ZOOM 3/1998
Juni
1998

Was zum Teufel mache ich mit meinem Leben?

Ein Gedankensturm mit neun Bildern und zahlreichen Huchs
Abb. 1: Jeff LeVine: NO HOPE

Den Titel entlehne ich einem Bild (Abb. 1) aus der ComixSerie mit dem deprimierenden Titel „NO HOPE“ von Jeff LeVine – in beeindruckender Weise und voll düsterschwarzem Humor wird uns hier die Aussichtslosigkeit vor Augen geführt, etwas mehr als „ein kleines bißchen Glück“ zu ergattern. Die Figuren strudeln und wurschteln, bewegen sich zwischen unsinnigen Jobs, frustrierenden Versuchen, die sogenannte „Freizeit“ zu genießen und so etwas wie „Privatleben“. Schmerzhaft durchzieht dieses Comix das Wissen um die eigene Ohnmacht und – selbstredend – das Wissen um gesellschaftliche „Verhältnisse“, die sich jeder Veränderung widersetzen und unter denen die Figuren dieses Comix realistisch leiden – auch dann, wenn sie vermeintlich „eh“ gut drauf sind.

Dem Titel wäre noch hinzuzufügen, daß gerade die darin gestellte Frage im Prinzip das verunmöglicht, was sie zu fordern vorgibt, nämlich eine Antwort. Gerade in der „Größe“ der Formulierung „etwas mit meinem Leben machen“ ist das Scheitern angelegt.

Ich will in diesem Artikel einige Erlebnisse und Ereignisse aneinanderfügen und ihre Bedeutung für mein Leben beschildern, woraus vielleicht etwas ableitbar ist, was über das Persönliche hinausgeht, was aber nicht unbedingt sofort erkennbar sein muß, weil wir ja alle dieses „persönliche“ „private“ Leben führen, von dem wir glauben, daß es „politisch“ ist.

Abb. 2: Ilse Kilic: BANDSCHEIBENCOMIX

Das erste Erlebnis – ein Jahrestag: die Spitalsentlassung nach meiner Bandscheibenoperation, der große Einschnitt in meinem Leben als „funktionierende“ „IlseEinheit“ ist fünf Jahre her (Abb. 2).

Das Buch „Aus der Krankheit eine Waffel machen“, das ich damals geschrieben habe, findet immer noch Anklang bei LeidensgenossInnen, also jenen, die sich, so wie ich, für tendenziell unverwundbar gehalten haben und dann doch „krank“ geworden sind. Das kann uns allen passieren, wie es so schön heißt, und manchen ist es auch schon passiert – huch!

Abb. 3: Lustiger LachClub — DAS FRÖHLICHE WOHNZIMMER

Das zweite Ereignis – wieder ein Jahrestag: die „Das Fröhliche Wohnzimmer – Edition“, der fröhliche NonProfitKleinverlag ist im Vorjahr zehn, heuer also elf Jahre alt geworden (Abb. 3).

Hm. Heute kam mit der Post ein Brief von einem Autor aus Deutschland, der seine Situation so beschrieb: „Wenig Geld und viel zu tun. Durchhalten ist alles.“ Hm, hm. Er schrieb das ganz fröhlich und unbekümmert, und die ein wenig militärisch klingende Durchhalteparole verlor dadurch ihren unangenehmen Beigeschmack. Denn selbstverständlich ist „Durchhalten“ nicht alles. Auch „Spaß“ ist nicht alles. Ja, was ist denn alles? Nichts ist alles? Hm, hm, hm? Sprachspielerisch und doppeldeutig die Umkehrung dieses Satzes: Alles ist nichts?

Jedenfalls sind Bücher, ist Papier sehrsehr schwer, und obwohl meine Physiotherapeutin mich nicht mehr als schonungsbedürftig betrachtet, fühle ich mich der Verpflichtung zur Büchertischbetreuung nur mit Unterstützung meines Weg- und SpielGefährten Fritz – huch!

Das dritte Erlebnis – und noch ein Jahrestag: Ich hab Geburtstag. Eine meiner Freundinnen fährt übrigens schon mit Pensionistinnenfahrschein und eine andere hat mit ihrem Partner bereits ein Wiener Pensionistenheim besichtigt. Zu meinem Geburtstag schrieb ich mir folgendes Gedicht, dessen letzte Strophe, das liegt in ihrer Natur, selbstverständlich bei Erscheinen des ZOOM bereits überholt sein – huch!

KLEINES GEBURTSTAGSGEDICHT
für Ilse
 
ob ich neunzig werd?
ob ich neunzig werd??
 
ob ich achtzig werd?
ob ich achtzig werd??
 
ob ich siebzig werd?
ob ich siebzig werd??
 
ob ich sechzig werd?
ob ich sechzig werd??
 
ob ich fünfzig werd?
ob ich fünfzig werd??
 
ob ich vierzig werd?
ob ich vierzig werd??
 
(so vierzig stunden noch bis ich das wissen kann
auf die letzte strophe wird geschissen dann.
vollendet erst ist dies gedicht wenn es komplett gestrichen
so hab ich mir wahrscheinlich was unvollendetes erschlichen.)
Abb. 4: Guido Sieber: WÜRGSAMKEITEN

Erlebnis vier: Im Autobus der Linie 13A beobachtete ich eine Kleingruppe, bestehend aus zwei Heteropaaren mittleren Alters und einem männlichen Jugendlichen, die mich in eine völlig fremde Realität versetzte. Es war wie in einem Film – aber in einem anderen, als in dem ich mich gewöhnlich befinde und auch in einem anderen als denen, die ich mir gewöhnlich anschaue, zumal das meistens ExperimentalFilme sind. Sowas gibts also wirklich, dachte ich, sowas – und fand kein Wort dafür. Die leicht angetrunkene Gruppe schlingerte in blauen und schwarzen Anzügen und Kostümen beziehungsweise in auf fast zielsichere Art an der Mode vorbei geschnittener, aber sichtbar teurer Kleidung durch den Bus. Dabei scherzten sie – versuchten in gestochenem Hochdeutsch anzüglich zu sein. Hihi hihi, kicherte es aus den knallrot geschminkten Frauenmündern zu den mit belegten Stimmen aus den beflaumten beziehungsweise umstachelten Männermündern dringenden matten Scherzen. Ob sie das erlebten, was sie als Spaß gelernt hatten zu identifizieren? (Abb. 4)

Abbildung 5: Jugendfoto, ich rechts im Bild

Es ist fast unmöglich, dachte ich mir, daß sich meine Realität mit denen dieser Menschen an irgendeinem Punkt überschneidet – und doch saßen wir im gleichen 13A. Ich muß bei solchen Anlässen immer an meine reiche Verwandtschaft denken, die „im Prinzip“ ein ähnliches Leben für mich bereitgestellt hätte. Gute Tochter im guten Haus (Abb. 5), gebildet, aber doch irgendwie bilderlos, ahnungslos, aber gebettet in Situiertheit und Wohlerzogensein, in eine Rolle, die stützt und (ver)birgt.

Aber ich – ich war ein böses Kind! (Abb. 6) Bei den Verwandten zu Gast schlich ich z.B. nachts heimlich in die Speisekammer, um mir einen Riegel Schokolade zu holen. Weil ich nicht folgen und mich nicht benehmen konnte, blieb es mir erspart, mich mit weiteren Anforderungen „aus gutem Haus“ näher zu befassen – das könnte auch heißen, ich stand fassungslos vor der Welt derer, die von sich glauben „etwas Besseres“ zu sein.

Abb. 6: Ilse Kilic: VOM KLEINEN ESLI und wie es in die Welt kam

Ich muß aber zugeben, daß ich umgekehrt auch manchmal glaube, was „Besseres“ zu sein: Natürlich ist der Begriff des „besser/schlechter“ ganz runderneuert und umgewertet – doch tief in mir versteckt sitzt der Überheblichkeitswurm und hebt mitunter sein verführerisches – huch!

Erlebnis 5: Wer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, kann was erleben! Etwa: an „einem“ Tag von „zwei“ Kontrollen nach dem Fahrschein gefragt zu werden. Zuerst in der Linie 5 von einem „weiblichen KontrollOrgan“. Beim Ausdruck KontrollOrgan (Abb. 7) muß ich schmunzeln – die Organe des Menschen als KontrollOrgane, der menschliche Körper als sein eigener Kontrollor?

Abb. 7: Kontrollorgane des Menschen?

Jedenfalls, die Frau KontrollOrgan sprang den Aussteigenden nach und rief sie zur Fahrscheinkontrolle zurück – ein Rückruf, der unbefolgt in der Spitalgasse verhallte. Ich hatte einen Fahrschein. So ein Glück, da ich ja etwas später, mittlerweile am Rückweg und in der U6 ein zweites Mal gebeten wurde, meinen „Fahrausweis“ zu – huch!

Abb. 8: Ilse Kilic: SUPERMARKTPORTRAIT

Erlebnis sechs: Ich habs wahnsinnig eilig im Supermarkt (Abb. 8). Tatsächlich höre ich mich mit einer Frau darüber streiten, wer von uns beiden wohl als „Erste“ das Ende der leider elendslangen Schlange vor der einzig besetzten Kassa erreicht hat. Ich will es eigentlich gar nicht so eilig haben, denke mir immer, daß ich in einer „privilegierten“ Situation bin, mir meine Zeit doch oft selber einteilen kann, also nur zu blöd dazu gewesen bin, wenn ich es doch eilig habe?

(„Nichts davon ist selbstverständlich“, sagte der Autor Christian Steinbacher dazu.)

Zugleich merke ich, wie der Ärger aufsteigt, als die andere Frau, meiner Meinung nach „natürlich“ nach mir in der Schlange, so tut, als wäre sie schon vor mir dagewesen und hätte nur noch schnell eine Flasche Wein aus dem Weinregal genommen. „Bin ich denn der Trottel für alle?“, fragt die böse Stimme in mir. Es ist auch eine beleidigte, eine gekränkte Stimme, eine „NO HOPE“-Stimme, die an den kleinen Widrigkeiten des Alltags leidet. Ich zähle leise bis zehn. Irgendwie hab ich glücklicherweise das Gefühl, daß es nicht zielführend ist, kreischend und brüllend mein „Ich war zuerst da!“ zu verteidigen und erspare mir den „Auftritt“. Ich lasse sie vor und schiebe ihr dann scheinbar unabsichtlich mein Einkaufswagerl gegen den Hintern, einmal, zweimal, dreimal – hurra, hurra, hurra! Ein kindischer und billiger, aber ohne Zweifel ein Genuß. Bin ich schon ganz verblödet – huch!

Erlebnis sieben: erwachsen werden. Wie sagte doch neulich jemand zu mir? „Du mußt erwachsen werden“ oder „werd endlich erwachsen“? Dabei bin ich es doch „eh“ schon, viel mehr, als mir manchmal lieb ist! Früher, ja früher, da kam ich mit rebellischem Schwung (Abb. 9) in alle möglichen Situationen hereingeweht, sagte, was mir daran mißfiel und wer meiner Meinung nach Blödsinn redete, schwafelte, sich „nur“ wichtig machen wollte.

Abb. 9: Ilse Kilic: ... FRÜHER MIT REBELLISCHEM SCHWUNG ...

Jetzt, wenn ich irgendwohin komme, wo ich schon die Hälfte der Leute kenne, mich mit ihnen nicht anlegen oder sie nicht kränken will, oder wenn ich selber versuche, etwas auf die Beine zu stellen, wo mich dann die Hälfte der Leute kennt, sich nicht anlegen will oder mich nicht kränken – und sooo einen Blödsinn reden ich und die anderen ja auch wieder nicht. Wenn man sich und einander kennt, kann man ohne weiteres durch ein bißchen innere Übersetzungsarbeit das herausfiltern, was man ohnedies und im übrigen gerne hören wollte und will. Oder?

Also gibts kein schwungvoll und (gehörte das wirklich dazu?) rücksichtslos sein, wie ich es des öfteren früher war, ohne mir viel dabei zu denken – mehr und nimmer. Die Leute, die ich kenne, die ich lieb gewonnen habe oder ich selber, scheinen mir ja nicht blöd, und wenn doch, dann auf eine liebenswerte oder aus ihrer, meiner persönlichen Geschichte heraus verständlichen Art. Sie oder ich machen sich nicht wichtig, ohne daß einleuchtende Gründe vorhanden wären, sie oder ich sind nicht bösartig, und das was mir oder ihnen mißfällt, muß deswegen gar nicht ausgesprochen, geschweige denn geändert werden, weil wir uns schon verstanden haben, bevor es etwas zu verstehen gab. Vorauseilende Gruppendynamik oder ein Netz aus persönlicher Zuneigung, Rücksicht, Vorsicht und Angst – ungeschriebene Gesetze der Freundlichkeit? In den persönlichen Beziehungen teilt man sich mit, was man „ist“, indem man beschreibt, was man an anderen (und abwesenden) Personen nicht mag. Das ist erwachsen!

Den Frust beim Mitarbeiten in einem (bewußt nicht genannten) Projekt hab ich jedenfalls so ungefähr überall abreagiert, gejammert, geknurrt, gespuckt – nur die anderen Mitarbeiterinnen wissen nichts. Vielleicht ist es aber „eh“ besser so?

Gibt es gegenseitiges Verständnis, das darüber hinausgeht, im Projekt-, Beziehungs-, Kunst-, TrinkRahmen funktionieren zu können? Interessiert es mich oder irgendjemanden, warum „dies oder das“ „da oder dort“ nicht geklappt hat, und hätte ich oder irgendjemand anderer mehr Verständnis, wenn die „Situation“ der anderen Beteiligten bekannt ist?

Wir sind alle erwachsen. Vielleicht mehr, als uns – huch!

Huch! – Den Schluß entlehne ich wiederum aus der ComixSerie mit dem deprimierenden Titel NO HOPE: „Wir werden immer älter und sterben, und es gibt noch nichts Gutes im Fernsehen“. Huch!

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