FORVM, No. 473-477
Juli
1993

Vom Eigenleben der Klischees und dem niegehörten Klang

»Emotion ist für das Publikum«, meinte Igor Strawinsky. Emotion ist also für den Fremden, den, der sozusagen draußen vorbeigeht, mit dem es keine falsche Intimität, keine verlogene Verbrüderung geben darf, und der, wie ich hoffe, ein Mensch übergreifender Interessen, also kein Musik-, geschweige denn Jazzspezialist ist.

Versuche ich Strawinskys Bonmot auf meine eigene Position zu übertragen, stelle ich fest, daß mich die Gedanken, die hinter der Musik stehen, ebenso interessieren, wie deren unmittelbarer, mehr oder weniger gefühlsbeladener Ausdruck. Selbstverständlich gibt es auch nach — und trotz — John Cage so etwas wie eine Wirkungsästhetik in der Musik, was meint, das Werk hat uns weit mehr zu beschäftigen als das Gerede darüber, und es liegt auf der Hand, daß die Musik jene Kunstform ist, die dem Rezipienten das emotionale sich Fallenlassen am ehesten ermöglicht. Doch hängt die Echtheit des Gefühls von der Klarheit der Idee ab, wie der Kolumbianer Nikolas Gomez Davila postulierte, weshalb ich versuche, meiner musikalischen Konzeption und vielleicht auch unserer allgemeinen Situation ein paar Gedanken zugrunde zu legen.

Prototypisch für Improvisatoren und Komponisten unserer Zeit scheint mir in erster Linie zu sein: die unbekümmerte Haltung gegenüber Kategorien, Klischees, Kastl- und Kastendenken. Es scheint sich dabei auch um eine Schutzreaktion gegenüber Musikindustrie, Medien und Kritikern zu handeln, die nur allzugern feinsäuberlich alles auseinanderdividieren, vor allem Jazz primär im verrauchten Club und adäquat dazu zu mitternächtlicher Sendezeit ansiedeln, die hehre Kunstmusik dagegen dem gehobenen Bildungsbürger zuteilen. Es verhält sich so, wie der bildende Künstler Donald Judd einmal meinte: »Die Klischees führen bei den Kritikern ein Eigenleben und sind unmöglich aufzuhalten, denn sie gelten als Ideen.«

Doch auch die mir-nix-dir-nix-Aufhebung dieser Klischees, sprich U und E löst die Probleme nicht so einfach. Schließlich läßt sich bei genauerer Betrachtung der musikalischen Sachverhalte durchaus von einem U und E Jazz sprechen: wenn Sie vergleichend an Dave Sanborn und Steve Lacy denken, wird klar sein, was ich meine.

Auch ein Ensemble, das mit dem vorgeblichen Durchbrechen von Klischeevorstellungen berühmt wurde — ich spreche vom Kronos Quartett — reproduziert in erster Linie ein Klischee; noch dazu ein sehr bürgerliches: das der reinen Improvisationskultur. Schließlich präsentiert das Quartett mit Mozart über Rolling Stones bis zu John Zorn einen grenzüberschreitenden Querschnitt, jedoch keine eigenen Kompositionen, wodurch es für viele Veranstalter zum betulichen Alibi wird.

Eine andere, nunmehr jahrzehntewährende Durchbrechung vieler Klischees läuft Gefahr, selbst zu einem solchen zu verkommen: Gemeint ist die freie Improvisation. Für mich ist der Gestus der spontanen Unmittelbarkeit heute sehr problematisch geworden, weswegen ich mich dem Free Jazz, als dessen Kind ich mich in gewissem Sinn betrachten muß, nurmehr marginal verbunden fühle. Ich glaube, daß die Improvisation einen großen Widerspruch beinhaltet. Sie erhebt den Anspruch des Extemporierens, der Erfindung im Augenblick, und ist andererseits doch vorzüglich Demonstration des Angelernten. Mit diesem Widerspruch fertig zu werden, kann für einen nachdenklichen Musiker ein Problem sein. Doch bleibt die freie Improvisation ein Kunstmittel, das sich mit der Komposition vermählt, und sei es nur, um Irritation zu verbreiten und Ungeplantes zuzulassen.

Gefangener der eigenen Schreibweise zu werden, ist schließlich eine der Gefahren des Komponierens; die Improvisation kann hier ein ausgleichender Unsicherheitsfaktor sein. Kann, muß aber nicht, weil sie eben selbst einer Tendenz der Routine und vor allem dem Artistischen zu erliegen scheint. Nicht zuletzt halte ich die Vorstellung des nach-außen-Stülpens des Innenlebens für einigermaßen naiv. Ich glaube, kein Musiker projiziert einfach vorgeblich autonome Vorstellungen. Jeder Musiker sieht sich in Relation zu anderen Musikern, und vor allem in Relation zur Musikgeschichte. Das macht den Vorgang des Musik-Erfindens artifizieller, als viele Leute wahrhaben wollen.

Das Phänomen Jazz (das dem Film vergleichbar eine signifikante Kunstform dieses Jahrhunderts ist) hat trotz des Primats der Improvisation vom Beginn an eine starke Tendenz gezeigt, sich mit der euro-amerikanischen Konzertmusik zu verbinden. Man könnte sagen, kaum war der Jazz erfunden, hat schon einer die erste Jazzoper komponiert: Scott Joplin.

Vielleicht handelt es sich dabei um die musikalisierende Beweisführung dessen, was Voltaire Esprit nennt:

Bald eine neuartige Vergleichung, bald eine scharfsinnige Andeutung, hier der berückende Gebrauch eines Wortes, das man in einem anderen Sinn verwendet, als man es verstanden haben will; dort ein witziger Bezug zwischen zwei ungewöhnlichen Ideen, eine ausgefallene Metapher; das Herausschälen dessen, was eine Sache nicht auf den ersten Blick offenbart, aber dennoch enthält; die Kunst, zwei weit voneinander entfernte Dinge zu vereinen.

Um heutige Musik, die einer solchen Synthese gerecht werden möchte, zu beurteilen, muß man ihre Verbundenheit mit der europäischen Musik und mit der Geschichte des Jazz, aber auch ihr Verlangen nach dem nie gehörten Klang erkennen. Ein Verlangen jedoch, das im Gegensatz zum Free Jazz der 60er Jahre nicht durch einen Revolutionsanspruch einzulösen ist, sondern gemäß einem Diktum des Malers Markus Lüpertz, daß wir nicht in einer Zeit der Revolution, sondern in einer Zeit der Komplexität leben, nur im Aufzeigen bisher nicht gesehener oder ungehörter Verbindungslinien zu stillen ist. Da nichts mehr neu ist, wird das Zusammenstoßen unerwarteter Ebenen neu, zum essentiellen Geflecht, zum präzisen Schnittpunkt persönlicher Erfahrungen.

Meine eigenen Versuche in Richtung einer Synthese von Jazz und europäischer Musik lassen sich als Produkt meiner Biographie definieren. Interessens- und ausbildungsmäßig zuerst der E-Musik, später dem Jazz entstammend, sehe ich mich heute als eine Art zufällig in den Jazz geratener »Antijazzmusiker«, als jemand, der Jazzeinflüsse zuläßt und assimiliert, weil sie ihm interessant erscheinen, der aber im Jazz kein Allheilmittel sieht.

In Anbetracht der offen zutage tretenden Verschleiß- und Ermüdungserscheinungen in Jazz und Neuer Musik, sehe ich in der Synthese von beiden zumindest für meine Arbeit einen vorläufigen Ausweg.

Sicher besteht ein gewisses Risiko, daß eine zwei Kulturen verbindende Musik schlußendlich alles und nichts, also weder E-Musik noch Jazz ist. Doch finde ich, daß man sich im Dienste einer neuen Qualitätsfindung diesem Risiko durchaus aussetzen kann, zumal es dabei nicht um vorgedachte Prinzipien und Dogmen, sondern um eventuell in Betracht zu ziehende Möglichkeiten und fein abgestufte Nuancierungen geht.

»Sprache erweist sich als lahm, wenn sie sich über Musik äußert«, meint George Steiner. Ich meine, sie wird umso lahmer, je uneindeutiger die musikalische Position ist, über die sie zu befinden hat. Doch kann sie helfen, sich dem Trivialisierungsdruck, dem heute auch anspruchsvollste Musikformen ausgesetzt sind, zu widerstehen. Darin sehe ich eine wichtige Zukunftsperspektive der Musikkritik, womit wir wieder bei den eingangs erwähnten Gedanken hinter der Musik wären. Meine eigene Zukunftsperspektive sehe ich in erster Linie durch die vorbildhafte Existenz der großen Künstler der abendländischen Musikgeschichte sowie der Jazzgeschichte definiert. Indem sie auf höchstem Niveau Komponisten, Interpreten, Improvisatoren in einer Person sind, lösen sie das ein, was der Begriff Musiker in seiner Gesamtheit verspricht. Daran gilt es weiterzuarbeiten.

Vortrag an den Saalfeldner Musiktagen ’93 am 18./19. Mai

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