FORVM, No. 120
Dezember
1963

Vom mönchischen Stand des Kritikers

Anmerkungen zu Heimito von Doderers Romantheorie

Es ist nicht sehr lange her, daß Heimito von Doderer behauptete, der Kritiker — und nicht etwa der Schriftsteller — sei der Mittelpunkt des literarischen Kosmos, weil jener das faszinierende Geheimnis des Maßes besitze; aber erst beide Eigenschaften zusammen, die analytische des Kritikers und die gestaltende des Dichters, ergäben den Romancier. Doderer hat die Verwirklichung dieser Theorie, auch im FORVM, beispielhaft vorexerziert. In Heft IX/100 brachten wir einen Vorabdruck aus seinem Roman „Die Wasserfälle von Slunj“, der vor kurzem als 1. Band einer Tetralogie erschien (dessen Besprechung durch Edwin Hartl ist auf Seite 602 dieses Heftes zu finden). Mit seiner letzten kritischen Äußerung in Heft IX/107 begab sich Doderer zwar auf literarisch neutrales Gebiet, nämlich das der Geschichte („Neuland österreichischer Geschichte“), doch wird er in unserer nächsten Nummer das Buch des Erzählers H. G. Adler vorstellen, dessen Erstlingswerk „Eine Reise“ seine kritische Stellungnahme herausgefordert hat. Zur Vorbereitung bringen wir nachstehend einige Anmerkungen von Horst Althaus zu Doderers theoretischer Schrift „Grundlagen und Funktion des Romans“, die so viel Prinzipielles über Theorie und Praxis des Schreibens enthalten, daß sie gleichzeitig als Einleitung für die anschließenden Buchbesprechungen stehen mögen. Dr. Horst Althaus, Literaturwissenschaftler aus Deutschland, trat bisher mit zwei Publikationen an die Öffentlichkeit: „Johannes Schefflers Cherubinischer Wandersmann: Mystik und Dichtung“ und „Georg Lukács oder Bürgerlichkeit als Vorschule einer marxistischen Ästhetik“.

Pflöcke in den Boden zu schlagen, den es nicht gibt, ist so vergeblich wie das Tagewerk der Penelope. Die Bemühung um eine Theorie des Romans, mit Vischers „Ästhetik“ eindrucksvoll und nicht ohne Hoffnung für die erste nachhegelsche Generation eingeleitet, zeitigt spätestens nach Lukács’ Entwurf die Erkenntnis, daß eine solche Theorie schlechterdings nicht möglich ist: Will sie mehr sein als eine ästhetische Spekulation (die in ihrem historischen Sitz nicht ohne Reiz sein mag), so leidet sie hoffnungslos an der Bodenlosigkeit des Romans, d.h. des in seiner Form ruinierten Epos. Aller Aufwand an praktischer Erfahrung wie an klarsinniger Deduktion hat die Kontaktstörung nicht zu beseitigen vermocht, die sich im diskursiven Verfahren und also in der Auseinandersetzung mit jedem nuancierenden oder kontradiktorischen Versuch je und je einstellt. Die Isolation der Standpunkte trotz gelegentlicher Berührungen scheint vollkommen. Es ist ein solches Maß an „Glauben“ eingelagert, und das bedeutet hier schöpferische Empirie, über die sich nicht mehr streiten läßt, daß sich die „Ansichten des Romans“ zusehends zum Dogma versteifen.

Wenn der Kritiker am schöpferischen Akt des Künstlers auch keinen Anteil hat, so kann er doch immerhin auch im entferntesten Abseitsstehen noch durch sein sezierendes, zur Abstraktion hinführendes Unternehmen das Tor zu jener Erhellung öffnen, die demjenigen Künstler nützt, der nicht unbesorgt ist um das technische Profil seines Werks, der auch im blinden Rausch die Tasten richtig zu schlagen nicht verabsäumt, der im Schlafwandel die Apparatur der Kunstgriffe gleichsam nebenbei bedient. Wem freilich die Palme für die Vermittlung in die Einsicht der Techniken zusteht, ist müßig zu fragen und nicht mit der Sicherheit zu beantworten, die einem Praktiker ansteht, wenn. er außerhalb der Kunst Prinzipielles über dieselbe formuliert.

„Theoretiker und Praktiker“ heißt der erste von Doderers brillierend rücksichtslosen Essays; [*] brillierend, weil hier ein großer Romancier die Grundlagen seiner Kunst mit jener Delicatezza offenlegt, die uns aus seinen eigenen Romanen vertraut ist, und rücksichtslos im Niederreißen aller Grenzen zwischen dem Kunstwerk und den ästhetischen Kategorien, die zu seinem innigsten Verständnis notwendig sind. „Theoretiker und Praktiker“ müssen nicht wie zwei feindliche Brüder einander gegenüberstehen, denen es aus Vorsatz verwehrt ist, zusammenzufinden. Daß es so nicht sein muß, hat uns Lessing gelehrt, der als Theoretiker dem Autor der „Emilia Galotti“ vorangeht und der die „Hamburgische Dramaturgie“ trotz der „Minna von Barnhelm“ geschrieben hat.

Es ist also wohl die Frage, ob Theoretiker und Praktiker einander ausschließen, falsch gestellt. Der liebenswerte Jean Paul’sche „Winkelsinn“ hat Doderer auf die Spur des alten Spielhagen geführt, der bekannte: „In Sachen der Kunst beruht die Urteilsfähigkeit zuletzt auf technischer Erfahrung.“ Die „Urteilsfähigkeit“ der Ästhetik Hegels, dem die technische Erfahrung zeitlebens versagt geblieben ist, kann damit freilich nicht bestritten werden. Man könnte die Kette der Beispiele von Aristoteles bis Benedetto Croce beliebig erweitern, um den Beweis zu führen, daß es der technischen Erfahrung nicht zwangsläufig bedarf, um sich Maß schaffend oder nachdeutend im Garten der Kunst aufzuhalten. In diesem Vorfeld von Doderers theoretischem Manövrieren, das den Durchbruch an den Flügeln verhindern soll, ist die schwache Stelle nicht zu übersehen; die Berufung auf die jungfräuliche „Unberührbarkeit des großen kritischen Geistes, des idealisch gedachten Kritikers, der seinen mönchischen Stand niemals durch irgendeinen Versuch „schöpferischer“ Art verletzt hat, der sich — was einem Schriftsteller nie vergönnt sein könne — „zum Mittelpunkt des literarischen Kosmos aufwirft“, reicht nicht aus, um den möglichen Vorstoß des Gegners abzufangen.

Es soll hier jene Formel abgesichert werden, die sich wie in Leuchtschrift durch das Büchlein hindurchzieht, immer wieder variiert und als Maxime von Doderers eigener Romankunst zweifellos gültig: „Des Künstlers Schicksal ist letzten Endes ganz in seiner Technik enthalten, im technischen Glück und Unglück.“ Der Schriftsteller hat wieder zurückzufinden zu der so lange verachteten Funktion des grammaticus. Als Epiker muß er die starre Form zugleich enthüllen; er muß tief hinabsteigen in die Schächte der Erinnerung, um aus ihnen heraufzuziehen, was sich an Abgeschiedenem des gelebten Lebens gesammelt hat, so wie es bei Proust geschieht, für den dichten sich erinnern heißt. Aber diese Erinnerung braucht ein Skelett, mit dem sie verwachsen kann. Sie steht unter dem Gesetz der Apriorität der Kunstform, dem einzig Entscheidenden, das alle Inhalte als austauschbare Nebensächlichkeit beiseiteschiebt. Der Autor hat seine ureigene Artistik an der formalen Komposition zu erweisen, denn der Optimismus muß als abgetan gelten, daß es zu seinem Geschäft gehöre, neue Inhalte zu produzieren. Nur in der Erfindung neuer technischer Mittel, in ihrer Verfeinerung, kann er der Not entgehen, sich zu wiederholen und leerem Traditionalismus zu verfallen.

Es bleibt also dabei: Im Roman gilt die Priorität der Form vor den Inhalten. Das setzt die Hoffnung voraus — eine große Hoffnung —, daß der Roman eine Form habe oder wenigstens nach ihr verlange. So wenig sich dieser Sachverhalt gültig klären läßt, so sehr läßt das „Epische“, das dem modernen Roman noch innewohnt, die Konstituierung im Sinne eines architektonischen Planwillens zu, obwohl es schon bei Homer müßig ist, das klassische Epos eindeutig als projektierte Komposition deuten zu wollen. Ortega y Gasset nannte den Roman den „Kontrapunkt der Epik“ in dem Sinne, daß aus der Welt des Epos kein Lichtschimmer mehr auf die unsere falle, daß es keinen noch so winzigen Spalt gebe, durch den man aus der einen in die andere gelangen könne.

Das Epos führt uns hinein in die Wirklichkeit von Göttern und Helden. Es kennt bei Homer keine Vergänglichkeit und kein Verwelken. Das archaische Gestein, vom Dichter behauen, ist nicht nur Material, sondern zugleich Instrument der Poetisierung. Am modernen Romancier, so einsam er sich auf der eigenen Straße halten mag, ist seine Zeit, ist die gedrängte Masse der Tradition mit ihrer Bürgerlichkeit und Demokratie, ihrer Vernunft und ihrem Behagen an den kleinen Dingen, nicht spurlos vorübergegangen. Der bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts hat nach dem lang anhaltenden Zersetzungsprozeß des Epos den verbliebenen Rest heroischer Gesinnung abgetragen. Das parodierende Element des Romans veranlaßte Flaubert, für seine Zeit nach keinem Homer zu suchen: „Ce qui manque à la societé moderne, ce n’est pas un Christ, ni un Washington, ni un Socrate, ni un Voltaire, c’est un Aristophane.“ Doderer nutzt für seinen Erweis die Verwandtschaft der epischen Schwesterkünste des Romans und der Symphonie (vornehmlich der Beethoven’schen), um die Prägbarkeit des Romans nach einem artistisch entworfenen Modell gewiß zu machen. Dabei ist er des Beifalls einiger zeitgenössischer Autoren sicher, wiewohl dieser Beifall gelegentlich nicht ohne Vorbehalte gespendet wird. Etwa von Thomas Mann, der den Einwand gegen den Roman als „sehr würdelose Auflösungsform des Versepos“ nicht so ohne weiteres abtut, sondern mit dem spielerischen Wohlbehagen des homme de lettres, jedem Vorurteil fremd — versteht sich —, die Kette von Fällen verfolgt, die das Argument bestätigen.

Der Roman als späte, unendlich und zumal in Deutschland zurückgebliebene Form, die in der primitiven Addition der Begebenheiten sich nur unvollkommen verwirklichen kann und sich zur Umschmelzung direkt anbietet, ist auch bei Doderer konzipiert. Es spricht für sich, daß sich die Frage von selber stellt, jetzt, in dem Augenblick, wo der Reim verbraucht ist und der Vers einem eigentümlichen Mißtrauen begegnet. Es ist die Situation von Joyce und Broch, deren Prosaerzählungen einen noch freigebliebenen Raum betraten und im „Lyrismus“ der Sprache, in der symphonisch angelegten Romankomposition das aufgelöste Epos als Kunstform mit jenen Aushilfen zu bewahren suchen, die jetzt und hier ihre Glaubwürdigkeit noch nicht eingebüßt haben. Bei Doderer ist der Bogen noch gespannter und der Pfeil noch spitzer, ist die Ideologisierung des Künstlergewissens bereits weiter fortgeschritten durch das Hinzutreten artistischer Heimtücke, mit der das Geschäft des Handwerklichen ausgeübt und mehr noch — gerechtfertigt wird.

Der Katalog technischer Anweisungen, den Doderer in seinen „Perspektiven“ gibt, reicht freilich nicht aus, um seine These von der Romanform nachdrücklich zu stützen, nicht weil er unvollständig wäre, sondern weil ein solcher Katalog der gestellten Aufgabe nicht gerecht werden kann. Die hier aufgeführten Regeln sind einer herkömmlichen Topik epischer Hilfsmittel entnommen, wie etwa: Vorhalt oder Tempowechsel; das Verfahren, einen Vorgang in der Erzählung vor seinem Abschluß abzubrechen und den Vollzug dem Leser zu überlassen; die Überschneidung verschiedener Handlungsebenen; Einführung von Parallelhandlungen und ihre Summierung ad infinitum, mit der die Hegel-Vischer’sche „Totalität“ des Kunstepos produziert wird, die auch für Brochs Romantheorie Verbindlichkeit erlangt hat. Aber diese Anweisungen sind so wenig verpflichtend wie etwa Balzacs Empfehlung, am Ende eines Romans eine historische Gestalt heraufziehen zu lassen; es sind Maximen aus der eigenen Werkerfahrung und -erfahrenheit, nicht zwingend kategorial aus einer Ästhetik des Epos abgeleitet. Dem Roman als einer Weise des Erzählens widerfährt kein Abbruch, wenn sie übersehen werden.

So besehen sind Doderers Skizzen die Abbreviatur seines artistischen Bekenntnisses, mit dem er Einblick gewährt in die eigene Werkstatt; als Beitrag zur „Theorie des Romans“ sind sie ein Glasperlenspiel, freilich ein solches mit geschliffenen und glitzernden Steinchen, in denen sich das Licht fängt, aus denen es zurückschlägt mit einer Erleuchtung, die nirgendwo heftiger und blitzhafter ist als in der Sprache: ein Dokument sui generis.

[*In „Grundlagen und Funktion des Romans“, Nürnberg o.J.

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