FORVM, No. 188/189
August
1969

Wahnverwandtschaften

Seit dem Beginn der Kritik am Idealismus des 19. Jahrhunderts wird auch die Diskussion über die Funktion der Kunst und die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft geführt. Heute hat sie eine Intensität erreicht, die den hergebrachten Begriff von der Kunst und vom Künstler immer fragwürdiger erscheinen läßt. Man spricht von der Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen, vom Warencharakter der Kunst und vom Künstler als Produzenten. Der Vorgang, in dem ein Kunstwerk zum Publikum gelangt, hat die üblichen Merkmale des Distributionsprozesses für Waren angenommen. Es wird immer schwieriger zu bestimmen, was denn Kunst eigentlich sei. Die Forderungen, die an sie gestellt werden, sind je nach Gesellschaftstypus verschieden, zum Teil ist noch die Vorstellung vom Kunstwerk als etwas Erhabenem und Schönem im Spiel, zum Teil verlangt man von der Kunst Aktivierung des Bewußtseins, zum Teil sieht man in ihr, weil ihr Organisationsprinzip ein zweckfreies, ästhetisches sei, die höchste Entfaltung der spezifisch menschlichen schöpferischen Begabung.

Indes lebt der Künstler, der Mann, der Kunst macht, eigentlich außerhalb der Gesellschaft, nicht weil er es so wollte, sondern weil ihm die Gesellschaft eine bestimmte Rolle abverlangt. Wollte man für den Künstler eine spezifische Qualität beanspruchen, ihm eine Fähigkeit zuschreiben, die andere Menschen überhaupt nicht haben, würde man ihn, nach dem idealistischen Muster, in eine Sphäre heben, wo er mit der übrigen Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. So ein Verfahren ist theoretisch offensichtlich nicht mehr anwendbar, praktisch ist es jedoch noch immer die Art und Weise, wie die Gesellschaft im allgemeinen mit dem Künstler verfährt. Sie zwingt ihn, eine Rolle zu spielen, die Rolle eben des Künstlers, der etwas Unverwechselbares, Einzigartiges tut und herstellt. Die Eigenschaft des Unverwechselbaren nennt man Stil und Individualität, und das ermöglicht die Unterscheidung von Trends, Richtungen und Ismen. Die Konsumgesellschaft übt auch auf den Künstler einen Druck in einer bestimmten Richtung aus und nötigt ihm eine Tarnung auf. Man könnte sagen, Kunst und Künstler sind Symptome der Gesellschaft, die sie bedingt.

Schon im Mittelalter, lange bevor man den Künstler außerhalb der Gesellschaft in eine idealisierte Sphäre stellte, hatte man den Geisteskranken aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Man sprach von ihm als von einem Besessenen, empfand Ehrfurcht vor ihm wie vor einem Heiligen oder begann, ihn aus Furcht einzusperren. Während man dem Künstler Narrenfreiheit gewährt, sperrt man die Narren in Anstalten ein. Dem Künstler zwingt man eine Rolle auf, dem Geisteskranken will man sie abgewöhnen. Von Künstlern und von Narren sagt man, sie seien exzentrisch, und behandelt sie dementsprechend: letztere nach dem neuesten Stand einer Wissenschaft, die für alles ein chemisches Präparat weiß, erstere mit den subtileren, noch nicht quantifizierbaren und kaum erforschten Mechanismen der sozialen Anpassung. In der Kunst wie in der Psychiatrie spricht man von Kommunikation: mit ihr soll der Künstler die Gesellschaft transformieren, mit ihr will die Gesellschaft, durch den Psychotherapeuten repräsentiert, den Geisteskranken heilen.

Die Funktionsparallelen sind deutlich genug. Die Verwandtschaft von Genie und Geisteskrankheit ist ein Allgemeinplatz. Man meint damit die Abweichung von der Norm und postuliert, der wesentliche Unterschied zwischen beiden Abweichungen bestünde in der Fähigkeit des Genies, seine Begabung zu organisieren und in Kunst oder Wissenschaft, jedenfalls in einem spezifischen, arbeitsteiligen Bereich der menschlichen Aktivität Nützliches zu leisten. Die Nutzlosigkeit und Unorganisiertheit der Aktivitäten des Geisteskranken stellt man als die konstituierenden Merkmale seiner Abgesondertheit und Absonderlichkeit hin. Aber verbirgt sich in der einen Behauptung nicht noch die Vorstellung von der Kunst als etwas Schönem und der Wissenschaft als etwas Zweckmäßigem, in der anderen die Angst vor der bedrohlichen Absonderlichkeit?

Man beginnt, die Geisteskrankheit nicht mehr als Unfall zu betrachten, der auf Grund verschiedener Prädispositionen und Einwirkungen dem einzelnen zustößt, sondern sie als einen Zustand zu verstehen, den die menschliche Gemeinschaft, die Familie, die weitere Umgebung, ja die Struktur eines bestimmten Gesellschaftstypus selbst, im einzelnen gleichsam stellvertretend und jedenfalls symptomatisch induziert; dieser wird herausgefordert, sein wahres Ich mit komplizierten Strategemata zu verteidigen, zu verbauen, zu verbarrikadieren. Der Aufbau dieser Verteidigung zum Beispiel bei Schizophrenen steht in seiner Komplexität einem Kunstwerk nicht nach. Allerdings betrachtet man die kunstfertige Verteidigung des Geisteskranken weder als schön noch als erhaben noch als für die Gesellschaft nutzbringend.

Vielleicht findet sich hier der Schlüssel zu Arnulf Rainers Interesse für die Welt der Geisteskranken und seiner Proximität zu ihr. Daß Geisteskranke zur Abwehr der Angriffe auf ihr Ich und zur Balancierung ihrer psychischen Organisation auch bildnerische und verbale Strukturen anwenden, die formale Ähnlichkeit mit den Strukturen der Kunst zeigen, das ist nur die oberflächliche Parallele. Man muß von anderen Prämissen ausgehen, um die Strukturgleichheiten zu erfassen: Der Künstler besitzt keine geheimnisvolle, übermenschliche Begabung, sondern entfaltet dieselbe schöpferische Fähigkeit, die mit wechselnder Intensität und weniger Einfallsreichtum jeder anwenden muß, wenn er sich mitteilen will und Mitteilungen interpretieren soll; der Geisteskranke ist nicht besessen, verrückt, sondern unternimmt wie wir alle den Versuch, seine (gestörte) Psyche so zu organisieren, daß sein Ich intakt bleiben kann, daß es, wenn auch reduziert, weiterlebt.

So wäre, was Arnulf Rainer zur Diskussion über die Funktion der Kunst beiträgt, eine Gleichung: Wenn Kunst und Geisteskrankheit Symptome des Zustands sind, in dem sich eine Gesellschaft befindet, dann ist Kunst unser aller Geisteskrankheit.

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