FORVM, No. 200/201
August
1970

Über Castro

„Ihr in Europa neigt dazu, die Persönlichkeit in der Geschichte zu unterschätzen“, sagte mir Armando Hart, führendes Mitglied der kubanischen Regierung; ohne Castro hätte es in Kuba keine Revolution gegeben, ohne Castro hätte Kuba weder den amerikanischen Druck noch auch die sowjetischen Freundschaftsbezeigungen überlebt. Es ist kaum überraschend, daß die alten Kampfgenossen für Fidel uneingeschränkte Bewunderung hegen. Diese Heldenverehrung ist historisch gerechtfertigt, hat heute oft die Form von Unterwürfigkeit. Niemand denkt daran, Fidel zu widersprechen.

So ist es nicht nur an der Spitze der kubanischen Machtpyramide. Castro dachte nie an Institutionen für Mitsprache und Mitentscheidung der Massen. In Havanna wird nicht geheuchelt. Niemand langweilt Besucher mit Lektionen sowjetischen Typs über die Vorzüge des „sozialistischen“ Wahlsystems gegenüber der „Formaldemokratie“. In Kuba wird niemand gewählt, und niemand streitet das ab. Es gibt keinen Obersten Sowjet, auch nicht der Form halber. Die Kommunistische Partei Kubas fand es noch nicht nötig, ihren ersten Parteitag einzuberufen. Alles kommt von oben.

Zwölf Jahre schon bewältigt der unermüdliche Mann tagtäglich ein gigantisches Arbeitspensum, um eine unvorstellbare Menge von Problemen, großen und kleinen, allein zu lösen. Beim Abschiedsessen auf einer Versuchsfarm, 70 Kilometer südlich der Hauptstadt, sprach ich von diesem institutionellen Vakuum und exzessiven Dirigismus. Castro sprang auf und begann eine lange Verteidigungsrede.

Er sagte mir: Er hasse die Feigenblätter, hinter denen die sozialistischen Länder Europas ihre „demokratische Nacktheit“ verbergen. Er glaube nicht an das sowjetische Wahlsystem der 99,99 Prozent. Er bevorzugt den direkten Dialog mit den Massen. Sie sollen den großen Sprung vorwärts machen zu einer neuen Gesellschaft, in der es kein Geld, keinen Egoismus, keine Konkurrenz geben würde. Danach würden sie schon selbst wissen, wie ihre Institutionen aussehen sollten.

In seiner Rede vom 26. Juli sprach er vom Versagen mit der gleichen Intensität, mit der er mir den Sieg angekündigt hatte. Da er alle Verantwortung auf sich konzentriert hatte, gibt er nun auch sich selbst die Schuld. Das bisherige Einmannsystem dürfe nicht weiter bestehen. Man brauche Basisorganisationen und einen Regierungsapparat auch auf regionaler und lokaler Ebene. Die Verwaltung müsse von der Partei getrennt sein. Diese dürfe nicht mit bürokratischer Kleinarbeit belastet werden. Wenngleich Castro nicht genau sagte, wie er dieses Programm verwirklichen will, zeigte er doch auch zum erstenmal wirkliches Interesse für demokratischen Sozialismus.

Fidels neue Einsicht kann für Kubas Zukunft heilsam sein. Wie groß die gegenwärtigen Schwierigkeiten auch sein mögen — und sie sind enorm —, es wäre verfrüht, von einer Niederlage zu sprechen.

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