MOZ, Nummer 48
Januar
1990

„Ungarn, das ist europäische Peripherie“

Interview
MONATSZEITUNG: Das Zauberwort im Osten heißt Öffnung. Nun birgt aber wirtschaftliche Öffnung immer auch die Gefahr einer wirtschaftlichen Penetration in sich. Auf dem Niveau der Weltwirtschaft genauso wie im nationalen Rahmen bedienen sich die Starken der Schwachen. Wer sind die Schwachen in Ungarn, wer die möglichen Opfer?

Ferge: Die Opfer sind in Ungarn keine anderen als überall sonst: die schlecht Ausgebildeten, die Alten, die kinderreichen Familien, jene, die an der Peripherie wohnen, und vor allem die Zigeuner. Besonders betroffen sind die Pensionist/inn/en, schon alleine deshalb, weil deren Pensionen nicht indexiert sind, das heißt, die Inflation kürzt ihnen Monat für Monat das Geld.

MONATSZEITUNG: Ein Drittel der ungarischen Bevölkerung lebt unter oder am Existenzminimum.

Ferge: Wenn Sie so zählen, dann müssen Sie aber auch dazu sagen, daß das z.B. in England oder Belgien nicht anders ist.

MONATSZEITUNG: In Ungarn scheint aber diese Entwicklung neueren Datums zu sein.

Ferge: Das ist das eigentliche Problem. Wir hatten zu Beginn der 50er Jahre enorme soziale Probleme. Damals kämpften zwei Drittel der Bevölkerung um das Lebensnotwendige. Die Situation hat sich unter Kadar deutlich verbessert. Obwohl ich kein Freund der Kadar-Ära bin, muß ich heute sagen, daß es eine Ära des relativen Wohlstandes war. Zwischen 1965 und 1980 gab es sowohl für die Arbeiter als auch für die Pensionisten spürbare Verbesserungen, der Lebensstandard stieg allgemein.

MONATSZEITUNG: Wenn der Preis des Kadarismus politische Entmündigung war, dann ist der Preis, der heute für die Reformpolitik bezahlt werden muß, die Massenarmut.

Ferge: Das ist eine sehr pessimistische Sicht der Dinge, aber sie könnte eintreten.

MONATSZEITUNG: Und wie ist es um die Arbeitslosigkeit bestellt?

Ferge: Offiziell haben wir derzeit eine Arbeitslosenrate von einem halben Prozent, meiner Schätzung nach liegt sie bei ca. 2%. Das ist immer noch nicht besonders hoch. Dazu muß man sagen, daß es im Großraum Budapest nach wie vor Arbeitskräftebedarf gibt. Allerdings sind die Löhne insbesondere für unqualifizierte Hilfsarbeiten sehr, sehr niedrig.

MONATSZEITUNG: Das hauptsächliche Mißverständnis in der Debatte um Demokratisierung und Reform ist die grundsätzliche Verwechslung der Begriffe Freiheit und freier Markt. Sie haben davor in Ihrem letzten Buch gewarnt.

Ferge: Die ganze Reformdiskussion in Ungarn ist von neoliberalen Ökonomen begonnen worden, da liegt schon der Hase im Pfeffer. Die wirtschaftliche Reform wurde schon vor vier Jahren vorbereitet, zu einer Zeit, als von politischer Öffnung und Pluralismus noch nicht die Rede war. Die Öffnung der Grenzen hat dann zu einem wahren Konsumboom geführt. Die Leute glauben, daß Konsum Freiheit bedeutet und gesellschaftliche Probleme lösen kann.

MONATSZEITUNG: Während Sie z.B. befürchten, daß ungehemmte freie Marktwirtschaft Ungarn in ökonomische Probleme stürzen wird, daß Ungarn zu einer Peripherie am Rande des Europäischen Marktes wird?

Ferge: Ungam ist bereits europäische Peripherie. Die Distanz zum westeuropäischen Wirtschaftsraum hat sich in den letzten 20 Jahren ungeheuer vergrößert. Aber ohne verstärkte Hinwendung zur Marktwirtschaft wird diese Peripherisierung fortgesetzt.

MONATSZEITUNG: Die Programme der politischen Parteien laufen alle darauf hinaus, mehr Markt und gleichzeitig soziale Sicherheit zu propagieren. Das ist doch illusionär. Auf eine Kurzformel gebracht hieße das: Mieten wie in Budapest und Löhne wie in Wien. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Ferge: Nehmen wir die aktuelle Regierung. Sie spricht immer vom sozialen Netz, aber in Wahrheit ist dieses soziale Netz inexistent. Auch wenn jetzt Arbeitslosengeld und niedrige Pensionen unter dem Druck der Bevölkerung erhöht werden, kann man von einer Sozialpolitik nicht wirklich sprechen.

MONATSZEITUNG: Das Problem ist doch auch ein ideologisches. Die Herrschaft des Realsozialismus oder Stalinismus, wie immer Sie es nennen mögen, hat doch nicht nur die Vision des Sozialismus diskreditiert, sondern die soziale Frage als ganzes.

Ferge: Ja. Und das stimmt nicht nur für die Länder im Osten. Außer in den skandinavischen Staaten wird eigentlich nirgends mehr Sozialstaatspolitik gemacht. Sehen Sie sich z.B. England an oder die BRD, Österreich. Da wird doch Sozialabbau betrieben, und keine gesellschaftlich relevante Kraft stellt sich dagegen. Das heißt, daß die soziale Frage in fast ganz Europa diskreditiert ist.

MONATSZEITUNG: Danke für das Gespräch.
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