FORVM, No. 243
März
1974

Universität der Lüfte

Eine technokratische Utopie

Die Einführung des Numerus clausus in der BRD bedeutet die Bankrotterklärung des Bildungsbooms. Die liberalen Bildungspolitiker sehen ihre letzte Chance in der englischen „Open“ University“. Diese „Universität der Lüfte“ (Harold Wilson) soll sowohl unbegrenzte Studentenzahlen bewältigen als auch die Demokratisierung der Elitekultur erzwingen können. Zwei Sozialwissenschaftler — der Grazer Soziologe Gunter Falk und der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum — untersuchen in den folgenden Aufsätzen Möglichkeiten und Grenzen dieser technokratischen Utopie.

1 Fernseh-Uni

Die englische „offene Universität“, die Open University, ist gegenwärtig das größte bildungspolitische Experiment der Welt. Die Zahl ihrer Hörer beträgt inzwischen etwa 35.000 (das entspricht rund der Hälfte der Zahl der österreichischen Studenten), und sie beschäftigt einige tausend Leute Personal. Die wesentlichsten Unterschiede zu den traditionellen Universitäten sind:

  1. Für die Zulassung zum Studium sind keine wie immer gearteten Qualifikationen (wie z.B. in Österreich Matura) erforderlich.
  2. Zum Studium werden nur Erwachsene, die das 21. Lebensjahr überschritten haben, zugelassen. (Ab 1974 kann auch eine kleine Quote von Achtzehnjährigen an der Open University studieren.)
  3. Die Open University verfügt über keinen zentralen Hochschulort, sie umfaßt ganz Großbritannien, ist somit im wesentlichen ein Fernstudiensystem mit gewissen lokalen und regionalen Einrichtungen, die den Studenten zur Verfügung stehen.
  4. Die Fernstudien werden im Medienverbund angeboten: schriftliche Unterlagen verschiedenster Art, standardisierte Ausrüstungen für experimentelle Übungen (etwa in Chemie), Übungsaufgaben und Testprogramme, die zentral beurteilt und kommentiert werden, regelmäßige Fernseh- und Radiokurse, regionale Studienzentren für persönliche Kontaktnahmen sowie Sommerkurse in bestimmten Orten sind einige der eingesetzten Instrumente.
  5. Die Open University bietet bis in Einzelheiten durchgeplante Fächer und Fächerkombinationen in umfassenden allgemeinen Einjahreskursen an, die für den Aufbau eines Studiums relativ beliebig kombiniert werden können. Die Erarbeitung und Bewährungskontrolle dieser Curricula erfolgt mit einem außergewöhnlichen universitätsdidaktischen Aufwand (z.B. wurde ein Kurs aus technischen Wissenschaften so lange modifiziert, bis die durch Studentenbefragung erhobene durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit zu seiner Bewältigung etwa dem Planziel, 10 Stunden pro Woche, entsprach.)

Die Geschichte dieses Versuchs, universitäre Bildung und ihre sozialökonomischen Bedingungen neu zu organisieren, ist im Vergleich mit anderen Universitätsprojekten kurz. Sie beginnt mit einer Wahlrede des damaligen Oppositionsführers Harold Wilson am Ostersonntag 1963 in Schottland, in der er seine Vorstellungen von einer „University of the Air“ skizzierte. 1964 wurde das Projekt in das Labour-Party-Programm aufgenommen; nach dem Wahlsieg dieser Partei 1966 wurde eine Parlamentarische Kommission unter dem Vorsitz von Jennie Lee eingesetzt, die im Februar 1966 ein Weißbuch über die projektierte Universität herausgab. Das Weißpapier führte 1967 zur Einsetzung einer Planungskommission, die ihren Bericht 1969 veröffentlichte.

Zur grundsätzlichen Zielorientierung der neuen Universität stellten die Autoren des Berichts fest:

In der Vergangenheit führten beschränkte Bildungsmöglichkeiten, die durch soziale, ökonomische und politische Faktoren bedingt waren, für eine große Zahl von Menschen zu einem geringen Bildungsniveau. Dieses geringe Bildungsniveau wurde als Beweis für begrenzte angeborene Fähigkeiten angesehen, die umgekehrt wiederum dazu dienten, das Fehlen von Verbesserungen der Bildungseinrichtungen zu rechtfertigen. Es ist sowohl ungerecht als auch unklug, die abenteuerlichen Zufälle der Erziehung auf angebliche Erbdefekte zurückzuführen — ungerecht für das Individuum, und unklug für die Gesellschaft, welche so größtmögliche Bildungschancen für die größtmögliche Zahl ihrer Bürger verhindert. Was lange als ein Privileg von wenigen angesehen wurde — an höherer Bildung zu partizipieren — wird schließlich als Grundrecht jedes Individuums anerkannt werden.

(Report of the Planning Committee, 1969, S. 2)

2 Klassenstruktur

Die Open University wurde also explizit am Ziel der Verbesserung der Chancengleichheit orientiert.

In den folgenden Jahren wurden die bereits begonnenen Verhandlungen mit den Fernsehstationen BBC und ITA fortgesetzt, Planungssysteme und Nutzen-Kosten-Berechnungen verfeinert, staatliche Finanzierungsquellen gesichert, Personal rekrutiert und Einrichtungen adaptiert, Studienpläne entwickelt und zur wissenschaftlichen und didaktischen Konkretisierung an relativ umfangreiche Gruppen von Wissenschaftlern, Hochschullehrern, Didakten, Unterrichtstechnologen und Medientechnikern übergeben. Ende 1969 wurde der „Prospectus“, die Einladung zur Immatrikulation für das erste Studienjahr, 1971, herausgegeben; zwischen 15. Jänner und 4. April 1970 konnte man sich schließlich um einen Studienplatz für dieses erste Jahr bewerben.

Die Zahl der Bewerber im ersten Jahr betrug 43.444, von denen 24.122 nach einem Quotensystem ausgewählt wurden. Von diesen hielten 19.300 das erste Jahr durch; 15.823 meldeten sich zum Schlußexamen, welches 14.744 bestanden. Anfang 1973 erwarben die ersten 867 Studierenden der Universität ihr B.A.-Diplom.

Rund 90 Prozent der Studierenden des ersten Jahres waren 25 Jahre und älter, etwa die Hälfte 35 Jahre und älter; noch 20 Prozent waren 45 und älter. Die Studenten der folgenden Jahre waren im Durchschnitt etwas jünger.

Die meisten Studierenden waren erwartungsgemäß Lehrer (37 Prozent im ersten und 30 Prozent im zweiten Studienjahr); an zweiter Stelle rangierte technisches Personal (13 Prozent). Überraschend groß war auch der Hausfrauenanteil mit 9 bzw. 12,5 Prozent. Der Anteil der Arbeiter an den Studierenden blieb hingegen weit hinter den Hoffnungen und Erwartungen der Planer zurück: nur 8 Prozent der Befragten einer Stichprobe ließen sich als Arbeiter klassifizieren.

Dieser Punkt hat im progressiveren Lager wie auch innerhalb der Universität selbst vielfach Kritik ausgelöst. Tyrell Burgess etwa schrieb in der Zeitschrift „New Society“ (12. April 1972), daß die neue Universität die Ziele ihrer Gründer und insbesondere das Ziel der Verringerung der Chancenungleichheit verfehlt hätte. Doch wird das Argument schwächer, wenn man die Herkunft (und nicht den aktuellen Status) der Hörer der Open University berücksichtigt: rund die Hälfte der Hörer sind Kinder aus Arbeiterfamilien (vgl. auch die Tabelle). Die Differenz zwischen den beiden Zahlen läßt nur eine Interpretation zu: daß die Open University neben Lehrern und Hausfrauen (deren beider Studienmotive einigermaßen verständlich sein dürften) vorwiegend aufwärtsmobile Arbeiter anzieht, Leute also, die ihren bereits gelungenen Aufstieg durch ein Studium nun legitimieren möchten. Jedenfalls ändert sich nichts daran, daß Arbeitern die Mauern selbst der „offenen Universität“ noch immer ziemlich unübersteigbar erscheinen.

Sozialstatus (gemessen durch das IPA, ein in der englischen Markt- und Meinungsforschung übliches Instrument) der Hörer der Open University und ihrer Väter (nach McIntosh 1964, S, 62):
SozialschichtVater (soziale Herkunft)Sohn (aktueller Status)
obere Mittelschicht 3% 3%
mittlere Mittelschicht 17% 50%
untere Mittelschicht 19% 37%
höhere Arbeiterschicht 37% 7%
untere Arbeiterschicht 12% 1%
keine Angaben 12% 2%
Summe 100% 100%

3 Studenten werden billiger

Ein Punkt, der inzwischen viele ursprüngliche Kritiker der Open University — hauptsächlich aus dem konservativen Lager — zu wohlwollenden Befürwortern konvertiert hat, betrifft ihre im Vergleich zu den herkömmlichen Universitäten weit günstigere Kosten-Nutzen-Relation. Leslie Wagner (1962, 1964) errechnete für die ersten drei Studienjahre, daß die Kosten für die Ausbildung eines Studenten, der mit einem Undergraduate Degree abschließt, ein Drittel der Kosten einer analogen Ausbildung auf einer traditionellen Universtität betragen. Auch wenn man die Ausfallsquote — die Zahl der Studenten, die ihr Studium vorzeitig aufgeben — in Rechnung stellt, bleibt der Kostenvorteil erhalten. Nach Leslie Wagner müßten 85 Prozent der Studenten ihr Studium vorzeitig aufgeben — dann erst wären die Kosten pro Undergraduate gleich denen einer traditionellen Universität.

Die tatsächliche Ausfallsquote ist wesentlich geringer als 85 Prozent, auch wenn sie höher ist als an den traditionellen Universitäten. Im ersten Jahr betrug sie in den Humanwissenschaften 14 Prozent, in den Sozialwissenschaften 20 Prozent, in den Naturwissenschaften 30 Prozent und in Mathematik 40 Prozent (nach Burgess 1972).

Die Fixkosten pro Studentenplatz der Open University sprechen eine noch deutlichere Sprache: sie betragen 6 Prozent der Kosten einer traditionellen Universität (Wagner 1974). Dieser Kostenvorteil einer Fernuniversität gegenüber Campusuniversitäten (selbst wenn so teure Medien wie Fernsehen eingesetzt werden) ist leicht erklärbar. Vorbereitung und Abhaltung eines Kurses machen einen bestimmten festen Betrag (Kosten für Einrichtungen, Hörsäle, Gehälter, Instumentarien etc.) aus, gleichgültig, ob dieser mit 10, 20, 200 oder 2.000 Studenten abgehalten wird. Im Durchschnitt unterrichtete 1973 auf englischen Universitäten ein akademischer Lehrer 8 Studenten, auf der Open University hingegen 180 (Turnstall 1974).

4 Organisation

Die Open University ist derzeit in 6 Departments gegliedert: Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, Mathematik, Naturwissenschaften, Technische Wissenschaften, Bildungswissenschaften.

Den Aufbau des Studiums in der Open University beschreibt Berger (1973, S. 184 f.) folgendermaßen: Das akademische Jahr dauert vom 1. Jänner bis 31. Dezember. Es umfaßt 36 von kurzen Ferienperioden unterbrochene Arbeitswochen und wird von der Jahresprüfung (Anfang November) abgeschlossen. Jedes Jahr bildet eine Einheit, eine in sich abgeschlossene Niveaustufe der B.A.-Lehrgänge. Vier je einjährige Niveaustufen werden angeboten. Die erste Niveaustufe, der besonderes Gewicht beigemessen wird, heißt „Foundation Course“ (F.C.), d.h. Grundlagenlehrgang. Jede Fakultät hat ihren eigenen F.C. Man hat den Bogen des modernen studium generale nicht so weit gespannt — und hätte ihn damit überspannt —, daß man disparate Denkgebilde, etwa Chemie und Geschichte, als hochspezialisierte Eigenprägungen, die als solche beziehungslos sind, zusammengejocht hätte. Das interdisziplinäre Beziehungsdenken wirkt sich vor allem innerhalb der Fakultäten aus, die verwandte Fachbereiche umschließen.

Nur die bildungswissenschaftliche Fakultät, an der größtenteils aktive Lehrer studieren, hat keinen F.C.; in ihr bildet der praktische Schuldienst die natürliche Studiengrundlage (Kontaktstudium). Der erste akademische Grad heißt einheitlich B.A., wie in Oxford und Cambridge. Wie früher die meisten Universitäten, unterscheidet die O.U. zwischen. einem „General B.A.“ und dem akademisch wertvolleren „Honours B.A.“. Um den allgemeinen Grad zu erlangen, muß der Student 6 Jahreslehrgänge erfolgreich beschließen. Strebt er ein Honours B.A. an, so sind 8 Jahreslehrgänge erforderlich, von denen mindestens zwei einer höheren Niveaustufe als der zweiten angehören müssen. Leistungsfähigen Studierenden steht es frei, zwei Jahreslehrgänge in einem Jahr zu absolvieren, daher läßt sich das Studium frühestens in drei, bzw. vier Jahren abschließen.

Für die Kurswahl gelten zwei besondere Bestimmungen. Von den 6 bzw. 8 obligaten Jahreslehrgängen müssen zwei „Foundation Courses“ sein, die im ersten Studienjahr gleichzeitig, oder auch hintereinander zu belegen sind.

Die zweite Bestimmung ist, daß für gewisse geschlossene Studiengänge, vor allem Mathematik und exakte Wissenschaften, die höhere Niveaustufe nur belegt werden kann, wenn die vorhergehende Niveaustufe befriedigend absolviert worden ist.

Damit erschöpft sich der „Systemzwang“ der Open University. Abgesehen von den erwähnten Einschränkungen, ist der Studierende in der Wahl der 4 bzw. 6 höheren Niveaustufen völlig frei; er kann sie alle aus einer Fakultät oder aus mehreren wählen — das interfakultative Prinzip in unüberbietbarer Konsequenz!

Für einen erfolgreich absolvierten Kurs erhält man ein Zeugnis ohne Noten. Für 6 bis 8 solcher „Credits“ erhält man das B.A.-Diplom; Abschlußprüfungen, Papers, Rigorosen u.ä. existieren nicht! Ein Credit wird verliehen, wenn man erstens eine Reihe von fortlaufenden Zwischentests bestanden hat, die postalisch innerhalb gewisser Fristen eingesandt werden müssen — „Schwindeln“ ist bei diesen Tests also sinnlos, da ja ohnehin jedes Hilfsmittel erlaubt ist. Zweitens muß man am Schluß des Studienjahres eine dreistündige schriftliche Prüfung über den jeweiligen Kurs absolvieren; diese Prüfung ist allerdings an einem zentralen Ort und unter Aufsicht durchzuführen.

Diese Regelung läßt sich als Versuch verstehen, einen Kompromiß zwischen dem Abbau tradierter Initiationsrituale (Abschlußprüfungen) und den Erwartungen einer leistungsorientierten (oder leistungsideologisch orientierten) Gesellschaft zu finden — es ist die permanente Sorge der Open University, wieweit ihre Diplome nicht nur formell (dies ist durch staatliches Dekret geschehen), sondern auch informell, etwa auf dem Arbeitsmarkt, anerkannt werden. (Auf österreichischen Universitäten werden die Open University-Zeugnisse derzeit auch formell nicht anerkannt!)

5 Weiter Privilegien

Das Ziel der Verringerung sozialer Ungleichheit wird von den Gründern der Open University betont, jedoch hat sie nur begrenzten Erfolg. Viele Kritiker sehen darin ihr Scheitern. Offen bleibt, ob Ungleichheit sich überhaupt durch verbesserte Bildungschancen entscheidend verringern läßt. „Klassenlage“, die zentrale Ungleichheitsdimension von Industriegesellschaften, ist offensichtlich in erster Linie an ökonomische Kriterien geknüpft: „Wir wollen da von einer ‚Klasse‘ reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des (Güter- oder Arbeits-)Markts dargestellt wird (‚Klassenlage‘).“ (Max Weber, 1956, S. 531).

Natürlich wäre es denkbar, daß durch gezielten Einsatz von Systemen wie der Open University der Akademikeranteil an einem Geburtsjahrgang (und damit schließlich in der Gesamtbevölkerung) auf zwanzig, dreißig, vierzig oder auch sechzig Prozent ansteigt. Ist damit mehr soziale Gleichheit erreicht? Die Berufsstruktur, ihre Prestige-, Einkommens- und Machtaspekte, sowie die Besitzverhältnisse werden damit kaum verändert werden. Im Gegenteil, viele Akademiker wären frustriert, da sie nicht jene Positionen einnehmen, die ihnen „eigentlich“ zustehen. Das könnte revolutionäre Konsequenzen haben — vom Abkoppeln der Bildungsdimension von der ökonomischen Statusdimension (gegenwärtig scheint formale Bildung ja hauptsächlich die Funktion zu haben, Status und Prestige zuzuweisen) bis zum gewissermaßen umgekehrten Klassenkampf.

Das umgedrehte Argument malt das Gespenst der „Akademikerinflation“ und „Akademikerarbeitslosigkeit“ an die Wand. Folgendes muß klargestellt werden: „Akademiker“ ist kein Beruf, keine Ware, kein Geld, überhaupt keine ökonomische Kategorie; die akademische Ausbildung ist gegenwärtig nur ein Bezugsschein für privilegierte Berufe. Daß bessere formelle Bildung in besseren Arbeitsqualifikationen resultierte, ist in mehreren Untersuchungen widerlegt worden (vgl. Collins 1971, Masuch 1972). „Arbeitslos“ können Akademiker nur werden, weil sie bestimmte privilegierte Berufe beanspruchen, deren Verfügbarkeit — oft künstlich — knapp gehalten wird, aber sicher nicht bloß deshalb, weil sie Akademiker sind. „Inflationäre Tendenzen“ wiederum kann die „Produktion“ von Akademikern nur hervorrufen, wenn Wissen als knappes, obzwar wertvolles Gut gilt, dessen „Überproduktion“ seinen Wert verringert. Es wäre zu prüfen, ob Wissen nicht ein kommunales Gut darstellt oder darstellen sollte.

6 Uni ohne Protest

Die Nutzen-Kosten-Analyse der Open University spricht für sich. Ebenso die Rationalität vieler ihrer Einrichtungen. Doch bringt dieses System gerade wegen seiner Effizienz, seiner Planrationalität und seiner pädagogischen wie didaktischen Raffinessen eine Reihe von zumindest tendenziellen Gefahren der Verdinglichung von Wissen und der Technokratisierung von Lehren und Lernen mit sich.

Wahrscheinlich gehören die Kurse der Open University zu den besten der Welt. Gerade Qualität und Massenproduktion (sowie die hohen Produktionskosten) dieser Kurse sowie die Formalisierung der Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden (und die Zersplitterung der Lernenden — „divide et impera“!) können aber bewirken, daß nicht mehr „Bildung“ — durchaus auch in einem Humboldtschen Sinne — passiert, sondern gut verpacktes Wissen konsumiert wird.

Selbst im schlechtesten Seminar einer traditionellen Universität hat der Student weit mehr Möglichkeiten kritischen Lernens als auf der Open University: er kann fragen, Alternativerklärungen anbieten, protestieren, er kann sich mit seinen Kollegen besprechen und mit ihnen diskutieren; er kann auch „Aktionen“ oder Beschwerden planen. Er kann das Seminar ablehnen und diese Ablehnung begründen, auch das ist wesentlich Lernen! An der Open University ist das alles unmöglich.

Ein weniger perfektes System könnte diese Nachteile beseitigen. Die Möglichkeiten für persönliche Kontakte der Studierenden untereinander wie mit den Lehrenden müßten verbessert werden, etwa durch den verstärkten Ausbau der lokalen Studienzentren. Entsprechende Wünsche finden sich auch in den Befragungen der Studierenden (vgl. Turnstall 1974). Damit werden die Kosten des Systems freilich steigen. Schließlich braucht gerade ein zentralisiertes System wie die Open University Kontrolle und Mitbestimmung von unten, also von seiten der Studierenden, nötiger als jede andere Universität.

Bibliographie

  • Arbeiter sind die Ausnahme. betrifft: erziehung, 6/5, 1973, S. 72 f.
  • Berger, Walter, Englands Open University — Eine bildungswissenschaftliche Studie. Vierteljahreszeitschrift für Pädagogik, 3, 1973, S. 173-215.
  • Burgess, Tyrell, The Open University. New Society, 500, April 1972, S. 176-178.
  • Collins, R., Functional and Conflict Theories of Educational Stratification. American Sociological Review, 36, 1971, S. 1002-1019.
  • Leonhardt, Rudolf W., Die Hochschule zu Hause. Die Zeit, 49, 1973, S. 20.
  • Masuch, Michael, Politische Ökonomie der Ausbildung. Reinbek (Rowohlt) 1972.
  • McIntosh, Naomi, The OU student. In: Turnstall (ed.) 1974.
  • The Open University. Report of the Planning Commitee to the Secretary of State for Education and Science. London (Her Majesty’s Stationary Office) 1969.
  • The Open University. Prospectus. 1971. O.O. 1969.
  • Trow, Martin, The Open University. New Society, 501, Mai 1972, S. 229-231.
  • Turnstall, Jeremy (ed.), The Open University Opens. London (Routledge—Kegan) 1974.
  • Wagner, Leslie, The Economics of the Open University. Higher Education, 1, 1972, S. 159-183.
  • Wagner, Leslie, The Economic Implications. In: Turnstall (ed.) 1974.
  • Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. A. Tübingen (Mohr) 1956.
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