FORVM, No. 195/II
März
1970

Tote zum Frühstück

Zur Psychopathologie der Massenmedien und ihrer Konsumenten am Beispiel der Berichterstattung über Vietnam

I. Rauskommen

„Es ist zu hoffen“, schreibt ein Berichterstatter eines bekannten Wiener Blattes am 11.12.1969 — und die Worte klingen so, als wären sie aus dem Amerikanischen übersetzt —, „daß kein anderer Fall von Größenordnung des Massakers von My Lai zutage kommt.“ Nun, kein noch so stark Hoffender besitzt die Kraft, erfolgreich in die Vergangenheit zurückzuhoffen, Geschehenes ist geschehen. Was der Korrespondent erhofft, kann also nicht sein, daß kein anderer Fall, der mit My Lai vergleichbar sei, stattgefunden habe. Ebensowenig aber spricht er von seiner Hoffnung darauf, daß sich ein derartiger Fall niemals mehr wiederhole. Der von ihm bedauerte „Fall“ besteht überhaupt nicht in dem Gemetzel als solchem. Sondern — an seinen Worten läßt sich nicht herumdeuteln — in der Tatsache, daß dieses Gemetzel „zutage gekommen“ ist. Und was er erhofft, ist, daß nie wieder etwas Derartiges das Licht der Öffentlichkeit erreiche.

Nun, eine solche Mentalität moralisch zu qualifizieren, das erübrigt sich. Wichtig ist es dagegen, diese Mentalität zu verstehen — was sofort gelingt, wenn wir uns die „Ontologie des Journalismus“ klarmachen. Diese Ontologie besagt nämlich (ähnlich dem Satze „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“), daß nur dasjenige wirklich stattgefunden hat bzw. stattfindet, was das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, also „’rausgekommen“ ist bzw. „’rauskommt“, Negativ: Daß nichts, was nicht veröffentlicht worden ist, wirklich ist bzw. wirklich gewesen ist. Dem extrem idealistischen Axiom Berkeleys „esse = percipi“ entspricht das nicht minder idealistische „esse = imprimi“, „Sein = Gedrucktsein“ oder „esse = legi“, „sein = Gelesenwerden“. Dies das Grundaxiom der Ontologie des Journalismus.

II. Ankommen

Diese These benötigt freilich eine Ergänzung, und zwar durch eine, die im ersten Moment wie die Umkehrung der ersten These klingt. Wie wahr es auch sein mag, daß allein das, was „’rausgekommen“ ist, als „wirklich geschehen“ gilt, nicht minder wahr ist es andererseits, daß es von der Wirklichkeit (nämlich von der geschichtlichen Situation) abhängt, ob etwas Herauskommendes (ein gemeldetes Ereignis), das in diese Situation hineinkommt, wirklich und als wirklich registriert wird. Keine Wirklichkeit, keine geschichtliche Situation ist so beschaffen, daß unterschiedslos alles, was innerhalb ihrer Grenzen herauskommt, wirklich in Empfang genommen und angeeignet wird, also „ankommt“.

Anders herum: Damit ein veröffentlichtes Ereignis als Wirklichkeit verstanden werde und Eindruck mache, muß die Wirklichkeit, in die die Veröffentlichung hineinkommt, gewisse Bedingungen erfüllen. Wenn sie diese nicht erfüllt, dann bleibt der Versuch, „etwas ’rauskommen zu lassen“, entweder vergeblich, oder dann kann es sich das Establishment, das ja sehr genau weiß, wie gering die Gefahr ist, daß ihre Meldungen wirklich „ankommen“, ungestraft erlauben, die Wirklichkeit auszuposaunen und mit der Freiheit der Berichterstattung, die es zuläßt, zu protzen.

Die beste Illustration dafür sind die Kriegsverbrechen, die dem Bekanntwerden des nun berühmten Massakers vorausgegangen waren. Es wäre nämlich einfach unwahr, zu behaupten, daß das pausenlose und methodische Genocid, das die Amerikaner in Vietnam seit Jahren durchführen, von diesen geheimgehalten worden sei. Im Gegenteil: Die Grausamkeiten der eigenen Armed Forces werden seit Jahren ebenso pausenlos und methodisch mitgeteilt, wie sie ausgeführt werden, und man darf wohl behaupten, daß die Ungeniertheit, mit der die Zeitungsleser, Rundfunkhörer und Fernseher, kurz: die Gesamtbevölkerung, über diese Untaten informiert worden sind und informiert werden, in der Geschichte präzedenzlos dasteht.

Immer wieder wird ja diese „Freiheit, die Wahrheit zu sagen“, die im Osten nicht existiere, als Kriterium und Beweis der Freiheit des Westens ins Feld geführt. Aber die Untugend drüben beweist nicht die Tugend hüben, so einfach ist die Sache leider nicht und so ehrenvoll gewiß auch nicht. Denn ebenso wahr, wie daß das tägliche und methodische Genocid „herauskam“, isf die Tatsache, daß es nicht „ankam“, daß das Publikum, dem die Wahrheiten ins Haus geliefert wurden, an dem Mitgeteilten nicht wirklich teilnahm, und zwar deshalb nicht, weil es so konditioniert war, daß es die ausgestreuten Körner der Wahrheit nicht aufnehmen konnte.

Das Streuen der Sandkörner der Wahrheit war deshalb erlaubt, weil die Inhaber der Macht den Boden, auf den gestreut wurde, zuvor betoniert, nämlich empfangsunfähig gemacht hatten. Deshalb konnten die Grundeigentümer auch persönlich an diesem Körnerstreuen teilnehmen.

In anderen Worten: Oft waren es die Interessenten des Vietnamkrieges selbst, die Einzelheiten über den Völkermord, über die Massaker bekanntgemacht haben. Und das haben sie deshalb getan, weil sie eben wußten, daß das Bekanntgemachte am Publikum wie auf Beton abprallen würde, daß das Publikum die Nachrichten nur so konsumiert, wie es gewohnt ist, die ihm täglich vorgesetzten bluttriefenden Fernsehstücke zu konsumieren, das heißt: ohne die geringsten emotionalen oder gar moralischen Konsequenzen aus den ihm eingelöffelten Mitteilungen zu ziehen.

Niemand, der die „New York Times“ der letzten Jahre verfolgt hat, wird bestreiten, daß es kaum eine Woche gegeben hat, in der man nicht Berichte über Gemetzel, und zwar von der Größenordnung des Massakers von My Lai, hätte lesen können. In gewissem Sinne darf man sogar behaupten, daß diese Massaker hatten passieren müssen, denn seit langem hatte es ja den immer wieder erteilten Befehl gegeben — „free fire zone“ war der Name dafür, und dieser Ausdruck ist nicht nur in Vietnam selbst, sondern in den offiziellen Berichten zum Haushaltswort geworden —, jedes innerhalb eines jeweils designierten Gebiets sich bewegende Objekt zu liquidieren; und daß es unter „sich bewegenden Objekten“ zuweilen auch „Subjekte“ gibt, das läßt sich ja schwerlich bestreiten.

Wie gesagt, was in diesen „free fire zones“ vor sich ging, das ist seit langem ungeniert und als Selbstverständlichkeit geschildert und in Fernsehprogrammen in „fullswing“ vorgeführt worden. Und ebenso bekannt ist ja und ebenso oft im Bilde gezeigt worden ist ja auch die Verwendung von Napalm und Splitterbomben; und nicht weniger oft und offen ist ja die Tatsache eingeräumt worden, daß sich beide Waffenarten zur Ausrottung von Zivilisten, also zu Massakern, ungleich besser eignen als zur Bekämpfung von militärischen Objekten und von Militärs.

Wie gesagt, derartiges hat man, mindestens wenn man sorgfältig las, immer wieder in kürzesten Abständen in der „New York Times“ finden können; das alles wußten also, sofern man den Zustand, in dem sich die von Tag zu Tag immer tiefer gelangweilten Greuelkonsumenten befinden, als „Wissen“ bezeichnen darf, alle Leser lange vor dem plötzlich so berühmten My-Lai-Massaker.

Zum wirklichen Wissen ist es bekanntlich erst vor relativ kurzem gekommen, äußerlich gesehen erst durch den nunmehr berühmten Brief des Studenten Ridenhour und durch die Entsetzen erregenden Photos Haeberles. Aber auch solche Briefe und Photos hatte es früher schon gegeben. Nur daß das, was damals „’rausgekommen“ war, nicht „angekommen“ war.

Wenn Ridenhours Brief, die durch diesen ausgelöste Kettenreaktion von Geständnissen und von Augenzeugenberichten und Haeberles Bilder ein so ungewöhnliches Echo hervorgerufen haben, so gewiß nicht deshalb, weil der Fall My Lai schlimmer gewesen wäre als die zahlreichen früheren Fälle, sondern ausschließlich deshalb, weil die Bewegung gegen den Vietnamkrieg — das zweite sehr eindrucksvolle Moratorium hatte gerade stattgefunden — ungeheuer angeschwollen war; also deshalb — und nun sind wir bei unserem Hauptpunkt — weil die Nachricht denjenigen, die die Fortsetzung des Vietnamkrieges ohnehin leidenschaftlich bekämpften, als Bestätigung ihrer moralischen Position und ihrer politischen Zielsetzung in den Schoß fiel und von ihnen — wozu sie wahrhaftig alles Recht hatten — für ihre Zielsetzungen verwendet wurde.

Und diese Tatsache läßt sich als Regel formulieren, als Regel, die lautet: Nachrichten, auch noch so gut aufgemachte, bleiben so lange gleichgültig, durchbrechen so lange nicht die Indolenz, rufen so lange kein Echo hervor, als sie vom Empfänger nicht als eigene Argumente verwendet werden können.

Erst wenn diese Möglichkeit besteht, übersteigen die Reize die Schwelle des sozialen Bewußtseins, erst dann kommen Reize an. Und eine solche Situation war nun eben vorhanden, als der erste My-Lai-Report ankam, die Situation bestand in der Moratoriumsatmosphäre. Diese war die „Bedingung“, von der ich gesprochen hatte, die Bedingung, die erfüllt sein mußte, um die Nachricht „wirklich“ zu machen, um ihr die Chance zu verleihen, „anzukommen“.

III. Hängenbleiben

Freilich ist auch die wirkliche Ankunft noch keine Garantie für wirkliche Rezeption. Denn Ankommen ist noch kein Bleiben. Die Tatsache, daß die Meldung über das Massaker in einem Augenblick oder an einem Tage oder in einer Woche wirklich aufgefaßt und voll Schrecken zur Kenntnis genommen worden ist, bürgt noch nicht dafür, daß sie auch unvergeßbar geworden sei.

Ob sich die schon heute matter brennende Indignation über das Gemetzel lange halten wird, das hängt ausschließlich von dem Zustand der Massenbewegung gegen den Vietnamkrieg und von dem Zustand der Bewegung gegen diese Massenbewegung ab. Die Antikriegsbewegung ist ja keine Konstante, ihr Auf und Ab ist sowohl durch die gesamte politische Situation wie durch taktische Ereignisse determiniert, zum Beispiel hängt sie davon ab, ob diejenigen finanzkräftigen Kreise der „Democratic Party“, die daran interessiert sind, die Antivietnamkrieg-Bewegung deshalb zu stützen, weil sie automatisch eine Anti-Nixon-Bewegung ist — ob diese Kreise weiter an dieser Form des Kampfes gegen die Regierung interessiert sind.

Schon heute kann es ja nicht bezweifelt werden, daß sich die von Nixon, namentlich auf dem Umwege über Vizepräsident Agnew, angesprochene Masse der Unartikulierten von Tag zu Tag massiver gegen die Oppositionsbewegung stellen wird — woraufhin es dann geschehen könnte, daß die der Protestbewegung nahestehenden Gruppen der Democratic Party nicht nur keinen Grund mehr sehen würden, die Antikriegs-Avantgarde zu stützen, sondern umgekehrt allen Grund, diese Avantgarde im Stich zu lassen.

Es ist kaum wahrscheinlich, daß die Indignation über das Massaker, die noch vor kurzem so heiß aufgeflammt war, eine solche politische Wendung würde überleben können. Wenn sie das nicht könnte, dann wären das heute „für ewig unvergeßbare“ My Lai und die heutige, ebenfalls „für ewig unvergeßbare‘“ Empörung über das Massaker sehr rasch vergessen, und die in My Lai Liquidierten würden damit zum zweitenmal, und diesmal endgültig, liquidiert sein.

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