FORVM, No. 420-422
Dezember
1988

Ungarische Rätselspiele

Brief aus Budapest

Drei erlebte Ereignisse im Herbst in Budapest: Das erste große Internationale Bucharinseminar, zu dem Akademie der Wissenschaften, Universität und Zentralkomitee der herrschenden UAP einluden, der Gedenktag der Revolution 1956 und schließlich der größte internationale Reisebürokongreß, die Tagung der ASTA, des Verbandes der gigantischen US-Reiseindustrie. Ich war wohl der einzige westliche Beobachter, dem es gegönnt war, an allen drei Ereignissen teilzunehmen.

Meine Einzelstellung kommt daher, daß ich von den vielen geladenen Experten aus dem Westen zum Bucharinseminar der einzige war, der in Budapest aufkreuzte. Grund der spärlichen Teilnahme aus dem Westen: Die Finanzierung war extrem bescheiden. Die Teilnehmer mußten vor allem die Anreisekosten tragen, die vom nahen Wien aus praktisch Null sind. Genügend Budget für die Reisespesen hatte auch das Institut für Marxismus-Leninismus der UdSSR, das immerhin den Leiter des Institutes, Prof. Firsof und Bucharins Tochter, Dr. Svetlana Gurewitsch-Bucharina nach Budapest entsandte. „Wir haben leider kein Geld für Spesen“, meinte der mit der Durchführung beauftragte Historiker. Daher auch einfachstes Quartier für die ausländischen Gäste in einem Studentenheim, Verpflegung in der Mensa, Stadtrundfahrt per Straßenbahn.

Beim zwei Wochen später abgehaltenen Reisebürokongreß wurde nicht gespart: Hervorragende Unterbringung der über 6000 Teilnehmer in den schönsten Hotelzimmern, die Budapest bieten kann. Ein Galadiner jagte das nächste. Modernste Autobusse mit sprachkundigen Hostessen verbanden die Tagungsstätten, Luxusbusse führten die Amerikaner zu Pußta-Mulascags und Thermalbädern. Die Amerikaner waren direkt schockiert: Eine solche super-westliche Show hatten sie sich im „dunklen Osten“ nicht einmal erträumen können. Die Gastfreundschaft rührte harte businnessmen aus Chicago zu Tränen: „We have never seen anything so nice.“ Wenn es um das zukünftige Geschäft mit dem Westen geht — da ist Ungarn heute hundert Prozent da, da herrscht Organisation, Begeisterung, Leistungswille.

Anders bei unserem Bucharinkongreß: Obwohl ein im Osten einmaliges Ereignis, wurde er in der Öffentlichkeit kaum beachtet. Keine Übersetzungsanlagen im Saal, der immerhin recht repräsentativ war. Besucher: neben jungen Historikern und einigen prominenten Oppositionellen hauptsächlich Parteiveteranen. Irgendwie instinktiv habe ich mein Eröffnungsreferat thematisch richtig gestaltet: Ich referierte über das Thema „Bucharin und Österreich-Ungarn“, zeigte die Verhältnisse Bucharins zu Persönlichkeiten aus dem Donauraum, wie Viktor und Friedrich Adler, Otto Bauer, Georg Lukács und Eugen Varga. Allerdings hatte ich nicht geahnt, daß mein Referat die Thematik des Seminars bestimmen würde:

Soviel ich aus den mir zugeflüsterten Übersetzungen mitbekam, wurde der Held der zwei Tage weniger Bucharin als Bela Kun. Letzterer war keineswegs zu irgendwelcher Zeit ein Freund oder Anhänger Bucharins, jedoch (was ich nicht wußte) gab es zwei Telegramme in den Monaten der Budapester Räterepublik an Kun, die von Bucharin mitunterzeichnet waren. Natürlich wünschte Bucharin der so prekären Räterepublik im Frühjahr 1919 ein langes Leben. Aber diese zwei Grußtelegramme sind nicht der Stoff, der heute die Diskussion um Bucharin im Osten so belebt. Bucharin als Vordenker der Perestrojka kam bei dem Seminar nur am Rande vor.

Aber wesentlich interessanter als das Seminar waren die Diskussionen während der Pausen und nach Veranstaltungsende. Für auffällig viele neue demokratische Vereine und Plattformen wurden Unterschriften gesammelt. Offensichtlich setzen die Parteiveteranen nicht mehr auf die Zukunft des Kommunismus: Die Mitglieder der derzeitigen Nomenklatura zerbrechen sich schon jetzt den Kopf, in welcher neuen, ach so demokratischen Partei sie ihr Leben als „Nomenklaturist“ werden fortsetzen können. Immerhin, die Kaste der politisch Privilegierten gibt es nicht nur an der Wolga, es soll sie auch weiter westlich an der schönen blauen Donau geben.

Natürlich wurde auch der einzige Referent aus dem Westen mit Fragen überflutet. Thema war kaum das Schicksal der neuen Ökonomischen Politik in der Sowjetunion der zwanziger Jahre, sondern die günstigsten Einkaufsmöglichkeiten für Videogeräte in der Mariahilfer Straße.

Daß sich die Ungarn mehr für die Mariahilfer Straße als für Bucharin interessierten, war für mich ein wahres Glück: Zur Abschlußbesprechung mit der wirklich hochrangigen Sowjetischen Delegation erschien nur ich alleine. Es gab mir Möglichkeit, vieles über das Schicksal von Bucharins Familie zu erfahren.

Der Jahrestag des Ungarn-Aufstandes am 23. Oktober war ein trauriger Sonntag: Anstatt der erwarteten Demonstration fand ich nur ein großes Polizeiaufgebot. Irgendwo in einem Saal fand zwar eine Kleinkundgebung statt, aber auf eine Demo hatten die Veteranen des 56er Jahres verzichtet. Dabei wäre eine solche Kundgebung am Tag der Eröffnung des großen Reisebüroverband-Kongresses mit Anwesenheit der internationalen Presse sicher das beste Mittel gewesen, um weltweit das Gedächtnis dieser Revolution und ihres Märtyrers Imre Nagy zu pflegen. Dafür kam ich dann in Diskussionen des dafür verantwortlichen Gedächtniskomitees: Die Veteranen des großen Oktober mahnten zur Vorsicht, um die kommende Demokratie nicht zu gefährden, ihre Kinder und Enkel warfen ihnen Duckmäusertum und sogar Feigheit vor.

Was soll’s? Die Veteranen haben möglicherweise recht. Das Volk will nicht eine Neuauflage der Arbeiterräte von 1956, sondern so günstig Videogeräte einkaufen können, wie in Wien.

100.000 oder mehr feierten dann den Jahrestag des Großen Roten Oktober 1917 in den Geschäften der Mariahilfer Straße, am Hauptplatz von Oberpullendorf und in den Elektroläden von Neusiedl am See.

Dem ausländischen Ungarnkenner wird das Rätsel immer größer, wieso sich bei einem Reallohn, der weit unter der Hälfte dessen liegt, was bei uns Arbeiter oder Angestellte verdienen, sich so viele Leute um teuren Elektronikramsch reißen, wie er bei uns dem ungarischen Publikum angeboten wird. Nach wie vor Gedränge bei den Modegeschäften auf der Vaci-Utca, eleganter als unsere Kärntner Straße. Was aber machen jene 70% der Bevölkerung, die kein zweites Einkommen, keine Devisen überweisenden Verwandte im Ausland haben?

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