FORVM, No. 230/231
März
1973

Wer war Otto Muehl?

Brief an Günther Nenning
Mottingeramt, 25. Jänner 1973

Lieber Freund!

Nach der genauen Lektüre des Jänner-Forums, das mir Aramis aus Krems mitgebracht hat, kann ich Dir für Deinen Einsatz nur herzlich danken und auch dafür, daß Du mit Fleiß und Gedankenschärfe den völlig fruchtlosen Versuch gewagt hast, den Wiener Aktionismus Otto Mühls (Nitsch und Brus wurden ja nicht behandelt) politisch zu würdigen. Das konnte Dir deshalb nicht gelingen — und dafür kannst Du nichts —, weil Du noch nicht weißt, daß alle Ideologien und gesellschaftlichen Projekte, also auch der Sozialismus, leider völlig überholt sind, und weil Dir nicht bekannt ist, welche Erkenntnisse und Pläne eigentlich hinter dem Aktionismus stecken, Pläne, die tatsächlich die einzige Rettung für den Menschen bedeuten. Davon kennt übrigens auch Dito Mühl nur den kleinsten Teil — Erika Miš weiß da durch Zufall schon etwas mehr.

Eigentlich hat es damit begonnen, daß ich im ersten Jahr meines Theologiestudiums, es war 1952, auf der Wiener Kunstakademie einem Mann begegnet bin, der sich abmühte, auf einem Podium völlig uninteressante Gegenstände zu gruppieren, um sie dann abzumalen. Aber es klappte nicht recht. Darum gruppierte er wieder um und versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Und so fort. Dabei kratzte er sich ständig — aus lauter Verzweiflung — am Schwanz. Der Mann war Otto Mühl und was er produzierte, war synthetischer Kubismus. Ich sah mir den Mann an und dachte: „Er sieht debil aus, aber ich bin überzeugt, er ist es nicht. Jedenfalls mußt du dir den Mühl merken“.

Dann lernte ich Seine Exzellenz Ambrosios Platis, einen orthodoxen Priester aus einem entlegenen Kloster in Makedonien kennen — später war er Sekretär des Heiligen Synod in Athen —, der mir einiges über das hesychastische Gebet erzählte und mir eine bestimmte psychedelische Sorte phrygischen Weihrauchs schenkte, den ich in meiner Zelle abbrannte. Ich hatte meine ersten Visionen, die auf Reisen nach Lourdes und Fatima immer konkreter wurden: Ich überblickte alle Zusammenhänge und sah, daß „das Wasser bereits ausgegossen“ wird, das heißt, diese Welt keine Zukunft mehr hat. Noch so gutgemeinte Versuche der Weltverbesserung, ja selbst Revolutionen, können daran nichts mehr ändern. Es ist zu spät. Diese Weit geht zu Ende und nach einem Zwischenstadium beginnt eine völlig neue. Wenn sie überhaupt beginnt, denn das hängt vom Menschen ab und seiner Fähigkeit, sich wie in einer „Teba“, einer Arche Noah, hinüberzuretten. Freilich nur in seinem menschlichen Kern, keimhaft, nicht mit seiner Kultur, seiner Zivilisation, seinem geläufigen Verhalten. Die gehören zur alten Welt. Was ist aber der Kern und wie ist er zu retten?

Tage- und nächtelang grübelte ich über ägyptischen, hebräischen, syrischen und Keilschrifttexten sowie in Innsbruck — als Schüler von Karl Rahner — über Hegel und Schelling. Stegmüller erschloß mir in seinen Vorlesungen das Reich der mathematischen Logik, durch die Schriften Freuds und C. G. Jungs stieß ich ins Unbewußte vor. Im Café Sport versorgte mich Allen, ein Engländer mit einem Silberring im linken Ohr, mit billigem Stoff und reinem LSD. Monatelang irrte ich völlig high durch die Straßen Wiens, aß kaum, redete mit niemand und magerte bis zum Skelett ab. Auf der Wiedner Hauptstraße plötzlich verwandelte ich mich in einen alten Indianerpriester mit Federn auf dem Kopf und einer großen Hakennase wie ein Papageienschnabel. Mescalito spielte mit mir und ich sah die Lösung zum Greifen nahe vor mir: den Golem. Es gibt aber zwei Typen von Golem. Eine davon versuche ich zu bauen.

Einige Jahre später, als ich bereits als Psychotherapeut in einer Klinik arbeitete, fragte mich eine Kollegin, Frau Doktor Schaden, ob ich nicht einem völlig heruntergekommenen Künstler durch eine Analyse helfen wolle. Ich ließ den Künstler zu mir kommen: Es war Otto Mühl. Er war tatsächlich schon tief gesunken und malte „Gondeln in Venedig“, wie man sie im Winter in Wiener Eissalons bewundern kann. Ich sagte zu und Otto Mühl wurde mein erster Golem.

Was ich dann mit ihm anstellte, habe ich anderen gegenüber — damit das Kind einen Namen hat — Auflockerungsanalyse und Kreativitätstherapie genannt. In Wirklichkeit brachte ich bei Mühl geschickt einen psychischen Regressionsprozeß ins Rollen und pflanzte ihm bestimmte Keimideen ein, die sich nach und nach realisierten. So etwas geht nicht von heute auf morgen, und es bedurfte im Laufe der Jahre noch vieler Korrekturen. Otto ließ sich „nachanalysieren“ und ich nahm auch indirekt auf ihn Einfluß: über andere Personen und durch Spielen bestimmter Rollen innerhalb der Bewegung des „Wiener Aktionismus“.

In seinem großartigen Österreichbuch hat G. Behr den Einfluß meiner Ideen auf Mühl zwar richtig beschrieben — und sogar Peter Weibel hat in seinem reizenden Bändchen über Wien auf diese Tatsache hingewiesen, aber diese Schriftsteller konnten das volle Ausmaß meiner Bemühungen nicht abschätzen. Lediglich Erika Miš hatte einmal einen lichten Augenblick, als sie mir in einer Revolutionssitzung der Fallenberg-Gruppe vorwarf, ich hätte Mühl nie aus der analytischen Übertragung entlassen, sondern manipuliere ihn immer noch. Alle seine Ideen, sein Verhalten, seine Gesten seien ein Abklatsch meiner selbst, ja mehr noch: Eine Realisierung meiner Pläne, die ich anderen imputiere, während ich selbst ein völlig anderes Leben führe. Damals, Barbara kann es bezeugen, fühlte ich mich durchschaut und hatte Mühe, Erikas peinliche Erkenntnis als „Hausparanoia“ zu interpretieren.

Unter dern Einfluß der „Analyse“ wandelte sich Otto Mühl zum Aktionisten. Er zerstörte das Tafelbild, kam zu Raumgespinsten, von da zur Demonstration des Umgehens mit Material, zur Demonstration seiner selbst und zu guter Letzt zur Destruktion seiner Persönlichkeit und zur Neuschöpfung seiner selbst. Damit war die Schwelle vom Künstler zum Golem überschritten.

Von Otto Mühl als Golem verlange ich Triebstärke und Zeugungskraft, die Fähigkeit, schwächere Individuen auf seine Lebensform zu bringen, sie zu lenken und zu schützen, eine Urhorde — mit ihm als Pascha — zu bilden, die sich in den zu erwartenden Wirren des Untergangs dieser Welt erhalten soll.

Die Auswahl seiner Hordenmitglieder war eine heikle Sache, die ich Otto allein nicht zumuten konnte. Deshalb baute ich eine „Experimentalgruppe“ auf, die ich auf die künftigen Aufgaben hin konditionierte, vor allem durch Erotisierung und Sexualisierung. Dann schleuste ich die Leute nach und nach bei Mühl ein und löste sie von mir ab — bei einigen war dies nur durch gezielte Psychoschocks möglich. Der Erfolg gibt mir recht: die von mir ausgebildeten Leute gehören nun zu Mühls „Stammpersonal“ und verändern auch Otto selbst noch weiter in meinem Sinn.

Die Golem-Horde kann sich nun selbst erhalten und nach meinen Prinzipien weiterentwickeln: Otto setzt gewisse Äußerlichkeiten meiner Methoden ein, nennt dies „aktionistische Psychoanalyse“ und bringt damit einen weiteren Ausleseprozeß in Gang. Das ganze hat in Wahrheit mit Psychoanalyse soviel zu tun wie das Doktorspielen der Kinder mit Medizin, aber es ist genau so wichtig. Wer es durchschaut, scheidet aus. Er ist zu intelligent, zu selbständig, nicht brauchbar für diese Art von Gruppe. Wer es ernst nimmt, mittut, unterwirft sich rituell, akzeptiert die Verhaltensnormen der Horde und ihres Paschas und ist brauchbar.

Daß Otto Mühl dafür — anders als ich, der ich für Analysen kein Honorar verlange, weil ich mich als eine Art Seelsorger fühle — „wie ein Modearzt“ Geld nimmt, sei ihm gegönnt. Schließlich besitzt er ja sonst keine Kenntnisse und Fähigkeiten, von denen er leben könnte.

Wie ich es sehe, wird die Horde nicht mehr sehr stark anwachsen. Weiterer Zuwachs wäre schlecht für ihre Überlebenschancen. Die quantitative Regulation liegt im Niveau der Horde, und auch das ist genau überlegt. Oder würde es etwa Dir gefallen, mit anderen elf Leuten in einem Hochbett zu schlafen und durcheinanderzuvögeln? Eben! (Die Freuden des Obdachlosenasyls. Gute alte Manson-Family!)

Der Gedankenfehler der Philosophen des Underground und vor allem meines sehr geschätzten Kollegen Leary war der, daß sie aus kleinen Stämmen zu einer neuen Gesellschaft kommen wollten. In Hinsicht auf die Stämme (ich nenne sie Horden und sie sollen nicht mehr als etwa 20 Personen umfassen) stimme ich ihnen zu, aber nicht was das Zusammenwirken der Stämme, gemeinsame Ideologie und gemeinsames Verhalten betrifft. Meine Golemphilosophie besagt, daß jeder Stamm eine andere Basisideologie, andere Verhaltensnormen haben und mit den anderen Stämmen nicht zusammengeschlossen sein soll. Diese Verschiedenheit ist aber weder willkürlich noch künstlich herbeigeführt, sondern soll durch „totale Analyse“ bis zum Grund jedes einzelnen erzielt werden. Denn selbst hier gibt es Unterschiede, aber die sind dann echt. Nur so ist die Chance vorhanden, möglichst vielfältiges psychisches Keimmaterial hinüberzuretten. Was davon sich dann unter neuen Bedingungen schließlich durchsetzen wird, soll die Zukunft weisen.

Eine Eigenschaft müssen jedoch alle Einzelmenschen und Gruppen haben, um als Golem dienen zu können: Sie müssen — und darin gehe ich mit meinem Kollegen Laing konform — völlig verrückt sein. Denn normal heißt normal für diese Gesellschaft, für unsere jetzige Welt, die ja restlos vernichtet wird. Darum muß es meine Aufgabe sein, möglichst viele Menschen auf den Weg der völligen Verrücktheit zu bringen, den einen so, den anderen so. Otto Mühl ist nur mein erster Golem. Andere werden folgen.

Mein Aufruf, an alle, die es angeht: Wer ernsthaft den Wunsch hat, verrückt zu werden, der melde sich bei mir: Josef Dvorak, 3532 Mottingeramt 24. Postkarte genügt. Es kostet nichts, nur ehrliche Anstrengung. Denn leicht ist es nicht. Hysterikerinnen und Sensationslüsterne werden nicht angenommen. Wer nur pudern will, soll zu Otto Mühl gehen, wer zahlen will, gehe lieber zur Psychoanalytischen Vereinigung, Adresse im Telefonbuch. Wer schon verrückt ist und aus irgendwelchen Gründen normal werden will, wende sich an einen Arzt.

Du wirst jetzt fragen: Steht es wirklich so schlimm mit unserer Welt? Leider muß ich sagen, ja. Schon in der ersten Nummer der Blutorgel, der von mir herausgegebenen aktionistischen Zeitschrift, habe ich (im Artikel „Blutorgelei als Daseinsgestaltung“) Jahre vor den Untersuchungen des Clubs of Rome, den totalen Niedergang der Wirtschaft, eine Krise durch Umweltverschmutzung und Übervölkerung für das Jahr 2000 vorausgesagt und als Heilmittel den totalen Delirismus empfohlen. Heute sage ich, daß alle Versuche, das Ende aufzuhalten, zu spät kommen werden. Die sozialistische Revolution ist ja schon längst überfällig, aber die verschiedenen kapitalistischen Bemühungen, das System doch noch zu retten, haben die Krankheit unter der konservierten Hautoberfläche des Patienten so weit vordringen lassen, daß nun keine Medizin mehr wirken will. Also bleibt nur mein Golem.

Oder die zweite Art Golem, von der ich geschrieben habe. An dieser anderen Art arbeiten schon Kybernetiker, Techniker und Mikrobiologen in den USA, in Japan und auch in Österreich: Es ist der echte Robot, ein sich selbst regenerierendes, generierendes und programmierendes elektronisch-mechanisches System, das imstande ist, nach dem Untergang dieser Menschheit zu überdauern, und das sämtliche Informationen gespeichert hat, um im günstigsten Zeitpunkt neues menschliches Leben erzeugen zu können.

In der Hoffnung, daß dies nicht nötig sein wird und Du — so wie im Falle Otto Mühl — auch weiterhin meine Bemühungen tatkräftig unterstützen wirst, verbleibe ich dankbar Dein Freund

(Josef, ehemals lieber Gott von Wien, nun Guru im Waldviertel)
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