MOZ, Nummer 43
Juli
1989
10 Jahre Nicaragua:

Von der Hoffnung und den Zwängen

Vor genau 10 Jahren wurde der nicaraguanische Diktator Somoza gestürzt. Das „Neue Nicaragua“, das nach der Machtübernahme der Sandinisten als soziales Modell Hoffnungen erweckte, ist heute in die ökonomische Krise geraten. Über die Einschätzung von 10 Jahren Sandinismus lud die MOZ zur Diskussion:

Claudia von Werlhof, Professorin an der Universität Innsbruck und Autorin zahlreicher feministischer sowie entwicklungstheoretischer Bücher.
Leonhard Bauer, Professor an der Wirtschaftsuniversität in Wien.
Leo Gabriel, Journalist und Korrespondent der nicaraguanischen Nachrichtenagentur APIA.
Jochen Hippler, wissenschaftlicher Mitarbeiter der bundesdeutschen Grünen.
Das Gespräch führte Hannes Hofbauer.

von links nach rechts: Leonhard Bauer, Claudia v. Werlhof, Leo Gabriel, Jochen Hippler. Vorne: Hannes Hofbauer
Hofbauer: Vor zehn Jahren, am 19. Juli 1979, haben die Sandinisten den Diktator Somoza gestürzt und die Macht übernommen. Damals projizierte die europäische Linke viele Hoffnungen in das sandinistische Modell. Nach 10 Jahren gesellt sich zur Euphorie die Ernüchterung. Was ist dazwischen passiert?

Werlhof: Die Tatsache, daß ein Diktator gestürzt wird, ist noch kein Modell. Wir müssen uns fragen, was da eigentlich sofort als Modell identifiziert wurde.

Gabriel: Ein Modell war es sicherlich nicht für diejenigen, die den revolutionären Prozeß vorangetrieben haben. Im Gegenteil: Gleich nach dem 19. Juli 1979 auf der ersten Pressekonferenz haben die Sandinisten Schwierigkeiten mit der Definition ihrer Revolution gehabt, daß diese eben nicht dem kubanischen Modell folgt, sich nicht als marxistisch-leninistisch, nicht als sozialdemokratisch und nicht als basisdemokratisch definiert. Damals hat Tomas Borge (nicaraguanischer Innenminister) gesagt, daß Markenzeichen gut für Whisky-Flaschen, aber nicht für Revolutionen sind. Die sandinistische Revolution hat in ihrem gesamten Verlauf um ihre eigene Identität gerungen und ist nicht — was gleichzeitig Stärke und Schwäche war — von einem vorgegebenen Konzept ausgegangen. Das war auch gar nicht möglich, weil sich erst kurz vor der Revolution die drei wichtigsten Tendenzen der Sandinisten vereinigt hatten.

Hippler: Ein Teil des Mißverständnisses ist schon in der Frage angelegt. Die Formulierung, daß am 19. Juli die Sandinisten die Diktatur gestürzt haben, kommt mir doch ein bißchen grob vor. Das impliziert ja, als ob da sonst niemand beteiligt gewesen wäre. Wenn ich mich recht erinnere, dann gab es gerade damals eine relativ spontan entstandene Aufstandsbewegung in der Bevölkerung. Zu sagen, daß die Sandinisten am 19. Juli 1979 den Diktator gestürzt hätten, ist schon eine Mystifikation, und zwar eine, die gerade in der Solidaritätsbewegung von vielen Leuten geteilt worden ist.

Werlhof: In der Zeit, als ich in Zentralamerika gelebt habe, also Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, war Somoza noch voll an der Macht. Er war eigentlich der mächtigste Präsident Zentralamerikas. Gleichzeitig galt Nicaragua als besonders rückständig und feudal. Es war ganz klar, daß für das rückständige Nicaragua eine Modernisierung kurz bevorstand. Nur hatte niemand daran gedacht, daß Somoza gestürzt würde. Dann ist das geschehen, was als Revolution bezeichnet wird, wobei ich gar nicht weiß, wann so eine Revolution anfängt und wann sie aufhört.

Das Drama war, daß zumindest auf der ökonomischen Ebene Veränderungen im Sinne der Umverteilung von Produktionsmitteln eigentlich gar nicht stattgefunden haben.

Gabriel: Dem muß ich wirklich widersprechen. Die pglitischen Entscheidungen nach der Revolution entsprangen ja einem strategischen Konzept der Sandinisten. Dabei hat sich diejenige Tendenz durchgesetzt, die den größten gemeinsamen Nenner gesucht hat, sowohl in Bezug auf die innernicaraguanische Allianz mit dem Bürgertum als auch bezüglich liberaler Sektoren im Ausland. Natürlich gab es auch ein Konzept zur ökonomischen Umschichtung innerhalb der nicaraguanischen Gesellschaft. Man darf nicht vergessen, daß der Kampf gegen den Diktator Somoza, der ja ein sehr schwer zu beseitigender Brocken war, auch hieß, daß die Hälfte des Landes, das sich im Privatbesitz von Somoza befand, neu verteilt wurde. Diese Besitzungen gingen ins Volkseigentum über.

Werlhof: Staatseigentum.

Gabriel: Volkseigentum, das sage ich ganz bewußt, denn im Unterschied zu anderen Revolutionen hat es sich nicht nur um eine Verstaatlichung gehandelt. Zum Beispiel in der Landwirtschaft hat die Agrarreform den Bauern Land gebracht. „Poder Popular“ war von Anfang an die Devise der Sandinisten; ob es dann später funktioniert hat, ist eine andere Frage. Aber es hat bei dieser Revolution ein Erwachen gegeben, weil die Nicaraguaner im revolutionären Prozeß von Nichtpersonen zu Personen geworden sind. 1979 gab es eine breite, in manchen Belangen sogar zu diffuse Volksbeteiligung. Die Revolution war eher der Pariser Kommune vergleichbar als der russischen Revolution.

Leo Gabriel

Werlhof: Die Revolution selbst haben ja nicht nur die paar Sandinisten gemacht, sondern die Bevölkerung. Die Leute wollten den Somoza wirklich los sein, und die Sandinisten haben dabei eine bestimmte Rolle gespielt. Das, „Who is who“ der Revolution kann man nicht aus der Perspektive dieser kleinen organisierten Gruppe sehen. Fast alle Leute hatten sich an der Revolution beteiligt. Monimbo ist dafür ein gutes Beipiel.

Hofbauer: Was war in Monimbo?

Werlhof: Das war der Indianeraufstand in einem Vorort Masayas, 30 km von Managua. Diese Menschen haben interessante Formen des Widerstandes gegen die Somoza-Nationalgarde entwickelt. Sie hatten keine Waffen, bauten Fallen und besaßen ein bestimmtes Informationssystem, das den ganzen Vorort ständig auf dem laufenden hielt. Solche Formen des Widerstandes hat es überall gegeben. Nur wurden diese Phänomene in der europäischen Solidaritätsbewegung nie wirklich ernst genommen, weil immer auf die bewaffneten Sandinisten gestarrt wurde. Ich glaube, daß viele dieser Volks-Widerstandsformen gar nicht bekanntgeworden sind. Es wurde nie darüber diskutiert, auf welcher Grundlage diese Revolution vonstatten ging. Weil sich aber die Revolution als politische manifestiert hat, ist meine These, daß es sich eher um eine Modernisierung als um eine soziale Revolution gehandelt hat. Die Hälfte des Landes, die Somoza besaß und die ihm abgenommen wurde, ist ja gerade nicht in die Hände des Volkes gelangt sonst würde doch jetzt in Nicaragua niemand hungern. Die Produktionsmittel sind auch im Zuge der Ereignisse des Jahres 1979 nicht an die Menschen zurückgegeben worden. Das ganze Drama der Agrarreform ist ja in demselben industrialisierenden Schema verlaufen wie überall sonst in Lateinamerika. Und erst viel später wurde Land an die nicaraguanischen Campesinos zurückgegeben, sodaß diese für sich selber sorgen konnten und nicht mehr abhängig waren von Löhnen, die es nicht gab, oder vom Geld, das inflationierte. Die ganzen Fragen von exportorientierter Wirtschaft, internationalen Krediten und IWF-Auflagen sind ja nur dann von Bedeutung, wenn die Bevölkerung nicht im Stande ist, sich ohne Geld, sondern einfach mit den Produktionsmitteln vor ihrer Haustür am Leben zu erhalten. Deshalb sage ich, daß hier in Wirklichkeit der Versuch einer Modernisierung, einer Monetarisierung der Wirtschaft stattgefunden hat und nicht unbedingt eine Revolution.

Claudia von Werlhof

Gabriel: Da muß man schon etwas mehr differenzieren. Das erklärte Ziel der sandinistischen Revolution war ja, die Wirtschaft von einem Exportbetrieb auf einen Selbstversorgungsbetrieb umzustellen. Es wurden große Ländereien, auf denen bis dato Baumwollfarmen bestanden, zur Nahrungsmittelherstellung verwendet. Auch alternative Technologien wie z.B. Windmühlen wurden eingeführt. Das erfolgte freilich in einem zentral verwalteten System. Wenn man weiß, daß es in Nicaragua keine Selbsthilfeorganisationen wie in anderen lateinamerikanischen Ländern gegeben hat, so mußte ja der Kopf dafür sorgen, daß zunächst einmal die Glieder geschaffen wurden.

Werlhof: Was ist denn der Kopf?

Gabriel: Der Kopf sind die sandinistischen Commandantes.

Man braucht ein gewisses Organisationsniveau, gerade nach einer totalen Veränderung. Wer sonst als die Sandinisten hätte die Einrichtungen für Gesundheitsposten und zur Nahrungsmittelverteilung schaffen sollen?

Bauer: Mir scheint die Sache anders zu liegen, als sie durch diese vorliegenden Muster erklärt wird. Diese Muster sind üblicherweise der französischen Revolution abgekupfert und in der Folge den diversen Interpretationen anheimgegeben. Im wesentlichen war die nicaraguanische Revolution ein sozialer Prozeß. Die Elemente zentraler Organisation im Lande Somozas sind offenkundig gerade zwischen 17. und 19. Juli liquidiert worden. Daß die Revolution überhaupt überlebt hat, ist ja dem geschuldet, daß die Somoza-Guardia weg war. Das war der große Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern. Immer wenn es so etwas gab wie eine Revolution, dann blieb meistens die Armee trotzdem übrig und konnte über kurz oder lang ihre alte Macht wiederherstellen. Und genau das ist in Nicaragua nicht passiert, weil mit der Auflösung der Guardia das einzige zentrale Machtmittel weg war.

Werlhof: Das ist doch gut.

Bauer: Das finde ich auch. Jetzt taucht das Problem auf, daß Menschen immer in machtverfaßten Gesellschaften leben. Wie soll sich ein relativ unterentwickeltes Land in einer Welt organisieren, die im Vergleich zu den chaotischen Prozessen der Revolution hoch organisiert ist?

Werlhof: Die Crux ist doch, daß jeder Staat seine Leute unter Kontrolle haben will und dafür die passenden Organisationsformen sucht und eben nicht die Bevölkerung, nicht die Bauern sich selber organisieren läßt. Und genau in diesem Widerspruch liegt der Unterschied von Revolution und modernisierendem Regime. Warum haben die Sandinisten das Land nicht den Bauern gegeben? Die wollten es doch!

Hippler: Das kann man zwar machen, aber es hat an und für sich noch keinen sozialrevolutionären Effekt. Nicht selten war in anderen Staaten Landverteilung an Bauern mit konservativer Zielsetzung verbunden. Du triffst natürlich damit eine Entscheidung über die wirtschaftliche Verfassung des Landes. Und wenn ich Dich, Claudia, eben richtig verstanden habe, dann hast du die sozialrevolutionär nicht weitgehende Politik der Sandinisten beklagt. Das, was Du allerdings jetzt einforderst, wäre eine grundlegende Entscheidung darüber, private Verfügungsgewalt über so grundlegende Variablen wie Landbesitz zu individualiseren und damit jede sozialistische Organisationsform zu erschweren.

Werlhof: Das ist die berühmte Geschichte: was ist Sozialismus? Der grundlegende Konflikt zwischen dem Staat und den Bauern ist doch, daß die Bauern keinen Staat brauchen, aber der Staat die Bauern braucht.

Bauer: Ob das nicht die Diskussion um Henne und Ei ist?

Werlhof: Wohl eher um Hahn und Ei.

Hippler: Das völlige Zerschlagen der Somoza-Nationalgarde als wichtigstem gegenrevolutionärem Faktor — so wie Leonhard Bauer das betont hat — ist meinem Eindruck nach nur scheinbar der Fall gewesen. Es ist zwar die Guardia zerschlagen worden, aber es hat sich ja später gezeigt, daß der wichtigste Faktor, der den revolutionären Prozeß behindern würde, nicht unbedingt die Existenz einer repressiven Armee sein würde. Man hätte schon vorher wissen können, daß wichtige gegenrevolutionäre Faktoren beispielsweise die Integration in Weltmarktstrukturen oder externe Einflüsse von Seiten der USA sind.

Hofbauer: Wieweit waren also diese äußeren Zwänge bestimmend für die zehn Jahre Sandinismus in Nicaragua?

Werlhof: Ich muß da noch etwas einwerfen zum Thema Weltmarktintegration. Wieso haben die Sandinisten die Schulden von Somoza überhaupt bezahlen wollen? Wieso haben sie nicht gesagt: Das geht uns nichts an?

Bauer: Das ist eben die Einfügung in eine internationale herrschaftliche Organisationsform. Dasselbe Problem gibt es ja heute in Argentinien. Dort ist es uns heute unmöglich nachzuweisen, wo die unheimlichen Mengen an ausländischen Krediten hingeflossen sind. Im Land sehen wir davon nichts.

Gabriel: Abgesehen davon hat Nicaragua diese Schulden nicht bezahlt. Sie haben nur erklärt, daß sie sie bezahlen werden.

Werlhof: Es ist diese Unterwerfung unter die internationalen Machtstrukturen, die ich so irrsinnig finde.

Hofbauer: Wieweit basiert diese Unterwerfung auf den Mechanismen eines internationalen Machtgefüges, dem auch ein sandinistisches Nicaragua nicht entrinnen kann? Und wie schaut die aktuelle Unordnung in Nicaragua aus, wie manifestiert sich die wirtschaftliche Krise?

Bauer: In ganz Zentralamerika verzeichnet man in den letzten zehn bis zwölf Jahren einen Rückgang des Bruttonationalproduktes pro Kopf zwischen 14% und 20%. In Nicaragua ist es ganz besonders arg, weil dieses Land schon traditionell besonders arm war und natürlich auch die Einwirkungen des Krieges ihr übriges taten.

Hofbauer: Was unterscheidet das sandinistische ökonomische Modell von dem eines beliebigen anderen kapitalistischen zentralamerikanischen Landes? Die nicaraguanische Wirtschafts- und Sozialpolitik orientiert sich aktuell ziemlich genau an den Auflagen des Internationalen Währungsfonds, wie sie weltweit „3. Welt“-Ökonomien bestimmen. Kürzungen im Sozialbereich, Preisfreigaben, Reprivatisierungen: Die Währungsreform ist im April 1988 gescheitert, die Inflationsrate liegt derzeit bei zigtausend Prozent ...

Bauer: ... jenseits des Faßbaren.

Hofbauer: Wo gibt’s da Unterschiede zu kapitalistischen Ländern?

Bauer: Bis zum Jahre 1988 — wie es im Augenblick ist, weiß ich nicht — hat in Nicaragua niemand an Hunger gelitten. Man hat nicht akzeptiert, wie z.B. in Honduras, daß es einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung gibt, der an oder unter der Grenze der Existenzmöglichkeit lebt. Das muß man zur Kenntnis nehmen. Im Vergleich dazu wachsen in Honduras, laut Daten der Weltgesundheitsorganisation, 50-60% der Kinder mit Phasen von wirklichem Hunger auf, mit dem Erfolg, daß die physische und intellektuelle Entwicklung dieser Menschen eine Katastrophe ist. Das gibt es in Nicaragua nicht.

Leonhard Bauer

Gabriel: Wenn man grob in eine Ökonomie der großen Bevölkerungsagglomerationen und eine Ökonomie der ländlichen Gebiete unterscheidet, so ist es eine Tatsache, daß es z.B. in Costa Rica oder in anderen kapitalistischen Ländern einen ständigen Warenfluß vom Land in die Stadt gibt. In Nicaragua ist dieser Fluß von Regierungsseite her unterbunden worden. Es gibt militärische Straßensperren, wo kein Bauer durchkommt, der sein Produkt zu teuren Preisen in der Stadt verkaufen will. Er muß seine Güter in der Umgebung zu Markte tragen, und so ist der Selbstversorgung der Bevölkerung Genüge getan. Daher ist auch in Nicaragua gerade in den entlegenen Gebieten die ökonomische Situation weitaus besser als in den Städten.

Bauer: Auch hat man einen Teil des Einkommens in Naturalien bezahlt, vor allem in industriellen Produktionsbetrieben und in der Verwaltung.

Gabriel: Was die gesamten sozialen Dienste betrifft, so ist Nicaragua in weitaus größerem Maße durchorganisiert als benachbarte Länder.

Bauer: Einer der Gründe dafür, daß die externen Organisationen so aggressiv auf das Land losgehen, liegt ja gerade darin, daß der Erfolg des sandinistischen Modells in den Jahren 1980-1982 beachtlich war, vor allem, was die Etablierung von Gesundheitszentren betrifft; und natürlich auch die erfolgreiche Alphabetisierungskampagne. Diese Vorbildwirkung war sicherlich ein Grund für die Aggressivität der externen Organisationen.

Hofbauer: Welche Strategie steckt hinter dem, was Sie „Aggression externer Organisationen“ nennen? Wenn es heute in Managua wieder Kinderarbeit und Hunger gibt, dann ist das ja — zynisch formuliert — ein Erfolg der US-Strategie, die jahrelang Boykott und Krieg gegen das kleine Land geführt hat.

Hippler: Meine These besteht darin, daß — unabhängig davon, ob die FSLN (Sandinistische Befreiungsfront) eine richtige oder eine falsche Politik betrieben hat oder hätte — die aktuelle Situation der Wirtschaft und auch das innenpolitische Klima stärker von externer Aggression als von Entwicklung im Land selber geprägt worden ist. Nicht von der Basisbewegung, nicht durch die sandinistische Führung, sondern durch den Krieg ist die Wirtschaft zerstört worden, durch den Krieg ist der Lebensstandard gesunken. Das ist natürlich kein Zufall gewesen, sondern Teil der Strategie, die Du angesprochen hast. Damit will ich keineswegs umgekehrt argumentieren, daß ohne den Krieg Nicaragua ein blühendes Paradies von Wohlstand und Fortschritt sein müßte.

Hofbauer: Und auf welche Kurzformel kann man die US-Strategie bringen, die die Entwicklung in Nicaragua verhindert hat?

Hippler: Die Strategie der USA bestand jedenfalls nicht darin, das Land militärisch zu erobern auch wenn das in Europa oft so diskutiert worden ist. Sondern die Strategie bestand darin, das, was interessanterweise auch die USA im Jahre 1979 als Modell von Revolution wahrgenommen haben — ich erinnere mich an das berühmte Zitat des US-Botschafters, daß Nicaragua ein positives Modell für Revolution sei —, zu beseitigen. Es galt, dieses Modell durch ökonomischen und militärischen Druck sowie wirtschaftliche Kriegsführung zu zerstören. Wenn man sich nur vor Augen hält, daß gelegentlich drei Flugzeugträger vor der nicaraguanischen Küste auf- und abschipperten, die — wie allgemein bekannt war — mit Nuklearwaffen bestückt waren. Das In-die-Luft-Sprengen von Brücken und Erdölvorräten ist sicherlich nicht geeignet, das Land militärisch einzunehmen, wohl aber dafür, die Wirtschaft zu zerrütten; und damit mittelfristig durch ökonomische Katastrophen die Bevölkerung von der politischen Führung zu trennen. Der Kern der Strategie der USA bestand darin, das Land ökonomisch in Trümmer zu legen, es zu destabilisieren, um dann seine politische Ausrichtung zu ändern. Das ist — leider — relativ erfolgreich gewesen.

Jochen Hippler

Gabriel: Hätten es die Contras wirklich darauf abgesehen gehabt, eine breitere Volksbewegung aufzubauen, mit der sie die Macht übernehmen hätten können — ich würde zwar bezweifeln, daß das je gelungen wäre —, dann hätten die Contras militärische und nicht zivile Ziele, angreifen müssen. Nach einer kurzen Vorlaufphase im Jahre 1982, in der die Contras tatsächlich versucht haben, mittels Dollarverteilungen und Propaganda die Bevölkerung auf ihre Seite zu bekommen, ist es sehr bald zur noch heute existierenden Strategie des Terrors gegen die Zivilbevölkerung gekommen.

Werlhof: Das Furchtbare ist ja gerade, daß sich diese äußeren Verhältnisse im Inneren fortsetzen. Viele Männer sind bewaffnet und tun auch nichts anderes mehr, als in Waffen zu gehen. Auf der ökonomischen Ebene tritt dadurch natürlich noch eine Beschleunigung der ohnehin bestehenden Krisentendenzen ein. Das sollte den Blick für die Notwendigkeit schärfen, etwas ganz anderes machen zu müssen. Eigentlich steht ja genau das überall auf der Tagesordnung. Die Leute erkennen zwar, daß das mit der Geldökonomie nicht funktioniert und das mit der industrialisierten Landwirtschaft erst recht nicht. Inzwischen fangen ja — z.B. in Mexiko — ganze Bewegungen damit an, etwas anderes zu machen und internationale Märkte und Geldabhängigkeiten zu verweigern.

Hofbauer: Leo Gabriel hat gemeint, daß derzeit in Nicaragua ähnliches passiert. Dort wird versucht, kleinere wirtschaftliche Kreisläufe zu etablieren, wenn auch nur aus der Notwendigkeit der Krise heraus.

Werlhof: Erst jetzt tritt offensichtlich ein Zwang ein, wirklich eine Revolution zu machen. Das hätte man aber schon vor zehn Jahren machen können, das wußte man schon damals.

Bauer: Realistisch gesehen kann eine revolutionäre Strategie nur sehr bedingt eine Politik kleiner Kreisläufe machen, weil eben die strukturellen Voraussetzungen bereits in Richtung Industriewelt gelegt sind.

Werlhof: Sicherlich. Aber gleichzeitig steht ja genau das überall auf der Welt zur Diskussion. Stichwort Industriewelt: Die Leute tun immer so — insbesondere die städtischen Mittelschichten —, als müßten sie auf diesem Weltniveau leben. Und es zeigt sich immer mehr, daß das nicht geht und auch nicht der Realität entspricht. In Nicaragua ist dieser Prozeß jetzt beschleunigt worden. Die sehen heute schon das Bild der Zukunft auf sich zukommen. Und das ist nicht die Industriewelt.

Hippler: Auf Grund des Krieges hat sich die Krise zugespitzt. Gleichzeitig haben aber die Kriegsfolgen die Möglichkeit, nach vorne weisende, neue gesellschaftliche Konzepte zu entwickeln, vermindert. Wenn man das Land in Trümmer legt, dann bringt man vielleicht die Notwendigkeit, kreativ zu denken, stärker hervor, man reduziert aber die Mittel, es zu tun. Das ist doch das Dilemma, in dem sich das Land jetzt befindet.

Hofbauer: Dort, wo Du, Claudia, zuerst den Widerspruch postuliert hast, nämlich daß es in Nicaragua keine Revolution, sondern eine Modernisierung gegeben hätte, stellen wir jetzt fest, daß von Modernisierung nicht gesprochen werden kann, wenn ein Land nach einem Krieg in Trümmern liegt.

Gabriel: Die nicaraguanische Ökonomie hat sich auf einem Überlebensniveau eingependelt, weil die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht an importierten Komsumgütern partizipiert. Dadurch hat sich eine Art von alternativer Wirtschaftsstruktur herausgebildet. Heute bauen sich z.B. die Leute auf den noch vom Erdbeben 1972 herrührenden offenen Flächen Managuas ihre eigenen Nahrungsmittel an, mitten in der Stadt. Das ist ja ein relativ selbstverwaltetes System geworden. Vielleich nicht so sehr, weil die Regierung das gewollt hat, sondern weil sie nicht in der Lage war, diese zentral verwalteten Systeme aufrechtzuerhalten.

Hofbauer: Wenn aus der ökonomischen Krise heraus Selbstverwaltung erzwungen wird, würde das ja heißen, daß das, was sich die USA vielleicht 1979 erhofft haben, nämlich eine Modernisierung der Ökonomie, oder das, was der Entwicklungstheoretiker André Gunder Frank einmal in einem Interview gesagt hat, nämlich, daß die Sandinisten keine andere Wahl hätten, als die Herstellung einer geräumigen Ökonomie für ausländisches Kapital, daß das nicht gelungen ist. Und — ironischerweise — gerade deshalb, weil die USA Krieg und Boykottmaßnahmen dermaßen überzogen haben, daß jetzt eine Ökonomie entstanden ist, die überhaupt nicht mehr zentral koordinierbar ist. Ist das Konzept der USA also schlußendlich doch gescheitert?

Hippler: Es stellt nicht in Rechnung, daß sich die US-Strategie zu Nicaragua im Laufe der Zeit wesentlich verändert hat. Der Beschluß, den Contrakrieg zu führen, wurde seitens der USA erst im März und Dezember 1981 gefällt. Während bis zum Ende der Carter-Administration die US-Strategie darin bestand, Nicaragua kaufen zu wollen, war in der Folge die Strategie der Kooption ab Mitte 1981 vom Tisch.

Werlhof: Es ist ganz merkwürdig, wie sich der Mythos von Entwicklung — das, was hier unter „Wohlstand und Fortschritt“ subsumiert worden ist — in unseren Köpfen hält. Das hat doch nie funktioniert! Industrialisierung hat niemals zu Wohlstand und Fortschritt geführt, höchstens zum Fortschreiten in Richtung Unterentwicklung. Ich habe so das Gefühl, daß hier die Analyse vorherrscht, daß Nicaragua noch nicht einmal den pseudoindustriellen Weg gehen konnte, weil es zu spät dran war; und jetzt gibt’s den Rückfall in die Barbarei, jetzt herrschen Krieg und Seuchen. Dabei ist es genau umgekehrt. Die Modernisierung, wie ich es nach wie vor nenne, hat nicht in der sogenannten idealen Form stattfinden können, sondern sie ging unmittelbar über zur direkten Unterentwicklung und zur Militarisierung der Gesellschaft, zur Militarisierung der Verhältnisse. Und das ist ein Teil der Modernisierung. Die inneren Strukturen haben sich weder demokratisiert noch revolutioniert, sondern nehmen immer mehr diesen autoritären Charakter an.

Gabriel: Natürlich ist eine Militarisierung kein Demokratisierungsprozeß. Nur — wenn ich zwischen der salvadorianischen und der nicaraguanischen Armee einen Vergleich ziehe, ist in Nicaragua durch eine gewisse Demokratisierung der Armeestrukturen eine relative Integration der Bevölkerung eingetreten. Dieses Bild: Volk ist gleich Feind der Armee gibt es in Nicaragua nicht.

Hofbauer: Ist dieser Aufruf zur Selbsthilfe Strategie oder Verzweiflung?

Gabriel: So oder so, sicher ist, daß diese Politik 1979 gar nicht möglich gewesen wäre. Denn erst, nachdem ein organisatorischer Aufbau geschaffen wurde, konnten sich manche Organisationen überhaupt so weit verselbständigen, daß heute ein Aufruf zur Selbsthilfe sinnvoll sein kann. Feststellen müssen wir, daß die heutige Situation eine Bankrotterklärung des Staates ist. Nach sämtlichen wirtschaftlichen Parametern, die mir bekannt sind, hätte die nicaraguanische Regierung sagen müssen: Danke, wir haben abgewirtschaftet. Übrigens bei weitem nicht die einzige Regierung.

Bauer: Am Ende einer Kriegsphase sind alle Staaten, so sie nicht militärisch überwältigend gesiegt haben, bankrott.

Gabriel: Gerade weil der Druck von Opposition, Währungsfonds und dem Ausland so zunimmt, wird wirtschaftspolitisch liberaler verfahren als früher. Man spekuliert mit Kapitalinvestitionen des Auslands und sogenannten Joint-Ventures. Das Modewort — auch in Nicaragua — ist „Concertación“, d.h. privatwirtschaftliche Betriebe, die dem Staat unter die Arme greifen und ihn hoffentlich nicht aus den Angeln heben werden. Denn die, die den Mangel an wirtschaftlichen Konzepten kritisiert haben, sind ja nicht gegen den Modernisierungsschub, sondern das sind die Leute, die mit Hilfe der Modernisierung ihre Geschäfte machen wollen.

Wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, indem wir die Organisationsversuche der Sandinisten allzusehr kritisieren. Denn dann kommen gleich die hilfreichen Geister — Japan ist schon in Nicaragua gewesen, um den großen Kanal zu finanzieren — und könnten der Autonomie der nicaraguanischen Revolution den Garaus machen. Heute muß man zumindest anerkennen, daß dieses kleine Land überhaupt versucht hat, eine nationale Souveränität aufrechtzuerhalten.

Hofbauer: Ich danke den Teilnehmer/innen für das Gespräch.
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