Heft 5-6/2005
Oktober
2005

„Warum die Deutschen?“

Antisemitismus — Nationalsozialismus — Genozid

Der aus der französischsprachigen Schweiz stam­mende Historiker Phillipe Burrin wurde durch sein 1989 erschienenes Werk „Hitler und die Juden“ bekannt. Darin vertritt er die These, dass die nati­onalsozialistische Endlösung der Judenfrage kein Resultat eines strikten Führerbefehls war, sondern aus einer sich selbst radikalisierenden, um einen idealisierten Führerwillen kreisenden Konkurrenz­situation verschiedener Bürokratien entstand.

Die nun vorligende Studie basiert auf einem dreiteiligen Vortrag, den Burrin 2003 am College de France hielt. Entsprechend zusammenfassend und kurz wird die im Titel gestellte Frage mehr ange­rissen als tatsächlich beantwortet. Nach einer Ein­führung in die Entwicklung vom christlichen zum modernen, rassistischen Antisemitismus in Europa, folgt im zweiten Teil die Analyse des deutschen Spe­zifikums (das ist nach Burrin die Machtergreifung der NSDAP). Er unterscheidet eine Phase zwischen 1933 und 1939, die von einer radikalisierten Pha­se der Vernichtung ab Kriegsbeginn abgelöst wird. Dabei zeichnet er die bekannten Stationen nach, die von der Machtergreifung der NSDAP 1933, über die Einführung der Nürnberger Gesetze 1935, den Beginn des Euthanasieprogramms Aktion T4, die berüchtigte Führerrede vom 30.1.1939, verschie­dene Pläne zur Um- und Aussiedlung der europä­ischen Juden, bis zur tatsächlichen Vernichtung ab 1941 reichen.

Die berechtigte Frage, wie das alles ohne brei­ten Widerstand vor sich gehen konnte, beantwortet Burrin so: Der NS konnte breiten Teilen der deut­schen Bevölkerung ein unwiderstehliches Iden­titätsangebot machen, welches nicht nur aus der Aufnahme aller bisher bekannten antisemitischen Ressentiments bestand, sondern auch aus einer Art religiösem Synkretismus, der christliche, rassistisch­-germanische und antisemitische Themen zu einer neuartigen Ethno-Religion verschmolz. Zudem knüpften die drei Säulen der NS-Ideologie „Ge­sundheit“, „Macht“ und „Kultur“ an bekannten deutschen Sekundärtugenden an.

Der Band schließt mit einer Analyse verschie­dener Hitlerreden während des Krieges. Burrin ent­blößt den Sadismus und die offen ausgesprochenen Vernichtungsphantasien des Führers, die nicht etwa im Geheimen ausgesprochen wurden, sondern via Schlagzeilen und Volksempfänger zur moralischen Erbauung der Deutschen hinausposaunt wurden.

Eine kapitelweise aufgeschlüsselte Literaturli­ste am Ende enthält alle wichtigen Werke zum Thema und regt zum selbständigen Weiterforschen an. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass Burrin mit diesem leicht zu lesenden Essay ein breites Publi­kum erreichen wollte und dabei die entscheidenden Fragen nicht aus dem Blickfeld verlor.

Philippe Burrin: Warum die Deut­schen? Antisemitis­mus — Nationalsozi­alismus — Genozid (Propyläen, 2004)

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