FORVM, No. 202/II/203/I
Oktober
1970

Weltmeerkloake

Arnold Künzli, Politologieprofessor in Basel, Präsident unseres Internationalen Dialogkomitees, das im Oktober in Wien sein jährliches Seminar zum Thema Ökologie durchführt, berichtet hier über die Konferenz „Pacem in Maribus“ auf Malta, veranstaltet von dem uns befreundeten „Center for the Study of Democratic Institutions“, Santa Barbara, Calif., auf Initiative der Thomas-Mann-Tochter Elisabeth M. Borgese.

Genf, 3.9.70. Alle 25 Mitglieder der Genfer Abrüstungskonferenz, mit Ausnahme Mexikos, haben am Donnerstag dem Vertragsentwurf für die Freihaltung des Meeresbodens von Massenvernichtungswaffen zugestimmt. Der Vertrag wurde an die UN-Generalversammlung mit der Empfehlung weitergeleitet, ihn zu billigen. Danach vertagte sich die Abrüstungskonferenz für den Rest des Jahres.

Die Ozeane dieser Erde sind, bis auf einen schmalen Küstenstreifen, ein herrenloses Gebiet. Abgesehen von internationalen Vereinbarungen zur Regelung des Fischfangs — deren Wirksamkeit, wie es die Ausrottung des Blauwals zeigt, sehr begrenzt ist — kann jeder auf, in und mit den Meeren tun, was er will. Die wissenschaftlich-technische Revolution hat nun aber auch eine „marine Revolution“ provoziert: die Ozeane haben zunehmende Bedeutung:

  • als wichtigste Quelle von Lebensmitteln und Mineralien;
  • als Aktionsgebiet der Militärstrategen und potentieller Kriegsschauplatz;
  • als Abfalleimer für Atommüll, Giftgase und andere Segnungen der Wissenschaft und Technik;
  • als ein durch die zunehmende Verseuchung gefährdetes, entscheidend wichtiges Element im Gleichgewichtssystem der Natur, von dessen Erhaltung diejenige allen menschlichen Lebens abhängt;
  • und nicht zuletzt als Erholungszentren für den abgerackerten „homo faber“.
„He, alter Junge, ist was mit deinem Anzug nicht in Ordnung?“
Zeichnungen: Halbritter, „pardon”, Frankfurt

Läßt man die Ozeane weiterhin unter dem Regime des Freibeutertums, so nimmt die Gefahr zu, daß — abgesehen von den Gefahren für den Weltfrieden — nicht wiedergutzumachende Schäden verursacht werden, die auf lange Sicht das Überleben der Menschheit in Frage stellen könnten.

Diese Überlegungen haben das mit ausschließlich privaten Mitteln finanzierte, in einem konstruktiven Sinne progressive „Center for the Study of Democratic Institutions“ im kalifornischen Santa Barbara vor einigen Jahren veranlaßt, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man die als gemeinsames Erbe und als Sozialeigentum der Menschheit aufgefaßten Ozeane einem supranationalen Regime unterstellen könnte, das den Frieden auf den Meeren garantieren, ihre Ausbeutung auf vernünftige Weise regein und ihre weitere Verseuchung durch die Abfallprodukte unserer Zivilisation verhindern würde.

Elisabeth Mann-Borgese, eine Tochter Thomas Manns, und führendes Mitglied des „Center“, hat ein Statut für ein solches Ozean-Regime ausgearbeitet, das ein eigenes parlamentarisches System vorsieht. Nach fünf vorbereitenden Konferenzen in Amerika hat das „Center“ unter dem Motto „Pacem in Maribus“, Ende Juni auf der Insel Malta eine erste große internationale Konferenz einberufen, an der mehr als 200 Wissenschaftler und Diplomaten aus 45 Ländern teilnahmen. Präsident der Konferenz war der oberste amerikanische Bundesrichter William O. Douglas, gegen den zu Hause eine politische Kampagne im Gange ist, da er in einer Publikation Sympathien für die Studentenrebellion geäußert hatte. Die Konferenz erfreute sich des Wohlwollens der UNO, deren Generalsekretär U Thant ihr eine lange Begrüßungsbotschaft zukommen ließ. Auch der Papst hat ihr seine Sympathie bekundet. Die Konferenz wurde nach Malta berufen zur Ehrung des maltesischen Botschafters Arvid Pardo, der — ein diplomatisches Unikum — gleichzeitig Botschafter seines Landes in den USA, bei der UNO und in der Sowjetunion ist und als erster 1967 in den Vereinten Nationen auf die Notwendigkeit eines Ozean-Regimes hingewiesen hatte.

„Früher gab es ganze Siedlungen davon, das nannte man Wald.“

Man spricht heute bereits von einer „Aquakultur“, einer „Meerwirtschaft“, die die Landwirtschaft ergänzen soll. Die Meerernte soll neben wichtigen Mineralien vor allem das lebenswichtige Protein liefern. Sie soll entscheidend mithelfen, die Versorgung der Dritten Welt mit Lebensmitteln zu verbessern. 30 bis 35 Prozent der Weltrohölproduktion kommen in Zukunft aus dem Meeresboden. Es wird daher, analog zur Bodenspekulation, von einer kommenden Meerspekulation gesprochen.

Rücksichtslose, ungeplante Industrialisierung der Meere könnte, beim heutigen Stand der Technik, katastrophale Folgen haben. Die Ölindustrie hat transnationale Imperien aufgebaut, deren ökonomische Macht größer ist als die mancher Nationalstaaten und die global planen sowie eine eigene Diplomatie besitzen.

Frau Mann-Borgese will in dem geplanten Ozean-Regime die Autonomie von privater und staatlicher Industrie, Arbeit und Wissenschaft gewahrt wissen, indem man diese an einem parlamentarischen Willensbildungsprozeß beteiligt: Der Entwurf sieht, nach jugoslawischem Vorbild, vier Kammern vor. Für die Planung der Meerwirtschaft, vor allem die Verteilung der Produkte, soll es Mehrheitsentscheide geben.

„Nehmen wir heute einmal Mischwald und für Sonntag zweimal Seeluft!“

Das sieht nach der Quadratur des Zirkels aus, um so mehr als im Ozean-Regime ja auch „kapitalistische“ und „sozialistische“ Staaten zusammenarbeiten müßten. Die erwarteten sowjetischen Konferenzteilnehmer ließen sich in letzter Minute entschuldigen. Die Chinesen sind, obgleich eingeladen, ebenfalls nicht gekommen.

Manche Vertreter der Dritten Welt begegnen dem Projekt mit Mißtrauen, da sie befürchten, daß ein Ozean-Regime den Reichen und Mächtigen dazu dienen würde, die Armen auf eine neue Art auszubeuten, obgleich genau das Gegenteil geplant ist.

Bezeichnenderweise konnte man sich über die Rolle der Privatunternehmen in einem Ozean-Regime nicht einigen und auch die großen Ölinteressen hatten wie die Sowjetunion der Konferenz die kalte Schulter gezeigt. Man muß sich in der Tat die Frage stellen, ob es möglich ist, ein solches neuartiges, in seiner Art revolutionäres, internationales Regime zu schaffen, so lange die sozioökonomische Basis in West und Ost unverändert bleibt. Die Welt ist ja kein Jugoslawien.

Schließlich meinten die „Naturschützler“, es gehe gar nicht um Regelung, sondern um Verhinderung der Ausbeutung der Meere, nicht um Exploitation, sondern um Konservation.

Ein großer Teil — einige meinen sogar: der entscheidende — der Mineralvorkommen und Fischbestände liegt innerhalb des Küstenstreifens, der zum Gebiet der angrenzenden Staaten gehört. Das Ozean-Regime soll aber ausdrücklich nur das Meeresgebiet außerhalb der Grenzen nationaler Souveränität verwalten. Verliert dadurch die geplante Internationalisierung nicht einen Teil ihres Sinnes? Ein Vorschlag, die Verfügungsgewalt des Ozean-Regimes bis zur Küste auszudehnen, dürfte bei den beteiligten Nationen kaum auf Gegenliebe stoßen. Wie kann man also eine revolutionär-neue Art eines globalen Regimes schaffen, so lange die „Basis“ der Weltpolitik sich noch immer verbissen zum Prinzip der nationalen Souveränität bekennt?

„Habe ich euch zuviel versprochen? Dort ist die Sonne.“

Eine Antwort auf diese Frage hat die Konferenz nicht gefunden, es sei denn, man sehe in der Tatsache dieser Konferenz als solcher die Antwort: sie wollte ein Appell an die Weltöffentlichkeit sein, angesichts der drohenden Gefahr einer Einbeziehung der Ozeane in eine überholte National- und Wirtschaftspolitik eben diese zu überwinden und auf dem Gebiete der Ozeane den Sprung in eine Art „Weltinnenpolitik“ zu wagen. Daß vor allem auch der Weltfrieden nach solchen neuen Konzeptionen ruft, hat die Konferenz allein schon mit dem Motto „Pacem in Maribus“ bekundet.

Eine ganz besondere Gefahr droht schließlich von den Abfallprodukten von Industrie, Wissenschaft und Technik her.

  • Alle unsere so heillos verseuchten Flüsse münden ins Meer. Forschungen haben ergeben, daß heute nur noch 17 Prozent der italienischen Küste völlig „keimfrei“ sind. 18 Prozent der Küste sind als lebensgefährlich bezeichnet worden. Der Rest ist mehr oder weniger stark verschmutzt. Ein Ökologe meinte, wenn das so weitergehe, würden die Feriengäste am Mittelmeer bald nur noch in Schwimmbassins mit künstlichem Salzwasser baden können.
  • An einigen Orten will man eine Zunahme des Leberkrebses bei Fischen festgestellt haben.
  • Von Atomkraftwerken, Atomunterseebooten und — als Folge der Atomexplosionen — aus der Atmosphäre gelangen auch radioaktive Partikel ins Meer. Es sind Austern gefunden worden, die mehr als das 200.000fache der normalen Menge an Radioaktivität aufwiesen.
  • Die kanadische Regierung ließ Tausende von Dosen von Walfleisch vernichten, da sie mit Quecksilber vergiftet waren. Das Quecksilber enstammte einer 1000 Kilometer von der Küste entfernten Kunstdüngerfabrik, wurde durch Flüsse in die Hudsonbai geschwemmt und gelangte über die Nahrungskette in die dortigen Belugawale.
  • Wie lange die ins Meer versenkten Behälter für Atommüll und Giftgasrestbestände dicht halten werden, ist ungewiß.
  • Ein Rumäne erklärte, die Ölindustrie am Kaspischen Meer habe die dortigen Fische ungenießbar gemacht.
  • Jüngste Forschungen haben ergeben, daß schon ganz kleine Mengen chemischer Substanzen — 1 Teil auf 3 Billionen Teile Wasser — das Plankton vernichten können.
  • Eine Störung des ökologischen Systems der Meere würde sich aber mit der Zeit auch auf die wesentlich vom Meer beeinflußte Atmosphäre auswirken, und so die gesamte natürliche Umwelt des Menschen stören oder gar aus dem Gleichgewicht bringen können.
„Wenn Sie noch einmal behaupten, unsere Flüsse seien stinkende Kloaken, verurteilt Sie das Gericht wegen Zersetzung der öffentlichen Ordnung!“

Ein führender amerikanischer Wissenschaftler legte der Konferenz ein „Verseuchungsmanifest“ vor, das unter anderen folgende Punkte enthält:

  • Auch und vor allem die Tiefsee muß vor Verseuchung geschützt werden;
  • dem Verseuchenden müssen die durch die Verseuchung entstehenden Kosten aufgebürdet werden;
  • die Beweislast muß der potentielle Verseucher tragen: er muß beweisen, daß sein Tun keine Verseuchung verursacht;
  • die wissenschaftliche Forschung muß sich vermehrt mit Fragen befassen, wie: Welches sind die physiologischen und genetischen Wirkungen von Verseuchungssubstanzen? Was geschieht mit diesen? Lösen sie sich auf oder kommt es zu gefährlichen Konzentrationen?

Die Öffentlichkeit muß weit mehr als bisher über diese Gefahren aufgeklärt werden.

Es müssen technologische Lösungen des Problems angestrebt werden.

Die Mehrheit der Konferenzteilnehmer waren Wissenschaftler — Ozeanographen, Meteorologen, Ökologen, Biologen —, technologische Experten und Vertreter internationaler Organisationen. Sie erhofften eine Lösung des Problems von Wissenschaft und Technik einerseits und bestehenden internationalen Organisationen und Vereinbarungen anderseits. Eine kleinere Gruppe hingegen meinte, Wissenschaft und Technik seien allein nicht fähig, diese Probleme zu lösen; bloß technologische Lösungen schaffen immer wieder neue Probleme, man treibt den Teufel mit Beelzebub aus; eine dauerhafte Lösung kann nur von neuem Geist, neuem Verhältnis des Menschen zur Natur, neuem Verantwortungsbewußtsein für die Erde und die Menschheit erhofft werden.

Auch dieser Gegensatz konnte auf der Maltakonferenz nicht überwunden werden. Die Meinungen prallten gelegentlich hart aufeinander. Diese Konferenz krankte an ihrer Struktur: Man kann nicht mit mehrheitlich „konservativen“ Spezialisten, sie mögen noch so guten Willens sein, eine revolutionäre Idee verwirklichen.

„Sie ist mit dem Leben einfach nicht fertig geworden. Jetzt hat sie das Fenster geöffnet und zweimal tief eingeatmet.“

Das einzige greifbare Resultat der Konferenz war der Beschluß, unter Leitung der bewunderswert unermüdlichen Frau Mann-Borgese eine Kommission zu bilden, die den Plan der Schaffung eines Ozean-Regimes weiter verfolgen soll. Gleichzeitig erließ man einen Appell an Regierungen, Weltöffentlichkeit, internationale Organisationen, Institute für Friedensforschung usw., sich der Gefahren einer Zerstörung der Ozeane bewußt zu werden und bei der geplanten Schaffung eines Ozean-Regimes mitzuhelfen. Die Frage sei heute, ob die Ozeane eine Quelle neuen Lebens oder ein Massengrab werden sollen.

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