternd-selbstverständlich, schicksalhaft-simpel, der Notwendigkeit des Zufalls ergeben, wahr bis in das Ungesagte, zauberisch zart, von der herben Holdheit eines Volkslieds: „Liebelei“. Da wurde er der Schubert des österreichischen Dramas. Denn hier schlägt das Wiener Herz ohne fatale Nebengeräusche, hier rauscht der Wienerwald nicht als Kulisse, sondern als ein organischer Ursprung des Grün- und Kahlwerdens, hier sind die Wiener Wehmut, die Wiener Anmut, die unbändige Wiener Lust zu einer Unverwelklichkeit gebunden, deren Duft in die fernste Ferne heimweh-schmerzhaft dringt. Als er die „Liebelei“ geschrieben hatte, ein Stück Lieben und Sterben, trat Arthur Schnitzler zu den Meistern der Weltliteratur.

Als er 1912, 23 Jahre später, „Professor Bernhardi“ schrieb, schrieb er ein Tendenzstück. Es war als solches nicht gedacht, auch nicht als ein Thesenstück, wie er dergleichen zu nennen pflegte; er sagte einmal, es habe die Tendenz, keine zu haben, sondern ein „Sektionsprotokoll“ zu sein. Trotzdem ist es, bleibt es ein Tendenzstück — auf dem „bleibt“ liegt der Nachdruck; wir Österreicher zumindest können uns keines besseren rühmen. Gemessen an den wichtigsten Anklagen des deutschen Dramas seither, an seiner didaktischen Direktheit (Brecht), an seinem Frontalangriff aus dem Hinterhalt (Frisch), an seiner Schocktherapie (Dürrenmatt), besitzt es die gleiche vehemente Kraft, dem Zuschauer das Gewissen aufzurütteln, ihm weder etwas vorzumachen, noch ihm etwas vorzuenthalten, sondern ihn mit Tatsachen zu konfrontieren, an denen er oder sein Nachbar Schuld trug — alles dies jedoch ohne geballte Faust, mit der „Ironie der Gefährlichkeit“, wie André Gide die Waffe nannte, Weltanschauungsunterricht für Fortgeschrittene des Vorurteils. Der jüdische Professor der inneren Medizin Bernhardi, der — aus Schonung der euphorischen letzten Augenblicke einer auf seiner Wiener Klinik Sterbenden, ihrer Todeskrankheit Unbewußten — dem zur Spendung der Sterbesakramente berufenen Priester den Zutritt verwehrt, hat im Glauben an die Schonungsbedürftigkeit der Kreatur etwas Schonungsloses getan: das Mitleid über das Dogma, das Zeitliche über das Ewige gestellt. Das mag man — je nachdem — mit Recht verwerfen oder mit Recht entschuldigen: jedenfalls entwickelt sich daraus ein Konflikt folgerichtiger Wucht, die nicht nur die Hintertüren rassischer Festungen sprengt, sondern durch sie hindurch prophetisch an Hitlers Schwelle führt.

Zwischen der „Liebelei“ und dem „Professor Bernhardi“ stieg der Kompromißlose zur Wahrheit empor. Die Schatten fielen schwärzer, je länger er, ein Eingeweihter, ein Wissender der Einsamkeit, alleinblieb. Der „Leutnant Gustl“ raubte ihm den Offiziersrang der k.u.k. Armee, der „Professor Bernhardi“ den ihm bisher zugestandenen Kredit des Österreichertums. Trotzdem hatte er es zu dem in der ganzen Welt akkreditierten Botschafter des österreichischen Geistes gebracht. Auch diese singuläre Würde hätte man ihm 1938 mit Schimpf und Schande aberkannt. Doch dank der höchsten Fügung, höher als die „Allerhöchste“, befand er sich da bereits für die Gräberschänder unerreichbar hoch und hatte etwas erzielt, was selbst die, nach denen Straßen benannt werden, nicht erreichen: daß ihre Zeit nach ihnen benannt wird. Nach ihm aber und seinen Geschöpfen heißt die „Schnitzler-Zeit“.

Als er 1931 starb, hielt ich ihm die Totenrede im Wiener Rundfunk. Nachdem sein Werk auf dem Scheiterhaufen nationaler Schande verbrannt und gebrandmarkt worden war, blieb es mir vergönnt, auf dem Theater und in Hörsälen das zu beginnen, was man zur Zeit die „Schnitzler-Renaissance“ nennt. Und heute stehe ich auf demselben Platz, wo er selbst stand, wenn er bei den Uraufführungen seiner Dramen Beifall entgegennahm, um ihm die Geburtstagsrede seiner Unsterblichkeit zu halten. Möge dieses österreichische Haus nie vergessen, was Österreich Arthur Schnitzler zu danken hat und was es ihm schuldig blieb. Gedenktage, die nicht der Kalender vorschreibt, sondern die Gerechtigkeit, dürfen nicht nur mit Worten gefeiert werden.

Der obige Aufsatz stellt den Text des Festvortrages dar, den Hofrat Ernst Lothar zur Einbegleitung der Arthur-Schnitzler-Matinee des Burgtheaters am 6. Mai halten wird.

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