MOZ, Nummer 43
Juli
1989
Polen — ein Portrait des „Führers“

Walesa for President?

Er möchte aus Polen ein europäisches Japan machen. Pluralismus, Marktwirtschaft und Katholizismus sollen die Eckpfeiler des „neuen Polen“ werden. Den Friedensnobelpreis hat der ehemalige Danziger Werftarbeiter mit der Nummer 61.878 schon bekommen. Nach dem Papst ist er der berühmteste Pole auf der ganzen Welt. Jetzt wird er wahrscheinlich auch noch Präsident.

Bild: Votava

Die Eigenart der Polen ist es, ihren Papst Wojtyla für Gott und Ronald Reagan, auch wenn er nur mehr Präsidenten-Pensionist ist, für einen Papst zu halten.

Für Lech Walesa bleibt da nur mehr der Präsidentenposten übrig, nachdem die übersinnlichen Jobs schon besetzt sind. Und den „Präsidenten“ hat er sich redlich verdient. Der kleine Elektromonteur aus Popowo in Zentralpolen machte in 10 Jahren eine Karriere, von der so mancher österreichische Ministersekretär trotz 15 Jahren Stiefelputzen nur träumen kann: vom Danziger Werftarbeiter, der ungeniert zugab, bis dahin kein einziges Buch zu Ende gelesen zu haben, zum Boß der 10-Millionen-Mitglieder-Gewerkschaft „Solidarnosc“ und zum uneingeschränkten „Führer“ der polnischen Bevölkerung.

Wenn Walesa sagt „Führer“, dann meint er das auch. Pluralismus ist das Ziel, die persönlichen Entscheidungen Walesas der Weg. Doch die persönlichen Entscheidungen Walesas haben es an sich, meist zu hundert Prozent richtig zu sein.

Kein Platz für Kritiker

Bromberg, Industriestadt mit 350.000 Einwohnern, ein paar Wochen vor der Wahl. Bei der von tausenden Menschen besuchten Wahlversammlung des von Walesa gegründeten Bürgerkomitees gibt es auch Widerstand. Jan Rulewski, ehemalige Solidarnosc-Größe und Lokalmatador, ist mit dem Versöhnungskurs Walesas nicht einverstanden und kandidiert gegen den „Walesa“-Kandiaten. Auf der Wahlversammlung kommt es zur direkten Konfrontation mit Rulewski. Walesa ist bei der Menge zunächst nicht unumstritten. Doch dann kommt sein großer Auftritt:

Die von mir ausgewählten Kandidaten wurden — und das gebe ich offen zu — nicht immer demokratisch ausgewählt. Es gab nicht immer die Zeit für eine demokratische Entscheidung. Ich habe die Verantwortung für die kommenden Wahlen auf mich genommen und ich werde das polnische Volk in die Wahlen führen. Aber damit ich diese Wahlen erfolgreich führen kann, muß ich die Zügel in den Händen halten. Und ich muß sie fest in den Händen halten.

Ich bin nicht hergekommen, um mich in Eure Angelegenheiten zu mischen. Ihr müßt diese Angelegenheit selbst bereinigen. Ich werde mich damit nicht herumspielen. Wir sprechen hier von Jan Rulewski: Dort, wo demokratische Wahlen sind — bitte —, wählt Rulewski, wenn Ihr wollt, aber Ihr sollt eines wissen: Dort, wo ich es mir aussuchen kann, wird für ihn kein Platz sein.

Hilf mir nicht, Janek (zu Rulewski gewandt; A. S.), wenn Du nicht willst, aber ich bitte dich, störe uns nicht! Zieh Deine Kandidaten zurück, weil wir dabei alle nur verlieren können!

Dann fragt Walesa die Menge, wer für die offiziellen Kandidaten der Solidarnosc ist — fast alle heben die Hand, Rulewski hat keine Chance mehr. Er verzichtet auf eine Wortmeldung.

So wie Walesa handelt nur ein Volkstribun, der seiner Sache ganz sicher ist: „Ich weiß immer, wenn ich in einer großen Menschenversammlung bin, was die Leute wollen. Ich spüre das ganz einfach instinktiv“, erklärt Walesa selbst seinen Erfolg.

Wie anders als durch Instinkt und Volksrhetorik ist es zu erklären, daß Walesa in einer großen Wahlversammlung in ein und derselben Rede erklären kann, sich nicht in die lokale Kandidatenaufstellung einmischen zu wollen, um im nächsten Satz seinen politischen Konkurrenten aufzufordern, seine Kandidaten zurückzuziehen. Und keinem fällt’s auf. Da muß jeden Verstand blendendes Charisma und vielleicht auch höhere Macht im Spiel sein.

Die höhere Macht in Polen ist zweifellos auf Walesas Seite. Sein Zentrum hat der polnische Volksheld in der St. Brygyda-Kirche in Danzig. Hausherr dieser Stätte ist der nicht unumstrittene Bischof Jankowski, der gleichzeitig ein wichtiger Berater Walesas in geistlichen Angelegenheiten ist. Und geistliche Angelegenheiten sind in Polen wahrlich keine zu vernachlässigende Größe.

Mit seinen vielen dicken Ringen und im weißen Anzug sieht der nicht eben schlanke Bischof wie ein südamerikanischer Bananenstaat-Diktator aus. Jankowski ist Mercedesfahrer. Mercedesfahrer zu sein ist im Polen der Fiat-126 Besitzer fast eine Provokation. Viele wundern sich über Walesas Nahverhältnis zum protzigen Bischof, doch sind die meisten froh, wenigstens ein Haar in der Walesa-Suppe gefunden zu haben und freuen sich, daß „ihr Lech“ doch nicht bereits ins Überirdische entrückt ist, sondern auch seine menschlichen Schwächen hat. So verkehrt sich die unselige Verbindung mit Jankowski noch ins Positive.

Walesa verfügt über eine große Schar von Beratern, doch letztlich entscheidet immer er selbst. Natürlich weiß er, daß er sich nicht in allem und jedem auskennt, seine wichtigsten Fähigkeiten sind das blitzschnelle Erfassen von neuen Situationen, standhaftes und selbstsicheres Auftreten in kniffligen Situationen, Furchtlosigkeit auch bei Bedrohung durch den politischen Gegner — er weiß einfach immer, was gerade zu tun ist. Mit einem Wort: ein Mann, den man gerne an seiner Seite hat, wenn im Wilden Westen die Indianer kommen.

Walesa: Der Erfinder des „Bürgerkomitees“

Die Erfindung des „Bürgerkomitees“ ist ein Beispiel für das schnelle Schalten Walesas. Walesa hätte genausogut die Solidarnosc selbst bei den Wahlen zum Sejm kandidieren lassen können. Die Regierungsgegner am „runden Tisch“ hätten keine Schwierigkeiten gemacht. Doch Walesa wußte, was er tat. Er sprach schon davor von einer ganz neuen „Solidarnosc, die von ganz neuen Leuten gebildet werden wird als die alte Solidarnosc“. Walesa erklärte dies mit den neuen Aufgaben, die auf eine Gewerkschaft, die nun Staatsverantwortung zeigen müsse, zukomme. Tatsächlich ging es darum, sich von der personellen Tradition der alten Solidarnosc zu lösen, da er in dem alten, 1981 durch das Kriegsrecht aufgelösten Führungsgremium keine Mehrheit mehr hätte. Die meisten der alten Führer lehnen den Kompromißkurs mit der Regierung ab.

Andrzej Gwiazda, einer der bekanntesten und populärsten Mitstreiter Walesas aus erster Stunde, wirft dem großen Meister sogar Verrat vor. Die Kritiker meinen, Walesa helfe mit seinem Kurs der Regierung zu überleben. Ohne die Kompromißpolitik wäre die Regierung in einem Meer von Streiks und Protesten untergegangen.

Es erwies sich für Walesa also notwendig, für die Wahlen etwas Neues zu schaffen, ohne deshalb die Solidarnosc als solche aufzugeben. Er lud seine Anhänger aus ganz Polen nach Warschau und gründete das „Bürgerkomitee“. Wer kam, der kam und wurde von Walesa genommen oder auch nicht. Dies führte jedoch dazu, daß es nun neben den lokalen Solidarnosc-Gremien in ganz Polen auch noch lokale Bürgerkomitee-Gremien gibt, in denen teilweise dieselben Leute sitzen, aber dennoch miteinander konkurrieren. Die Opposition verfügt nun dank Walesas Strategie über zwei Parallelorganisationen.

Heiß gekocht und lau gegessen

Die Strategie Walesas war in allen seinen Kämpfen immer die gleiche. Zunächst radikale Forderungen, sich dann an die Spitze der Bewegung stellen und anschließend in Verhandlungen das unter den gegebenen Umständen maximal Mögliche erreichen. Walesa ist weder Phantast noch Romantiker. Für diese hat er wenig übrig, und wenn, dann nur Verachtung. Das macht ihn auch bei großen Teilen der Jugendlichen unbeliebt. So wurde er auf einer Befriedungstour vor den Wahlen auf den Hochschulen meist ausgepfiffen.

In Wroclaw etwa wollte er die Studenten bewegen, den traditionellen Ostermarsch zu verschieben, um die Regierung nicht zu reizen. Auch als die Studenten ihm erklärten, daß dies nicht möglich sei, da der Ostermarsch ein internationales Großereignis wäre, das in allen großen Städten der Welt gleichzeitig stattfindet und sich daher nicht so einfach verschieben lasse, ließ Walesa nicht locker. Wenn die Studenten schon unbedingt für den Frieden marschieren müssen, so könne man das doch bitte, bitte sehr, gemeinsam mit der Solidarnosc nach den Wahlen tun. Die Studenten lehnten dankend ab.

Walesa wandelt sich immer mehr vom anitautoritären Rebellen des Jahres 1980 zum autoritären Politiker des Jahres 1989. Die meisten Polen nehmen ihm das nicht übel, weil sie der Überzeugung sind, nur eine starke Persönlichkeit könne sich erfolgreich der kommunistischen Herrschaft entgegenstellen.

Walesa weiß um seine Popularität. Ihn kümmert der Unmut seiner unmittelbaren Kollegen über seinen Führungsstil herzlich wenig. Die bloße Andeutung, er könne sich ja zurückziehen und die übrigen könnten den Kram dann eben ohne ihn weitermachen, genügt, um sämtliche interne Kritik an ihm sofort verstummen zu lassen. Eine Solidarnosc ohne Walesa wäre nur die Hälfte wert. Das weiß jeder, der die polnische Realität kennt.

Dennoch wird für den Herbst auf Grund der rasenden Inflation eine neue Streikwelle erwartet. Walesa wird an die nationale Vernunft appellieren und versuchen, die Streikenden und Rebellierenden zurück an ihre Arbeitsplätze und die Studenten in die Universitäten zu bringen. Das Hauptargument dafür sind „die politischen Reformen, die ja jetzt im Gang sind, aber natürlich noch eine gewisse Zeit brauchen, bis sie wirken“.

Doch umsonst macht Walesa nichts. Die Regierung wird sich seine Mithilfe an der sozialen Befriedung schon etwas kosten lassen müssen. Und welche Belobigung läge da für einen „Führer“-Typ wie Walesa näher als die Präsidentenwürde?

Für einen Mann seines Kalibers der ideale Posten.

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