Heft 8/2004
Dezember
2004

US-Truppen verlassen den Irak

Der europäische Traum, ein irakischer Alptraum

Stellen Sie sich vor, der amerikanische Präsident würde für morgen eine wichtige Fernsehansprache an die Welt ankündigen. Stellen Sie sich weiter vor, er würde dann in dieser Fernsehansprache mitteilen: Er habe sich geirrt – die Befreiung des Irak sei ein Fehler gewesen. Er werde den Fehler auf schnellstmöglichem Weg korrigieren und seine Soldaten umgehend nach Hause zurückholen. Den Willigen empfehle er das Gleiche. Er entschuldige sich bei allen Beteiligten für all das Unerfreuliche, das durch seinen Fehler geschehen sei. Er wünsche dem Irak alles Gute für die Zukunft.

Nachdem ich nach vielen Diskussionen mit zahlreichen Menschen das Gefühl habe, dass sich das viele Europäer und Europäerinnen wünschen, habe ich eine Frage: Kann das tatsächlich die Lösung sein?

Diese Phantasievorstellung ist einer Homepage entnommen. Leider liefert sie keine Prognose darüber, wie die Zukunft des Iraks aussehen wird, nachdem sich Mr. G. W. Bush für die Befreiung des Irak in einer inszenierten Ansprache entschuldigt, aber genau das interessiert mich als Iraker. Genau das ist es, was meine Verwandten, Bekannten und FreundInnen, die im Irak leben, brennend interessiert.

Dementsprechend erlaube ich mir folgende Prognose:

Während man in Europa glaubt, den Frieden erreicht zu haben, ziehen die US-Truppen in einer Nacht- und Nebelaktionen aus dem Irak ab. Iraker und Irakerinnen, die die Möglichkeit und die Mittel haben, ins Ausland zu flüchten, ergreifen diese Chance. Einige bleiben, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben wollen, der Großteil bleibt, weil keine andere Wahl besteht.

Die Terroristen werden sich in zwei Lager spalten, hier die Ewiggestrigen (Ba’th), die sich das alte Saddam Hussein Regime wieder herbeiwünschen, und da die Fundamentalisten, die ein Taliban-ähnliches Regime im Irak installieren wollen.

Der Iran wird natürlich nicht tatenlos zusehen, sie werden einen Mann ihrer Wahl als Marionette einzusetzen versuchen, ihn finanziell und militärisch unterstützen.

Wir hätten drei Gruppen, die im Irak aber eine Minderheit darstellen. Die Mehrheit hat die Überzeugung, dass dieses sich im Aufbau befindliche demokratische System, wie wir es zurzeit im Irak haben, das beste sei. Da die Minderheit aber im Gegensatz zur Mehrheit im Irak unter Waffen steht, ihre finanziellen Mittel schier unerschöpflich sind und sie auch keine Skrupel haben, Andersdenkenden die Köpfe abzuschneiden, wird das passieren, was in einem anarchischen Chaos eben passiert: die Stärkeren und die Skrupellosen setzen sich durch. Der Kurdische Teil des Irak würde sich dann ihn diesem Chaos zu recht eigenständig proklamieren und dass die Türkei daraufhin mit ihren Truppen im Nordirak einmarschiert, ist so gut wie unausweichlich.

Alle drei genannten Gruppen bedeuten Diktatur: entweder eine nationalistische Diktatur (Ba’th), eine religiös-fundamentalistische Taliban-ähnliche Diktatur oder eine vom Iran gesteuerte Diktatur.

Alle drei Alternativen hätten die selben Folgen: sämtliche freien Medien, die es derzeit im Irak gibt, würden verboten werden, die Meinungsfreiheit abgeschafft, die Wahlen abgesagt, politische Parteien verboten, die Unterdrückung von Frauen und Repression gegenüber Andersdenkenden angeschraubt. Die Folter-Branche würde sich eines großen Aufschwungs erfreuen, auch die Geheimdienste würden sich einer unglaublichen Wiederbelebung erfreuen.

In Europa würde man allerdings den Irak kaum mehr wahrnehmen, da dort keine freien Medien mehr existieren. Die Einzigen, die dann über den Irak etwas berichten können, sind Exil-Irakis und Amnesty International, etc., aber die zeigt man eben nicht zur Prime Time. Außerdem müsste man sich dann die Frage stellen: War es das, was wir wollten?

Für mich, der die militärische Intervention der USA befürwortet hat, weil es in meinen Augen keine andere Möglichkeit gab, die irakische Bevölkerung von der Diktatur Saddam Husseins zu befreien, ist die derzeitige Lösung die einzig akzeptable und eine, die in meinen optimistischsten Vorstellungen bis zum 9. April 2003 nicht einmal erträumbar war.

Für viele Millionen Irakerinnen und Iraker und für mich war es nicht wichtig, ob Saddam irgendwo Massenvernichtungswaffen hortete oder nicht, sondern wir ein Recht darauf hatten, befreit zu werden!

Ja, man soll in Europa das Vorgehen der USA im Irak kritisch begutachten und ihnen auf die Finger hauen, wenn sie vom versprochenen Weg zu „Demokratie und Freiheit“ abkommen, wenn man schon nichts anderes dafür beitragen will.

Mein Hauptkritikpunkt zur Offensive in Falluja ist, dass dieser Angriff schon viel früher hätte passieren müssen — kein Ort im Irak darf ein Zufluchtsort für Terroristen sein und kein Mensch, nirgendwo, darf diesen skrupellosen Mördern ausgesetzt sein.

Eines sollte man sich bewusst machen: Die Unterstützung durch die Besatzung ist derzeit die einzige Chance für den Irak, und wenn man sich die US-Truppen, aus welchem Motiv auch immer, wegwünscht, dann sollte man sich fragen, ob dieses Motiv ausreicht, um 25 Millionen Irakerinnen und Iraker zugrunde gehen zu lassen.

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