FORVM, No. 198/I
Juni
1970

Umrüstung

Im neutralen Österreich, im Herzen des europäischen Kontinents, brach innerhalb des letzten Jahres die Diskussion über den Sinn einer Landesverteidigung eruptiv aus. Unter der Decke brodelte es eigentlich schon Jahre hindurch, fast seit Beginn der Aufstellung des Bundesheeres 1955. Den Anstoß zur Diskussion in der Öffentlichkeit gab die Initiative zum Volksbegehren über die Abschaffung des Bundesheeres sowie der Wahlkampf, bei dem die Verkürzung der Dienstzeit eine wesentliche Rolle spielte.

Während letzteres nur als eines der Symptome des allgemeinen Unbehagens bezeichnet werden kann, greift die Initiative zum Volksbegehren über die Abschaffung des Bundesheeres an die Wurzel des Problems. Auch in anderen Ländern und Kontinenten wird das Problem der Landesverteidigung diskutiert, werden neue Konzepte entwickelt und Gedanken über neue Wehrformen lançiert. Aber die extremste Form, nämlich die Forderung einer gewaltlosen Verteidigung, wurde bisher in der Öffentlichkeit mit großer Resonanz nur in Österreich erhoben.

Die Beweggründe hierzu sind, glaube ich, einleuchtend und basieren wohl auf Österreichs historischer Vergangenheit, den Erfahrungen der letzten 50 Jahre, seiner geographischen Lage und vor allem auf seiner heutigen Situation als neutraler Staat zwischen den Machtblöcken. Die Lage und die historische Entwicklung anderer neutraler oder bündnisfreier Staaten in Europa kann in keiner Weise als Beispiel für Österreich herangezogen werden, wie dies so oft und gerne getan wird.

Die Sinnlosigkeit von Kriegen, insbesondere die unter europäischen Völkern, ist in Österreich vielleicht besonders in das Bewußtsein seiner Bevölkerung eingedrungen. Dies hat aber absolut nichts mit dem Willen zu Freiheit, Unabhängigkeit und eigener kultureller und religiöser Entwicklung zu tun. Es stellt sich hier lediglich die Frage, durch welche Mittel diese Werte am erfolgreichsten und besten erhalten und verteidigt werden können. Hier sind wir nun beim Problem eines Landesverteidigungskonzeptes angelangt.

1955 machte man sich darüber keine großen Sorgen und knüpfte an die Vergangenheit an, ohne die Chance wahrzunehmen, ein Konzept zu entwickeln, das der menschlichen Entwicklung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts angepaßt ist. Das strategische Denken war noch völlig den konventionellen Richtlinien der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts verhaftet. Es spielte sich völlig getrennt von der politischen, geistigen, wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung ab. Religiöses Denken durfte hierbei sowieso nie eine Rolle spielen. In den sechziger Jahren kommt plötzlich eine Generation zu Wort, die, entgegen dem Denken der heute Vierzig- bis Sechzigjährigen, eine grundsätzliche Wandlung durchgemacht hat.

Es gibt heute unter der Jugend kein obrigkeitsstaatliches Denken mehr. Man akzeptiert nicht mehr kritiklos alles, was von staatlicher, väterlicher oder kirchlicher Autorität gesagt oder verkündet wird. „Die oben wissen es besser, wir haben nicht den Überblick“, dies ist im Zeitalter der Massenmedien nicht mehr möglich.

Für die heutige junge Generation sind nationale Verteidigungsprobleme, selbst Verteidigungsprobleme europäischer Allianzen, nicht mehr verständlich angesichts der unterentwickelten südlichen Hemisphäre und der entwickelten nördlichen Hemisphäre unserer Erdkugel. Wehrformen der Zukunft können daher auch für uns Europäer nur kontinental, mit der primären Aufgabe der Erhaltung des Weltfriedens, konzipiert werden. Die Erhaltung des Weltfriedens wird aber in zunehmendem Maß davon abhängen, inwieweit sich die entwickelten Völker ihrer Verantwortung gegenüber den unterentwickelten Mitmenschen bewußt werden.

Ein Großteil der jungen Generation Europas ist sich dieser Aufgabe bewußt und fordert daher die beschleunigte Bildung eines europäischen Bundesstaates. Denn nur ein vereintes Europa ist in der Lage, den zuküntftigen Anforderungen gerecht zu werden. Die zukünftigen Wehrformen eines vereinten Europas werden nicht primär militärischer Art, sondern vor allem geistiger Art sein müssen. Wenn sich Europa auf diese seine ureigenste Aufgabe in der Welt besinnt, wird es eine der stabilsten Säulen für die friedliche Entwicklung in der Welt sein.

Kehren wir aber von dieser Abschweifung in die Zukunft zurück in die heutige Situation. Welchen Konfliktsituationen kann sich Österreich gegenübersehen? Ich will im folgenden kurz versuchen, diese Konfliktfälle aufzuzeigen. Selbstverständlich nicht in generalstabsmäßiger Form die Fälle von A bis Z, die in allen Generalstäben der Welt unter „streng geheim“ zu figurieren pflegen, sondern jene Konfliktsituationen, die einem der normale, gesunde Menschenverstand eingibt.

1. Ein Krieg zwischen den Weltblöcken

Hier ist verteidigungsmäßig (das heißt zu versuchen, ein Eindringen fremder Truppen ins Land zu verhindern) nichts zu holen. Selbst bei 50prozentigem Anteil der Verteidigungskosten am Gesamthaushalt könnte nicht annähernd eine Verteidigung der Grenzen gewährleistet werden. Auch eine symbolische Verteidigung würde in diesem Falle keine Bedeutung haben und das Land höchstens noch mehr einer totalen Zerstörung preisgeben.

Bei einer eventuellen atomaren Eskalation würde, wenn überhaupt, nur die verstärkte Vorsorge eines Atomschutzes eventuelle kleine Überlebenschancen gewähren.

Bei nur konventioneller Kriegführung fühlt sich Österreich derzeit verpflichtet, jeglicher Grenzverletzung zu begegnen. Dies ist weder auf der Erde, geschweige denn in der Luft durchführbar. Was soll die Armee in diesem Falle tun? Verzweifelt nach allen Seiten kämpfen, sich der einen oder anderen Seite anschließen oder, im ärgsten Fall, geteilt auf beiden Seiten kämpfen?

Begriffe und Schlagworte, wie „Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen“, „Lieber tot als rot“, „Niemals unter dem kapitalistischen Joch der Monopolherren“, „Wir kämpfen, damit es unsere Kinder besser haben“ usw., zünden bei einem Großteil der heutigen, nüchternen jungen Generation nicht mehr.

Die Motive sind nicht, wie oft gesagt wird, Feigheit oder Verantwortungslosigkeit, sondern im Gegenteil Mut zur persönlichen Verantwortung und Zivilcourage, also das Gegenteil von Kadavergehorsam.

Im speziellen Fall Österreich macht sich immer mehr die Meinung breit, daß eine militärische Verteidigung in althergebrachter Art sinnlos sei. Dagegen finden Ideen, für den Fall einer großen Auseinandersetzung durch andere Mittel vorbereitet zu sein, immer mehr Widerhall. Diese Mittel können im Rahmen einer Landesverteidigungspflicht aus einer Grenzschutztruppe und vor allem im Ausbau aller mit dem Schutz der Bevölkerung zusammenhängenden Institutionen bestehen, wie zum Beispiel Atomschutz, Luftschutz, Objektschutz, Rotes Kreuz, Sicherung der lebenswichtigen Industrie und Verkehrswege usw. Es erfordert natürlich auch eine Erziehung der gesamten Bevölkerung, jedem Angreifer geistig und moralisch widerstehen zu können.

2. Lokale Grenzübergriffe der Nachbarn. Versuche, Teile österreichischen Gebietes zu annektieren

Wenn dieser Fall zur Zeit auch unwahrscheinlich erscheint, ist er in der Zukunft durchaus nicht auszuschließen, besonders dann, wenn sich die derzeit bestehenden Militärallianzen aufzulösen beginnen. Dieser Fall ist der einzige, der dazu berechtigt, den Sinn einer bewaffneten Abwehr zu bejahen. Es ist aber unmöglich, bereits heute feststellen zu wollen, wer dieser eventuelle potentielle Angreifer einmal sein könnte. Die Schlußfolgerung daraus heißt auf Grund der geographischen Beschaffenheit Österreichs Aufbau einer dezentralisierten Verteidigung, die, bundesländermäßig gegliedert, jedem potentiellen Angreifer ein gewisses Maß an Abschreckung gegenüberstellen kann.

Aber auch hier wird man völlig neue Wege gehen müssen. Nicht die waffenmäßige Rüstung allein und die damit verbundenen immensen Rüstungskosten der sich stets erneuernden Waffen (wie es das internationale Waffengeschäft fordert), sondern die innere Einstellung und geistige Haltung der Bevölkerung zu dieser Frage werden stets den entscheidenden Ausschlag geben. In einem solchen Landesverteidigungskonzept müssen alle Komponenten, von der waffenmäßigen Verteidigung bis zur gewaltlosen Verteidigung, eingeschlossen werden.

Stärker als alle technischen Abwehrwaffen sind die geistigen und letztlich religiösen Waffen eines Volkes, das in jedem Gegner nicht ein Ungetüm oder einen Teufel sieht, sondern Menschen wie wir alle — und dies müßte zumindest in Europa allmählich geistiges Allgemeingut geworden sein —, die einen Angriffskrieg nicht aus eigenem Antrieb durchführen, sondern auf Veranlassung und Befehl von Mächten, die nie mit Waffen zu besiegen sind, sondern ausschließlich durch die oben skizzierte geistige Haltung.

Andere Konfliktsituationen als die oben angeführten sehe ich nicht, es sei denn die Konflikte, die sich in der übrigen Welt abspielen und ihre indirekte Auswirkung auch auf Österreich haben können. Auch diese Fälle müssen in einem Landesverteidigungskonzept berücksichtigt werden.

Es ist schwer, sich von all den Vorstellungen loszureißen, die bisher für militärisch Konzepte maßgebend waren. Und es ist interessant zu sehen, daß man gerade in den sogenannten fortschrittlichen Ländern in militärischen Dingen am konservativsten ist. Doch auch hier läßt sich die Entwicklung nicht mehr aufhalten, und man wird sich endgültig vom strategischen Denken lösen müssen, das immer noch europäische Familienkriege für möglich hält. Österreich könnte auf diesem Gebiet eine europäische Pioniertat setzen.

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