FORVM, No. 169-170
Januar
1968

Vom Ungenügen der Wissenschaft

(II.)
voriger Teil: Vom Ungenügen der Wissenschaft

In der idealistischen Dialektik Hegels ist das Ziel der „Aufeinanderfolge“ der historischen Gestalten und Schicksale gemäß dem Schlußstück der „Phänomenologie des Geistes“ das absolute Wissen, „die Offenbarung der Tiefe, und diese ist der absolute Begriff“. [6] In dem Augenblick, da die Wahrheit in ihrem Wesen als Gewißheit bestimmt und das absolute Selbstbewußtsein zum Prinzip des Denkens schlechthin gemacht wird, muß die Philosophie zur Wissenschaft erhoben und, wie es schon in der Vorrede jenes Werkes heißt, „das wissenschaftliche System“ zur Existenzweise der Gestalt der Wahrheit erklärt werden.

In der „Wissenschaft der Logik“ hat Hegel für seine Auslegung des sich selbst pro-duzierenden Denkens den systematisch-spekulativen Grundriß gegeben. Der Einheitsgrund der Wissenschaften ist demgemäß in einem metaphysisch unüberbietbaren Anspruch der Begriff als „die letzte Gestalt des Geistes“ im Sichselbstdenken des absoluten Wissens. Der leibhaftige, geschichtlich bedingte Mensch ist in der dialektischen Dynamik dieses Wissens und dieser Wissenschaft nur ein Moment des sich selbst wissenden und sich im Modus der Entäußerung und Negation zu sich selbst vermittelnden Geistes. Die Grundbewegung der Geschichte ist dann schließlich nichts anderes als die sich vollendende Erhebung des Seins in das Sichselbstdenken des Geistes als der absoluten Wirklichkeit.

Hegels titanischer Versuch der spekulativ-begrifflichen Versöhnung der Gegensätze und Widersprüche des menschlichen Daseins und seiner Geschichte ist unmenschlich, weil es das Menschsein im „reinen Element des Denkens“ nicht gibt. Die volle menschliche Wirklichkeit wird einem Gedankensystem geopfert und der Mensch sich selbst entfremdet. Marx hat deshalb schon in seiner „Heiligen Familie“ Hegels Idealismus scharf kritisiert:

Weil Hegel hier das Selbstbewußtsein an die Stelle des Menschen setzt, so erscheint die verschiedenartigste menschliche Wirklichkeit nur als eine bestimmte Form, als eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseins. Eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins ist aber eine ‚reine Kategorie‘, ein bloßer ‚Gedanke‘, den ich daher auch im ‚reinen‘ Denken aufheben und durch reines Denken überwinden kann. In Hegels Phänomenologie werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewußtseins stehengelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Welt, die sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein ‚Gedankending‘, in eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nun auch im ‚Äther des reinen Gedankens‘ auflösen kann. Die Phänomenologie endet daher konsequent damit, an die Stelle aller menschlichen Wirklichkeit das ‚absolute Wissen‘ zu setzen — Wissen, weil dies die einzige Daseinsweise des Selbstbewußtseins ist und weil das Selbstbewußtsein für die einzige Daseinsweise des Menschen gilt — absolutes Wissen, eben weil das Selbstbewußtsein nur sich selbst weiß und von keiner gegenständlichen Welt mehr geniert wird. Hegel macht den Menschen zum Menschen des Selbstbewußtseins, statt das Selbstbewußtsein zum Selbstbewußtsein des Menschen, des wirklichen, daher auch in einer wirklich gegenständlichen Welt lebenden und von ihr bedingten Menschen zu machen. Er stellt die Welt auf den Kopf und kann daher auch im Kopf alle Schranken auflösen, wodurch sie natürlich für die schlechte Sinnlichkeit, für den wirklichen Menschen bestehen bleiben. [7]

Marx hat also schon sehr früh den abstrakten, rein logisch-spekulativen Versuch Hegels, das Menschsein und die Bewegung der Geschichte begrifflich zu fassen und aufzuhellen, erkannt und die Rückwendung zur Erfahrung und Auslegung der Menschlichkeit des Menschen und seiner Welt gefordert. Die menschliche Wirklichkeit kommt erst wieder in den Blick, wenn sich die Philosophie selbst von der Spekulation zur Praxis kehrt. Was dies näherhin heißt, formulierte Marx in der zweiten seiner Thesen über Feuerbach:

Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit um die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens, das von der Praxis isoliert ist, ist eine rein scholastische Frage.

Spekulation der Forschung

Weil der Mensch ein weltlich-geschichtliches Wesen ist, ist die Wahrheits- und die Sinnfrage auf dem Boden der Welt und der Geschichte zu entscheiden und nirgends sonst. „Wahrheit an sich“ und unabhängig vom Menschen ist ebenso sinnlos wie das „reine Sein“ der Metaphysik. Dieselbe Folgerung zieht Marx 1845:

Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses des Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten. [8]

Die Philosophie verschwindet deshalb keineswegs, und Marx will in keiner Weise einer gleichsam „geistlosen“ Existenz oder einem besinnungslosen Aktivismus das Wort reden; ihm kommt es vielmehr darauf an, die Selbstentfremdung des Menschen rückgängig zu machen und den Dualismus zwischen Philosophie und Leben aufzuheben. In diesem Sinne verliert dann „die selbständige Philosophie mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium“. In der Konsequenz dieses auf die menschlich-geschichtliche Bewährung der Wahrheit des Menschseins gerichteten Denkens liegt es auch, daß Marx bereits 1841 in seiner Dissertation jene Worte des Prometheus gegenüber dem Götterdiener Hermes aus der Tragödie des Äschylus zitiert, in welchen er voll Trotz auf seinem Eigensinn beharrt, ohne an Unterwerfung und Reue zu denken.

Ernst Bloch bezeichnet in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ diese Haltung als „eine prachtvolle Hybris“; [9] er sieht sie zusammen mit dem Ende der gesamten bisherigen Religionsgeschichte und meint, daß der Satz von Marx: „Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender“ für immer stehen bleibe. Professor Bosnjak nimmt in seinen „Betrachtungen über die Praxis“ ebenfalls diesen Hinweis von Marx zum Anlaß, um die kämpferische Rolle der Philosophie zu verdeutlichen. [10]

Bevor wir uns aber zu fragen haben, inwiefern gerade der „Gefesselte Prometheus“ des Äschylus noch in eine ganz andere von Marx und Bloch nicht gesehene oder vergessene Dimension reicht, sei an Heidegger erinnert; in seinem „Brief über den Humanismus“ in streng thematischer Beziehung zu der von uns hier zu behandelnden Sache, nennt er Marx, und zwar als Beispiel für die Erfahrung der Heimatlosigkeit als eines Weltschicksals:

Was Marx in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück ... Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte der übrigen Historie überlegen. [11]

Im Widerspruch zu Hegel will Marx die wurzelhafte Einheit und Wahrheit des Menschseins in der Praxis des geschichtlichen Lebens wiederherstellen; insofern steht er dem näher, was der Mensch vor jedem Versuch einer spekulativen Durch-dringung des Gegebenen als Geschichte erfährt. Bedeutet nun aber die Rückkehr zum konkreten Handeln in der politisch-sozialen und profanen Welt durch den ausdrücklich vollzogenen Abschied von jeder philosophischen oder religiösen Transzendenz die Stillegung der Frage nach dem Sinn des Daseins und der Geschichte überhaupt? Anders gefragt: ist durch die Beschränkung der Wahrheit auf die Menschenwelt und ihre Produktionsverhältnisse gemäß dem Leitprinzip von Marx die Entfremdung beseitigt? Ist die Zukunft des Menschen gesichert, indem an die Stelle der Hegel’schen Weltvernunft die gesellschaftliche Praxis tritt, oder das, was Martin Buber im Hinblick auf Marx die „soziologische Reduktion“ genannt hat? [12]

Wir sind heute vorsichtiger in der Beantwortung solcher Fragen; nach den Erfahrungen, die der Mensch in den letzten Jahrzehnten mit sich selbst, seiner Komplexität und widerspruchsvollen Tiefe in den Wissenschaften, in der Krisis des philosophischen Denkens, in der Kunst und vor allem auf dem Feld der Weltpolitik gemacht hat, sind wir eher geneigt, die „soziologische Reduktion“ zu verneinen, obwohl es dabei bleibt, daß die Welt immer die Welt des Menschen ist. Aber wissen wir, was dies im Ganzen heißt? Oder fragen wir deshalb, weil wir es nicht mehr oder noch nicht wissen?

Zum Eigentümlichen der wissenschaftlichen Vorgangsweise gehört es, daß Wissenschaft immer mit schon Vorgegebenem zu tun hat. So hat die Naturwissenschaft die Natur zur Voraussetzung, die Staatswissenschaft den Staat in irgendeiner überlieferten oder gerade antreffbaren Konkretion. Die Voraussetzung der Kunstwissenschaft ist das Künstlerische und die Kunst in ihrem werkhaften Charakter, Sprachwissenschaft bedarf dieser oder jener geschichtlich ausgeformten Sprache, und Religionswissenschaft könnte es nicht geben ohne das Religiöse, das seinerseits das Göttliche voraussetzt, denn „nichts Religiöses ist ohne Offenbarwerden von etwas Göttlichem denkbar“. [13]

Demzufolge ist wissenschaftliches Tun immer von ursprünglicheren Existenzerfahrungen umschlossen, unabhängig davon, welches Verhältnis jeweils der Wissenschaft treibende Mensch zur Möglichkeitsbedingung seiner eigenen Wissenschaft hat und welchen Rang er dieser Beziehung in seinem Dasein einräumt. Daraus ergibt sich, daß die Wissenschaft schlechthin überfordert ist, wenn man von ihr verlangt, ihre eigene Wesensherkunft zu bestimmen.

Die hier gestellte Frage reicht also auf das Menschsein im Ganzen zurück, das sich selber angesichts seiner Sterblichkeit fragwürdig bleibt — auch überall dort, wo die Metaphysik und ihr Vorstellen und Begreifenwollen nicht mehr die maßgebende Denkweise ist, oder dort, wo sie mit im Spiele bleibt, wenn alles Seiende nach den Kategorien der Dialektik als das Material der Arbeit erscheint und dadurch gerade im Gegenzug zum spekulativen Idealismus Hegels noch einmal eine metaphysische Bestimmung des Seienden im Ganzen gegeben wird.

Unmenschliche Philosophie

Alldem zufolge wird die Vorläufigkeit der Wissenschaften nicht durch die Endgültigkeit des Menschseins aufgehoben oder in ihm nun fraglos verwurzelt, sondern der Mensch selbst ist als notwendig fragendes und in Frage gestelltes Wesen vorläufig; er kann angesichts seiner Endlichkeit nicht selbst das unangreifbare Ziel der Geschichte sein. Ideen, Ideale, philosophische Prinzipien sind Wegzeichen, nicht aber Fundamente des menschlichen Daseins, und eine Geschichtsphilosophie, die darüber hinwegsieht, ist dazu verurteilt, schon im Ansatz unmenschlich zu sein. Aber staunen wir auch genug darüber, daß der Mensch die Hoffnung auch in der Erfahrung seiner grenzenlosen Fragwürdigkeit nicht verliert und von Generation zu Generation im Sinnkreis ihres geheimnisvollen Lichtes bleibt? Wo die Hoffnung sich ihrer äußersten Gefährdung stellt und ihr nicht ausweicht, nämlich gegenüber der Endlichkeit der Existenz, ist sie am stärksten und unwiderlegbarsten. Diesem Sachverhalt hat Ernst Bloch im zweiten Band seiner „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ Ausdruck gegeben, wenn im letzten Kapitel „Nützliches Maß fürs und durchs Ultimum“ die Frage auftaucht, woran sich denn der Mensch schließlich und endlich halten könne:

Kann ein jeweils Einzelner so herausgelassen sein, wie es ihm vorkommt? Er selber steht immer im Schnittpunkt zwischenmenschlicher Beziehungen, und sind diese dürr oder schal geworden, dann spiegelt das austretende, gar ausgetriebene Ich über die Hälfte diese, nicht sich selber. Und könnte es weiter eine Leere, eine Losgelassenheit, eine disparate, gar absurde Schranke auch noch spüren, wenn keine Bewegung in ihm wäre, die an die Schranke stößt? Die sie dadurch implizite auch mehr überschreitet, als es der schalen Zufriedenheit lieb ist, wie sie im Westen ohne Experimente, im Osten mit ungelungenen Experimenten verordnet wird? Die Akte des Überschreitens selber lassen sich jedenfalls nicht nihilisieren, nicht einmal dort, wo die härteste Gegenutopie: der Tod jedes irdische Dunkel so unermeßlich überbietet, unterbietet. [14]

Die Wissenschaften sind ein Stück der geschichtlichen Selbstauslegung des Menschen in der erscheinenden und uns begegnenden Dreigestaltigkeit des Vor-gegebenen in Natur, Sprache und Geschichte. Sie haben heute durch die Technik und ihre Denkweise weltgeschichtliches Ausmaß angenommen, ohne die Reichweite des menschlichen Fragens jemals zu erschöpfen. Je größer die unmittelbar greifbare Wirkung der Wissenschaften in diesem Prozeß der vollständigen Europäisierung der Welt wird, um so notwendiger ist es, die Kräfte der Besinnung für die Erfahrung der Einheit und Ganzheit des Menschseins in seiner Vorläufigkeit zu wecken.

Dafür ist die dramatische Sage vom Prometheus im Zeitalter der Wissenschaften, das die Atombombe und die Möglichkeit zur Raumfahrt eröffnet hat, beileibe mehr als ein Symbol. In Prometheus spricht sich ein Weltverhältnis, ein ganzer Weltzustand aus. Mit dem Feuerbringer und Wohltäter der Menschheit beginnt die Geschichte der die Welt verändernden Wissenschaft. Er, der selber aus der Familie der Götter stammt, hat die Sterblichen, von denen es heißt: „Mit sehenden Augen sahen sie nicht, mit hörenden Ohren hörten sie nicht, wie Ameisen hausten sie in sonnenlosen Höhlen“ — aus ihren Träumereien aufgeweckt und sie „geistesmächtig und bewußt“ werden lassen.

Der wahre Prometeus

Prometheus rühmt sich bei Äschylus seiner tausendfachen Kunstgriffe und Erfindungen: der Beherrschung des Meeres, der Deutung des Auf- und Niedergangs der Sterne, der Entdeckung der Zahl und der gespeicherten Kraft geschriebener Zeichen; er nennt die Heilkraft der Arznei, Traumdeutung und Wahrsagung und die Hebung der im Schoß der Erde verborgenen Reichtümer als sein Werk und seine Tat. Aber er ist in alledem und durch dies alles hindurch, also ohne jegliche Zurücknahme oder nachträgliche Verleugnung des eigenen Schöpfertums und seines erfinderischen Geistes, nicht nur als von Zeus Geschlagener und unsagbar Leidender durch einen Abgrund von denen entfernt, die aus ihm in der Neuzeit ein Idol nur menschlicher Selbstbehauptung gemacht haben; Prometheus ist, indem er sich als göttlichen Träger des Menschentums weiß, dennoch der Moira, dem Geschick unterworfen. [15]

Er spricht diese allerletzte Erfahrung unmittelbar nach der großen Selbstvorstellung seiner Taten und Werke gegenüber der Chorführerin aus, als sie ihn auffordert, er möge sich nun um das eigene Leid kümmern, nachdem er den Menschen mehr als genug geholfen habe. Darauf spricht Prometheus die denkwürdigen Worte: „Nicht hat die Moira so, die allvollendende, mein Los geordnet. Nein, von tausendfachem Leid Und Schmerz gebrochen geh’ ich einst aus dieser Haft. Verstand, weit schwächer ist er als der Schickung Zwang.“ [16]

Hier müssen wir uns daran erinnern, was aus dem Wort „Moira“ im frühen Griechentum tönt. Es meint nach einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung von Karl Kerényi ein „Geschehen des Teilhabens“:

Hinaustreten kann man weder aus dem Geschehen, noch aus seinem Ergebnis, da kein Hinaustreten aus der Moira, dem ‚Teil‘, möglich ist. Das Höchste ist jedem eben dies: Das Teil, das ihm zuteil wird, sachlich zuteil, in der Form eines Geschehens, das auch so aufgefaßt werden kann, daß zu ihm eine aktiv Zuteilende gehört. Dieser aktive Aspekt ist jedoch im ‚Wort Moira‘ nicht enthalten. Ebensowenig in der mit ihm grammatisch zusammengehörenden Wortfamilie. Die Sache ist, daß es so geschieht. Wer den aktiven Aspekt in diesem Geschehen wahrnehmen will, muß sich der Mythologie, oder aber einer anderen Wortfamilie zuwenden. Dennoch ist die Moira, das Geschehen des Teilhabens am eigenen Teil, nicht gehaltlos und noch weniger konturlos. Sie — das heißt es — meint alles, was einem Menschen sein Leben ist, samt seinem Tode. [17]

Was aus dem Menschen, aus unserem Geschlecht, noch werden wird, hängt entscheidend davon ab, ob wir uns entschließen, das Menschlichste des Menschen, nämlich die freie Anerkennung der Unverfügbarkeit der letzten Dinge, ernst zu nehmen. Alles Andere, alles, was es an Widersprüchen und Gegensätzen in der menschlichen Existenz gibt, Empörung und Unterwerfung, Geist und Macht, Tyrannei und Freiheit, Abhängigkeit und Selbstbehauptung, Siegen und Besiegtwerden, Stolz und Erniedrigung, Wissen und Nichtwissen, Angst und Mut — liegt davor und ist selbst zuletzt nicht grenzbestimmend, sondern wird be-grenzt durch das dem Menschen in diesem Sinne Beschiedene und Zugeteilte.

Das Gemeinte können wir auch aus dem Munde eines Mannes vernehmen, der zu den verehrungswürdigsten Gestalten Jugoslawiens gehört. Ivo Andrić hat es 1963 in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm ausgesprochen:

Ein Mensch sein, geboren ohne unser Wissen und ohne unseren Willen, geworfen in den Ozean des Seins. Schwimmen müssen. Existieren. Die Identität mit sich selber tragen. Dem atmosphärischen Druck all dessen, was uns umgibt, standhalten, allen Zusammenstößen, allen nicht vorauszusehenden und nicht vorausgesehenen eigenen und fremden Handlungen, die zumeist nicht nach unseren Kräften bemessen sind. Und darüber hinaus auch noch unser Denken über das Ganze ertragen. Mit einem Wort: ein Mensch sein.

[6Ed. Hofmeister, S. 564.

[7Marx/Engels, Die heilige Familie, zitiert nach der Marx/Engels-Gesamtausgabe, Bd. I, 3, S. 370.

[8Die deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S. 16.

[9II. Band, Frankfurt 1959, S. 1429.

[10Praxis/Philosophische Zeitschrift, internationale Ausgabe, Zagreb 1965, S. 23.

[11Brief über den Humanismus, Frankfurt 1947, S. 27.

[12Das Problem des Menschen, Heidelberg 1954, S. 53.

[13Karl Kerényi, Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte, Göttingen 1961.

[14Band II, S. 174.

[15Wie aufklärerischer Leichtsinn nehmen sich angesichts der un-geheueren göttlich-menschlichen Dimension des äschyleischen Dramas die Versuche aus, Prometheus zum Symbol und Leitprinzip eines autonomen Daseins zu machen. Hier gilt, was Karl Reinhardt zur philosophisch und theologisch nicht auflösbaren Kontrapunktik in der Ursprungserfahrung des Äschylus gesagt hat: „Immer wirft er sich mit seiner ganzen Leidensfähigkeit, mit seiner ganzen Inbrunst auf die Seite derer, die der Götter Opfer werden. Und durchaus nicht jede Klage wird entkräftet. Das Kassandra-Schicksal bleibt ohne Versöhnung. Von denen, die Gott verklagt haben, um ihn zu rühmen, ist er einer der Gewaltigsten“ (zitiert nach: Äschylus als Regisseur und Theologe, Bern 1949, S. 72).

[16Zitiert nach der Übersetzung von Droysen, Stuttgart 1950.

[17Moira. Vom Schicksal nach griechischer Auffassung, in: Griechische Grundbegriffe. Fragen und Antworten aus der heutigen Situation, Zürich 1964, S. 56.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)