FORVM, No. 91/92
Juli
1961

Vom Schrecken des Wohlfahrtsstaates

Notizen über die Zusammenhänge von sozialer Sicherheit und Charakter

Durch die allgemeine industrielle Anwendung der Atomenergie wird man, so versichern uns die Techniker, den Arbeitstag auf zwei bis drei Stunden verkürzen können. Es ist schwer vorauszusagen, was die Menschen mit dem dadurch verfügbaren Überfluß an Zeit anfangen werden. Bisher hat sich noch kein Politiker hierüber geäußert, obgleich die wissenschaftliche Stichhältigkeit der Prognose von niemandem bestritten wird. Die Politiker — einschließlich jener, die traditionsgemäß in Utopien, wenn auch in jenen des 19. Jahrhunderts denken — ziehen es offenbar vor, sich über diese Dinge nicht den Kopf zu zerbrechen. Dies ist umso eher begreiflich, als keiner von uns imstande ist, sich vorzustellen, wie irgendwelche Ordnung, und wäre es die Ordnung der Neuen Klasse, in einer Gesellschaft Bestand haben könnte, in welcher die gesamte Bevölkerung vom Joch der Schwerarbeit befreit wäre und an vollen 22 von den 24 Stunden des Tages uneingeschränkte Freiheit genösse. Man wird noch dahinterkommen, daß die Atomenergie im Dienst des Wohlstands ebensolche Schrecken auslöst wie der Atomkrieg.

Man kann sich nie genug vor der Illusion hüten, die Dinge entwickelten sich logisch und geradlinig. Seit einem Jahrhundert wird von allen Seiten die dialektische Terminologie mißbraucht, doch ist die Zahl derer, die den dahintersteckenden Sinn erfaßt haben, außerordentlich gering. Betrachten wir das Los der Demokratie. Ihre Aufgabe wäre es, die Rechte der Gesellschaft gegen die zentralisierende Raffsucht des Staates zu verteidigen. Sie müßte also logischerweise eine Ordnung erfordern, welche die Machtkonzentration auf ein Minimum reduziert. Damit die Demokratie jedoch den bedürftigsten Schichten der Gesellschaft — deren politische Ausdrucksform sie ist — immer umfassenderen sozialen Schutz gewährleisten kann, drängt sie zur staatlichen Machtkonzentration und arbeitet somit auf ihre Selbstvernichtung hin. Die soziale Demokratie erstickt die politische Demokratie.

Hier ist von Grundsätzen die Rede und nicht vom wechselnden Wahlglück der Parteien oder der Männer, die sich als demokratisch bezeichnen. Eine Gesellschaft, die imstande wäre, sich selbst durch eine Vielfalt freier, auf Gegenseitigkeit beruhender Zusicherungen sozialen Schutz zu gewähren, könnte das Ei des Columbus sein und dem demokratischen Prinzip der Selbstregierung nützen. Jene mittelmäßigen Volksvertreter aber, die dem Staat Götzendienst leisten, würden davon keinen Nutzen haben.

Ich bin in Süditalien zur Welt gekommen und groß geworden. Als ich das erste Mal Gelegenheit hatte, über die Lage der Menschen in einem reichen Land mit verbreitetem Wohlstand nachzudenken, war ich ein erwachsener Mann. Ich stand gerade am Anfang meiner Karriere als Schriftsteller. Das war um 1930, zu Beginn meines langen Exils, das ich in den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz verbrachte, zu jener Zeit, da ich an „Fontamara“ zu schreiben begann. Man wird sich schwerlich einen ärgeren Gegensatz vorstellen können als jenen, der zwischen den gesellschaftlichen Gegebenheiten meines Gastlandes und dem Thema meiner ersten Erzählung bestand: dem Elend und der Unterdrückung der Bauern im süditalienischen Dorf. In meinem Gastland erlebte ich Formen einer direkten Demokratie, die einzigartig in Europa sind. Die Not war zwar nicht gänzlich beseitigt, aber seit geraumer Zeit auf Ausnahmsfälle beschränkt.

Der Umgang einiger Schweizer, mit denen ich mich bald angefreundet hatte, ließ mich diesen Gegensatz verschärft wahrnehmen. Meine Freunde — Künstler, Ärzte, Architekten, Pastoren und Handwerker — gehörten verschiedenen gesellschaftlichen Schichten an, sie vertraten auch verschiedene politische Ideologien, gleichwohl waren ihnen allen gewisse typisch helvetische Eigenschaften gemeinsam, die der Tourist zumeist nicht bemerkt, da sie sich hinter einer instinktiven, bisweilen sogar borstigen Nüchternheit und Abneigung gegen jede Art von Exhibitionismus verbergen. Mit einigen verband mich die gemeinsame Trauer um den „Gott, der keiner war“, mit den anderen das gemeinsame Bemühen, über die verschiedenen Bekenntnisse hinweg die christliche Moral auf die Geschichte unserer Zeit anzuwenden. Die Solidarität mit den Verbannten war für diese Schweizer die Folge ihrer Abneigung gegen alle diktatorischen Regime; dies hielt sie jedoch nicht davon ab, die Fehler der eigenen Mitbürger offen und scharf zu kritisieren.

Von Heimweh und politischer Leidenschaft gedrängt, bemühte ich mich also um die Geschichte meiner armen süditalienischen Bauern: es ging mir dabei um die Darstellung des vielfach tragischen, gelegentlich aber auch grotesken Zusammenstoßes ihrer noch halbfeudalen Gedankenwelt mit den neuen Formen der Ausbeutung und Tyrannei. Zugleich aber betrieben meine Schweizer Freunde eine nicht minder scharfe Kritik an der geistigen Dekadenz ihres Landes. Sie warfen vor allem den Bewohnern der reicheren Kantone vulgären Hedonismus, geistige Stumpfheit, merkantilistischen Neutralismus, technokratische Verblendung und die aus alledem resultierende Langeweile vor. Ihre Jeremiaden unterstützten sie durch Ziffern aus den letzten Statistiken über Selbstmorde und Ehescheidungen, mit dem Hinweis auf die immer mehr um sich greifende Welle der Psychoanalyse in allen Gesellschaftsschichten, mit der Mittelmäßigkeit des künstlerischen und literarischen Schaffens, dem nicht einmal das generöse private und öffentliche Mäzenatentum zu höherem Niveau verhelfen konnte. Die häufigen Diskussionen mit den Freunden mündeten stets in die Frage, ob die von ihnen beklagte geistige Stagnation wirklich als Ergebnis des kollektiven Wohlstands anzusehen war. Durfte man — sofern dies zutraf — daraus schließen, daß auch jedes andere Land, sobald es diesen Wohlstand erreichte, dem gleichen geistigen Niedergang anheimfallen würde?

Für mich waren diese Fragen durchaus nicht müßig oder unerheblich. Trotzdem ließ ich mich nicht von dem abbringen, was ich in meiner Lage als die Pflicht eines freien italienischen Schriftstellers im Exil ansah. Im übrigen war ich der Meinung, daß die Probleme angepackt werden mußten, wie sie sich stellten, und daß wohl noch geraume Zeit vergehen mußte, ehe sich die Cafoni von „Fontamara“ mit den unangenehmen Seiten des Reichtums herumschlagen würden. Aber die bohrende Frage nach dem Zusammenhange von Massenwohlstand und Moral blieb mir gleichwohl im Ohr, und dies auch deshalb, weil sie — um es in meinem damaligen Jargon auszudrücken — bloß ein Aspekt der umfassenden Beziehung zwischen gesellschaftlicher Basis und geistigem Überbau zu sein schien und damit ein Thema berührte, welches im Mittelpunkt meines marxistischen Denkens stand.

Heute ist es gar nicht mehr möglich, die kritischen Stimmen zu überhören, welche vor den Gefahren einer auf allgemeinem Wohlstand begründeten Gesellschaftsordnung warnen. Es sind alarmierende Stimmen, die obendrein aus den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern kommen. Die Klage darüber, daß der allgemeine, für alle garantierte Wohlstand in diesen Ländern den geistigen Tonus des Gemeinschaftslebens herabgesenkt habe, wird nachgerade zu einem Gemeinplatz.

Es sieht so aus, als wiederholte sich alles, was den einzelnen Neureichen als lächerliche Gestalt erscheinen läßt, in schlimmerer Form bei dem zu Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit gelangten Gesamtvolke. Einkommen und Besitz dienen vor allem dazu, den aufgestauten Hunger nach leichten Vergnügungen zu stillen. Mit Einkommen und Besitz wächst der Hang zum Vulgären. Das sozialversicherte, einkommensgeschützte und wohlgenährte Volk wird uns als passives, langweiliges und gelangweiltes Wesen beschrieben, das ständig äußeren Anreizen unterworfen ist und ohne diese auch nicht auskommen kann. Sein Gedächtnis schwindet. Es wird unfähig, Einsamkeit und Besinnlichkeit zu ertragen. Man hat auch keine Freundschaften mehr, sondern nur noch Beziehungen. So bietet uns die Wirklichkeit in einer Zeit, da die Philosophen den Hegelschen Begriff der Entfremdung wiederentdeckt haben, das Schauspiel von Menschen, die am äußersten Extrem dieser Entfremdung angelangt sind.

Der technische Fortschritt hat Maschinen geschaffen, die dem Menschen ähnlich sind. Die parallel verlaufende gesellschaftliche Entwicklung hat ihrerseits Menschen hervorgebracht, die den Maschinen ähnlich sind. Der Einwand, es habe zu jeder Zeit uniforme Massen, Moden und Verrücktheiten gegeben, ist richtig. Aber die Großindustrie verschlimmert das alles. Sie produziert es in Serie, nicht anders als die Konsumartikel. Die in die Produktion von Autos, Schallplatten, Lebensmittelkonserven oder Kleidern investierten hohen Kapitalien erfordern, daß man den Absatz nicht dem Zufall überläßt. So werden die Wünsche der Konsumenten vorsorglich gereizt und gelenkt. Die wohlhabende Gesellschaft, was immer auch ihr politisches Regime sein mag, neigt dazu, ihr Funktionieren einer Kaste von anonymen und gut bezahlten, ebenso leistungsfähigen wie gefügigen Bürokraten anzuvertrauen. Das Bild gemahnt an die Karikatur, die der Liberalismus noch vor ein paar Jahrzehnten von der sozialistischen Zukunftsgesellschaft zu entwerfen pflegte. In den Gesundheitsstatistiken würden die Todesopfer der Langeweile, so meinte man damals, an die erste Stelle rücken. Daraus ließe sich der Schluß ziehen, daß die von der Großindustrie geschaffene Gesellschaft des Überflusses sich zu einer Karikatur auszuwachsen droht, die alle Nachteile des Sozialismus aufweist, ohne auch dessen Vorteile zu bieten.

Solche Bilanzen darf man jedoch nicht hinnehmen, ohne Inventur gemacht zu haben. Zunächst muß festgestellt werden, daß viele Mißverständnisse darauf beruhen, daß drei grundverschiedene Begriffe verwechselt werden: die Wohlstandsgesellschaft, der Wohlfahrtsstaat und die Massenzivilisation. Jeder dieser drei Begriffe entspricht einem anderen Tatbestand, und obendrein existieren diese Tatbestände nicht immer und nicht notwendigerweise nebeneinander. Wollte man die Fehler des Wohlfahrtsstaates und der Massenzivilisation allein dem Wohlstand ankreiden, wäre dies zumindest eine falsche Verallgemeinerung.

Der Wohlfahrtsstaat ist Teil einer viel umfassenderen Erscheinung unserer Zeit, nämlich des Etatismus. Die Ursachen des Etatismus sind vielfältig und greifen weit über die Grenzen der wohlhabenden Staaten hinaus. Ein Staat bezeichnet sich dann als Wohlfahrtsstaat, wenn er die Verpflichtung übernimmt, jenen Teil der Bevölkerung zu unterstützen, der sich nicht selbst mit dem Lebensnotwendigen versorgen kann: die Alten, die Kranken, die Invaliden, die Arbeitslosen, die Opfer von Naturkatastrophen. Jedermann mag sich diese jüngste Entwicklung des Staates nach eigenem Gutdünken und persönlicher Vorliebe erklären: als Ergebnis des Prinzips christlicher Nächstenliebe, als Resultat des sozialistischen Postulats von der gesellschaftlichen Verantwortung oder schließlich als weise Vorsichtsmaßnahme, die dazu bestimmt ist, Störungen der öffentlichen Ordnung abzuwenden. Die Tatsache, daß es den Wohlfahrtsstaat gibt und daß er weit verbreitet ist, beweist jedenfalls hinlänglich, wie sehr er einer Notwendigkeit entspricht. Der Staat korrigiert die gefährlichsten Ungleichheiten der Einkommensverteilung, er sorgt dafür, daß sich die Unzufriedenheit der ärmsten Schichten nicht zur Verzweiflung steigert und in Revolten entlädt.

Es ist klar, daß wohlhabende Länder größere Geldmittel für soziale Leistungen aufwenden können. Anderseits ist die Hilfe des Staates gerade dort nicht immer erforderlich, wo der Wohlstand breit gestreut und das Wirtschaftsleben hinreichend gesund und dynamisch ist. Das Eingreifen des Staates wird jedoch zur Notwendigkeit, sobald sich ärmere, in ihrer sozialen Entwicklung noch unreife Länder mit den Problemen des modernen Lebens konfrontiert sehen, und da spielt es auch keine Rolle, welche Partei gerade am Ruder ist. Es wäre falsch, wenn man annähme, daß der Wohlfahrtsstaat ausschließlich in demokratischen Ländern anzutreffen sei; er überwiegt heute auch in den Diktaturen, obgleich er dort bloß der Ersatz für die geraubte Freiheit ist. Der größte Unterschied zwischen den modernen Diktaturen und den konservativen Gewaltherrschaften der Vergangenheit besteht gerade darin, daß die Diktaturen gezwungen sind, den Sozialismus nachzuäffen. Das Paradoxon ist jedoch nicht neu. In Sparta war die öffentliche Wohlfahrt höher entwickelt als in Athen. Sogar die berüchtigten drei F der bourbonischen Regierungskunst im Königreich Neapel und Sizilien, „Feste — Farina — Forche“ (Feste, Brot und Galgen) lassen sich als eine der vielen möglichen Interpretationen des Wohlfahrtsstaates auffassen.

Die Sozialversicherung ist in immer mehr Ländern zu einer der wichtigsten Aufgaben des Staates geworden. Der Staat ist heute nicht mehr, wie noch vor fünfzig Jahren, ein „Nachtwächter-Staat“, einzig um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung besorgt. Keine Partei kann es sich heute leisten, die Armut zu ignorieren, mag dies der von ihr verfochtenen Wirtschaftslehre noch so widersprechen. Das umfassendste Wohlfahrtssystem, das heute in Europa praktiziert wird, das englische, geht als Plan auf den Liberalen Beveridge zurück. Bezeichnenderweise ist es heute unerheblich, aus welchen Motiven man sich zum Wohlfahrtsstaat bekennt, ob aus Philanthropie, sozialem Verantwortungsbewußtsein oder einfach aus Angst vor Ärgerem. Wesentlich ist allein die Tatsache, daß man ohne Wohlfahrtssystem nicht mehr auskommt.

Daraus haben sich bedeutende Veränderungen in der Beziehung zwischen Bürger und Behörde ergeben. Viele Mängel, die man gemeinhin der wohlhabenden Gesellschaft ankreidet, sind in Wirklichkeit typische Produkte des Wohlfahrtsstaates und treten auch in armen Ländern auf, vor allem dort, wo die soziale Fürsorge den Charakter des bürokratischen Paternalismus annimmt. Aus dem befürsorgten Menschen wird nur zu leicht ein anmaßendes, faules Wesen. Von den vielen Ruinen der letzten Jahrzehnte ist der korrumpierte menschliche Charakter gewiß nicht die ungefährlichste. Wer mit armen Leuten zu tun hat, weiß davon ein Lied zu singen.

Als ich noch jung war, bestand in meinem Heimatdorf, Pescine dei Marsi in den Abruzzen, eine „Gesellschaft zu gegenseitiger Hilfeleistung“, ein bescheidenes Unternehmen, das gleichwohl gedieh. Die Gesellschaft zählte nur wenige Mitglieder, zumeist kleine Grundbesitzer und Handwerker, denen auf familiärer Basis erholsame Freizeitgestaltung geboten wurde. Was ihre soziale Aufgabe betraf, so hatte sie auch in Fällen erwiesener Notlage mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, wenn sie ihre Unterstützungsgelder an den Mann bringen wollte. Viele Mitglieder weigerten sich — aus angeborenem Stolz oder Schamgefühl —, die ihnen nach Krankheit oder anderen Unglücksfällen zustehende Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich erinnere mich daran, daß einige Leiter der Gesellschaft einmal im Haus meiner Familie zusammenkamen, um darüber zu beraten, auf welche diskrete Art man den Widerstand derer, die sich nicht helfen lassen wollten, am ehesten überwinden könnte. Dieses Gefühl der Scham hatten wir auch, als wenige Tage nach dem Erdbeben, das 1915 das Dorf verwüstete, aus allen Teilen Italiens Menschen kamen, um uns zu helfen. Gewiß, wir waren gerührt, noch viel mehr aber waren wir durch dieses völlig neue, unvorhergesehene Geschehen überrascht, denn die Tradition hatte uns gelehrt, daß die Überlebenden solcher und ähnlicher Katastrophen zunächst ihre Toten beerdigen und dann zusehen sollen, wie sie selbst mit dem Unglück fertig werden. Es war eine harte Tradition, die nicht verdient, daß man ihr eine Träne nachweint. Und doch: dank dem Erdbeben, dem Eingreifen der staatlichen Baubehörde und anderen Schicksalsschlägen ist das Dorf dann zu einem Paradies des Wohlfahrtsstaates geworden; wenn sich heute nach einem ausgiebigen Regen vor einem Haus eine Pfütze bildet, dann greift der Besitzer nicht — wie es sein Vater getan hätte — zur Schaufel, um das Malheur zu beheben, sondern er schreibt einen Brief an den Abgeordneten des Wahlkreises.

Die Rolle, welche die staatliche Hilfe in der Ideologie des Wohlfahrtsstaates spielt, ist noch nicht genügend erforscht. Das Ausmaß der staatlichen Zuwendungen — sie sind ja vor allem, wenn die Empfänger kleine Leute sind, recht bescheiden — kann die zähe Verbissenheit nicht erklären, mit der man ihnen nachjagt. Und manches bleibt überhaupt unfaßbar, wenn man nur den ökonomischen Beweggrund ins Auge faßt.

Im Frühjahr 1944 wurden in einigen Gemeinden südlich von Rom bei der Ankunft der marokkanischen Einheiten des französischen Heeres alle Frauen, die nicht rechtzeitig in die Berge geflüchtet waren, „marokkanisiert“, wie man seit damals zu sagen pflegt, und zwar ohne Rücksicht auf Alter und Aussehen. (General Juin, der Oberkommandierende des französischen Expeditionskorps in Italien, wurde damals vom Papst in Audienz empfangen, wobei sich dieser unter anderem darüber beschwerte, daß die Soldaten, welche die armen Frauen geschändet hatten, straffrei geblieben waren. Der General klärte den Papst darüber auf, daß die nordafrikanischen Soldaten nicht bestraft werden konnten, weil der französische Kriegskodex den farbigen Truppen das Recht auf Schändung und Plünderung einräumt.) Der Staat konnte den unglücklichen Opfern der Marokkaner nicht mehr als eine bescheidene Hilfe bieten. Dennoch erhoben viele Frauen darauf Anspruch, von denen jedermann wußte, daß sie zur kritischen Zeit das Glück gehabt hatten, sich in Sicherheit zu befinden. Der ungewöhnliche Betrugsversuch wurde von den Zeitungen zunächst wohl vermerkt, doch umhüllte man den Skandal — offenbar aus falschverstandenem Lokalpatriotismus — bald mit dem Mantel wohlwollenden Schweigens. Trotzdem scheint mir die Episode wert, in den Annalen der öffentlichen Fürsorge verzeichnet zu werden. Wie war es möglich, daß Frauen und Mütter in einem Gebiet, in dem die Blutrache zur Wiederherstellung der weiblichen Ehre heute noch gang und gäbe ist, Vergewaltigungen einfach erfanden und zur Dokumentierung ihrer betrügerischen Hilfsansuchen sich diese Schande von den Verwandten durch falsche Zeugnisse bestätigen ließen? Armut reicht zur Erklärung nicht aus, denn die einmalige Hilfe war lächerlich gering (5.000 bis 6.000 Lire) und wurde wahrscheinlich vom Aufwand für die erforderlichen Papiere und den unvermeidlichen Advokaten aufgezehrt. Anderseits wären die gleichen Menschen unter anderen Umständen gern bereit gewesen, viel höhere Summen zu opfern, um sich ihren guten Ruf zu erhalten.

Die einzig gültige Erklärung ist meiner Ansicht nach in jenem neuartigen Verhältnis zu suchen, das der bürokratische Paternalismus zu seinen Bürgern hergestellt hat. Das normale seelische Gleichgewicht geht verloren, sobald man hört, daß staatliche Hilfe zu haben ist, gleichgültig in welcher Höhe und zu welchem Zweck.

nächster Teil: Vom Schrecken des Wohlfahrtsslaates (...)
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