FORVM, No. 135
März
1965

Werkstatt als Schule des Lebens

Zu Doderers Tagebuch eines Schriftstellers, 1940-1950

Es ist unwürdig, sich den Tatsachen zu verschließen. Es ist allerdings noch unwürdiger, von vornherein mit ihnen intim zu sein. Aber sich selbst in ihnen zuerkennen, das allein begründet eine Freundschaft mit der Welt.

Heimito von Doderer

Nachdem „Die Dämonen“ sich 1936 als vorläufig unvollendbar erwiesen hatten, begann Doderer im Winter 1936-37 seinen kürzeren Roman „Ein Mord den jeder begeht“ zu schreiben — in einem Gasthof in Dachau. Als genauer Beobachter jeglicher Art von Lebensflucht in „zweite Wirklichkeiten“ gingen Doderer die Augen in bezug auf seine eigene ideologische Infektion von 1933 auf (wodurch er vielleicht erst recht befugt war, dereinst „Die Dämonen“ gültig zu vollenden). Nach Wien zurückgekehrt, dichtete er den kleinen humoristischen Roman „Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal“, den der verstorbene Hanns von Winter mit der trefflichen Formel „Erlösung von totaler Ordnungspein“ entschlüsselt hat. (Das lebensfrohe Lustspiel ist ja seit eh und je die österreichische Weise, zu todernsten Fragen des Daseins Stellung zu nehmen — man denke nur an Hofmannsthals „Schwierigen“, Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Güterslohs „Sonne und Mond“ oder Eisenreichs „Urgroßvater“.) Dieser Roman blieb jedoch wohlweislich während der Nazizeit unveröffentlicht (genauso wie der beendete erste Teil der „Dämonen“). Dafür erschien 1940 der viel früher verfaßte Barock-Roman „Ein Umweg“ — sozusagen symbolisch für Doderers eigenen beginnenden Umweg zu seinem reifen Romanwerk der Fünfzigerjahre. Die „Tangenten“ [*] berichten nun von seinen fünf Kriegsjahren als Offizier der deutschen Luftwaffe und den ersten fünf Nachkriegsjahren, da über Doderer ein widersinniges Veröffentlichungsverbot verhängt war und er nur gelegentlich Essays unter dem Pseudonym René Stangeler veröffentlichen konnte. „Was unter solchen Verhältnissen, unter solchem Gegendrucke, von solchem Gegengewichte ausbalançiert, geschrieben wird, dem muß ein erhöhtes Maß der Gültigkeit innewohnen: das ist ohne weiteres klar“ (254), schreibt der Dichter und begründet damit die Publikation seiner Tagebücher aus dieser Zeit. Sie entstanden unter fast hoffnungslosen Umständen und ohne Seitenblick auf ihren Druck, betont der Autor in seiner „Vornotiz“, und wir glauben’s ihm gerne. Zu beherzigen ist gleichfalls die Anmerkung, die jedem Ernstnehmen der „zweiten Wirklichkeit“ des Dritten Reiches von seiten des Autors energisch widerspricht, und das mit der lapidaren Erläuterung: „Hier gründet der Unterschied zwischen meiner Haltung und der Ernst Jüngers“ (118). Weiß Gott! Außerdem muß das von Doderer oft zitierte tibetanische Sprichwort „Wer den Weg weiß, lebt auch in der Hölle behaglich“ durch sein aufschlußreiches Seitenstück ergänzt werden: „In der Hölle lebt nicht behaglich, wer selbst ein Teil der Hölle ist“ (255).

Der Leser erwartet einen Einblick in die Werkstätte des Romanciers. Er wird nicht enttäuscht. Der „Epilog auf den Sektionsrat Geyrenhoff“ geht der Kompositions-Krise dieses Hauptwerks auf den Grund, wobei die problematische Figur des René Stangeler besonders scharf durchleuchtet wird. Hier fällt manches richtende Wort an die eigene Adresse. Herbert Eisenreich hat von Doderers „Roman als Selbstgericht“ gesprochen; das trifft auch auf die Tagebücher zu (die in ihrer Strenge manchmal an Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“ erinnern mögen). Nun, tauchen die „Dämonen“ für Jahre im Wellengang der „Tangenten“ unter, so steigt dafür aus ihrem Auf und Ab die „Strudlhofstiege“ inselhaft empor („Auf dem Weg zur Strudlhofstiege“). Wer hätte geglaubt, daß die in mozartischer Schwebe gehaltene Romankomposition der „Strudlhofstiege“, daß diese „Sprach-Manier, welche über das Fundament eines genauesten und grammatisch simplifizierten Ausdrucks gleichsam eine bunte Lasur-Schicht sehr gelockerter und euphorisch-beiläufiger Ausdrucksweise“ legt (432), die überraschende Frucht nomadischer Soldatenjahre gewesen ist! Ein Teil dieses Romans ist sogar in norwegischer Kriegsgefangenschaft entstanden und der Verfasser glaubte sie zeitweilig verloren, die übrigen Teile schrieb er in der Zeit der Depression und allgemeinen Hungersnot der ersten Nachkriegsjahre. Die Entstehungsgeschichte nicht nur der „Dämonen“, sondern auch der „Strudlhofstiege“ ist ein überaus faszinierender „Roman für sich“ (nachzulesen auf Seite 599).

Doderer selbst weiß sehr wohl um die Gnade dieses unverhofften Geschenks, dieses augenfälligen Beweises seiner Theorie von der wahren Dichtung als „aufsteigender Erinnerung“: „Was mir durch die „Stiege“ geschenkt wurde, ist fast das Zentrum der Substanz meines Schreibens überhaupt, das solchermaßen herauf trat: etwas wie ein sichtbar werdender Mittelpunkt. Denken wie der Tiger springt; schreiben wie der Bogenschütze schießt; wachsam sein und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften: das zusammen macht einen Autor“ (724). Doch auch die Spuren anderer Werke können vom interessierten Leser in diesem Konvolut entdeckt werden. So notiert der Schriftsteller nach Abschluß seiner Studien am „Institut für österreichische Geschichtsforschung“, daß er sich mit der Fachwissenschaft in den „Merowingern“ auseinanderzusetzen gedenke (am 26. Februar 1950). Passagen der späteren „Posaunen von Jericho“ erklingen bereits im Jahre 1949 (671-72), und im nächsten Jahr wird das Schiffswrack bei Nußdorf „nach der Natur“ beschrieben (814). Kurz: die Tagebücher sind ein unersetzliches und ergötzliches Werk für alle Doderer-Scholaren. Darüber hinaus sind die „Tangenten“ als eine einzigartige „Kunst der Erzählung“ zu bezeichnen. Von vielen Roman-Definitionen sei nur eine herausgegriffen: „Der Roman. Mit Macht ergreift mich — seit ich Menschen ausführlicher betrachte — die Vorstellung von meiner zuständigen Kategorie des Geistes, der empirischen, und von einer Pro-Contra freien Synopsis des Lebens in seinen verwobenen Erkrankungs- und Selbstheilungsprozessen, ein Blick, dem ganz in der Ferne sich der leuchtende Punkt des amor benevolentiae zeigt, wahrhaft ein archimedischer Punkt, jenseits aller Gefühle der Sympathie und Antipathie, deren Narben das Herz überstanden hatte. In diesem erreichten Augenblicke stünde sie, die apperzipierte Kugel des Lebens, stünde sie fest und doch bebend von Spannung über ihren diametralen Pfeilern, deren notwendige Gegensätzlichkeit durch ihr Tragen zur Anschaulichkeit gebracht und ohneweiters evident gemacht wäre: das versteh’ ich heute unter dem Roman“ (412—13). Das hätte Fontane nie formulieren können, doch hätte er — fast als einziger deutschsprachiger Romancier vielleicht — mit Doderer übereingestimmt.

Einblicke in die Werkstätte des Romanciers Doderer sind zugleich Lebensweisheit im ursprünglichen Sinne des Wortes. Man könnte auch von Reife sprechen, wenn dieser Begriff nicht unserem Zeitalter abhanden gekommen wäre. Gäbe es einen Index zu diesen reichhaltigen Tagebüchern, so wären wahrscheinlich die meisten Eintragungen unter den Stichwörtern „Apperzeption“, „Dummheit“, „Freiheit“, „Geschichte“, „Ideologie“, „Intelligenz“, „Leere“, „Nichts“, „Ordnung (richtige und falsche)“, „Revolution“, „Sprache“ und „Wirklichkeit (erste und zweite)“ zu finden. Immer wieder umkreist Doderers Denken die in diesen Zentralbegriffen enthaltene schicksalhafte Problematik. Doch handelt es sich dabei nie um ein sprachlich steriles Philosophieren, sondern um eine originelle Fortsetzung der österreichischen Moralisten. [**] Die jedweder Systematik abholde Lebensweisheit der österreichischen Moralisten seit Grillparzer bedient sich sowohl des Aphorismus wie des Essays, des Briefes (Villers, Rilke, Kafka) wie auch des Tagebuchs. Ja, das Tagebuch kann sogar all diese Formen zusammenfassen und spiegeln, wie es besonders in den Tagebüchern Kafkas und Musils der Fall ist. Auch Doderers Tagebücher enthalten in lebendiger Fülle Aphorismen (Vorstufen des als Ganzes noch unveröffentlichten „Repertorium“), Essays, Roman-Entwürfe, Briefe und Kürzestgeschichten. An existentieller Intensität und sprachlicher Prägnanz können mit ihnen nur die Tagebücher Kafkas verglichen werden. Und das wohl gerade deshalb, weil sie den vollkommenen Gegenpol zur Welt Doderers in der modernen Österreichischen Literatur darstellen.

Es geht in den „Tangenten“ um die existentielle, schöpferische Apperzeption der ganzen, komplexen Wirklichkeit. Man könnte sie eine „Schule des Sehens“ für Erzähler nennen (in Anlehnung an Doderers großen Zeitgenossen Kokoschka). Der mystischen Innenschau wird in klassisch österreichischer Weise entsagt: „Die Tiefe ist außen. Das Innen ist nur ein Weg dorthin“ (803). Nicht weniger unwirklich sind die utopischen Visionen des Ideologen, des Revolutionärs: „Er ist unfähig, dem Seienden, dem so und nicht anders Seienden zuzustimmen, er ist zu schwach, er biegt in ein phantasmagorisches und bestechendes Pathos aus, ein revolutionäres Pathos des Sollens dieser Welt“ (219). Deshalb taugt weder der Mystiker noch der Ideologe zum Romancier, dessen eigentliche Ebene noch immer die empirische ist. (Hierin geht Doderer konform mit Lukács’ „Theorie des Romans“ von 1920.) Ja, Doderer geht noch weiter: „Der Schritt hinaus ist alles. Auch ästhetisch. Was wirklich geschehen wird, ist schön. So einfach ist die Ästhetik des Romanciers!“ Das klingt schon goetheisch („Wie es auch sei, das Leben, es ist gut“). Goethe wird dann auch aus Anlaß der Lektüre seiner „Italienischen Reise“ als „gewaltiger Apperzipierer“ gefeiert (345) und die Gestalt des Lynkeus als beispielhaft angeführt. Wird jedoch einmal das Seiende als schön erkannt, weil es wirklich ist, so muß es auch wahr sein. Diese Gleichung ist für Doderer als „geborenem Thomisten“ nicht schwer zu vollziehen: „Und in dieser Weise muß jeder Erwachsene und schon gar jeder Prosaiker einmal sozusagen Thomist werden, da hilft alles nichts. Denn unsere Welt, wenn wir sie der Wahrnehmung entreißen und der Vorstellung ganz überantworten, wird allzu leicht von den Dämonen erobert“ (263). Müde der revolutionären terribles simplificateurs jeglicher Schattierung, die im „mausgrauen Aschenkasten des Unanschaulichen, im Schattenreich der Untertatsächlichkeiten“ hausen (207), will Doderer nichts weniger als die neuerliche Landnahme der gegebenen Wirklichkeit, die für ihn aber Vacua nicht erklärbaren Un-Sinns mit einschließt. Dem wirklichen Romancier ist „jeder Augenblick des Lebens ein hochkomplizierter Akkord, ein Differentialbruch, unauflösbar, eine chymische Unio des Disparatesten“ (741). Ach, wie viel sogenannte moderne Literatur scheint im Vergleich hierzu ein kindliches Phantasiespiel, ein Schmollen im selbstgezimmerten ideologischen Sandkasten ...

Der beste Ausdruck der schöpferischen Apperzeption ist für Doderer die Sprache: „Sprache und Wahrheit bedingen einander nicht nur, sondern sie können als identisch erschaut werden“ (637). Doch gilt das mitnichten von jedem sprachlichen Ausdruck! Offenbar angeregt von Gütersloh und Kraus, sucht Doderer die Gründe für die Misere der Hitler’schen „zweiten Wirklichkeit“ im Sprachlichen, eben in ihrer „zweiten Sprache“. Denn entweder ist alles miteinander zu lebender Einheit verquickt — Wirklichkeit, Wahrheit, Schönheit, Sprache — oder alles ist doppelt. Den Beginn dieser wahrhaft fatalen Entzweiung sieht Doderer im 19. Jahrhundert: „Jeder Weltuntergang ist in erster Linie eine sprachliche Katastrophe gewesen ... In einem wirklichen Kosmos hat sich das Wort, das zu Anfang war, bis ins Letzte durchgesetzt. Alles ist benannt und damit beherrscht ... Dem neunzehnten Jahrhundert wurde das Unmögliche vollziehbar, nämlich die Trennung von Inhalt und Form ... Die Sprache verlor ihr stabiles Gleichgewicht ... Es entstand eine Welt ohne Mittelpunkt und vor allem in Deutschland, dem Lande ohne Mittelpunkt ... Die wissenschaftliche Prosa des neunzehnten Jahrhunderts ist bereits durch und durch politisch: sei sie auch mit durch und durch unpolitischen Sachen befaßt. Das heißt, jener Leute Schreiben lag in der direkten Verlängerung ihres bewußten Denkens über irgendeinen Gegenstand ...“ Das alles ist ungekürzt in der Abschrift eines Doderer’schen Briefes an seinen Lehrer Gütersloh nachzulesen (420-26), dessen vorbildhafte Größe für Doderer gerade in der Tatsache besteht, daß er als Autor keinerlei Anteil an der sprachlichen Katastrophe des 19. Jahrhunderts gehabt hat.

Auf dem Terrain der sprachlichen Erfassung der Wirklichkeit werden wohl die aufregendsten Schlachten dieser Tagebücher ausgefochten. Und zwar sind es die Kämpfe eines eingefleischten Österreichers gegen gewisse deutsche Grundüberzeugungen, die wahrhaftig tief wurzeln. Es ist sinnvoll und amüsant, daß diese Kämpfe sozusagen hinter dem Rücken des „Feindes“ ausgetragen werden, da ja Doderer selbst in der Uniform der deutschen Luftwaffe stak! Österreichisches Schicksal. Der österreichische Autor kann sich eben manchmal nur mit seiner Feder und seinem Wort für seine andersgeartete Weltschau einsetzen. Und siehe, das Wort siegt und übersteht die Gewalt der Geschichte. Ein exemplarischer Vorgang. Die Verirrungen des eigenen Frühwerks und Jahrhunderte deutscher Flucht aus der Wirklichkeit — oder auch ihre „Umdeutung“ (gemeint ist die ausgezeichnete Formel J. P. Sterns „Re-Interpretation“) — werden genau erkannt und verurteilt. Damit wird ein weiteres Glied der seit Grillparzer nicht mehr abreißenden Kette des kritischen deutsch-österreichischen Dialogs hinzugefügt. Ein „Selbstheilungsprozeß“ des Lebens hat sich vor den Augen des Lesers vollzogen, der beispielhaft nicht nur für jeden Einzelnen, sondern zugleich für die heutige Literatur, ja selbst für jede organisch gewordene Staatsgemeinschaft sein dürfte. Schon Hofmannsthal sagte: „Starke Phantasie ist konservativ.“ Besonders wenn es um die Erhaltung eines menschenwürdigen Lebens geht.

[*Heimito von Doderer: „Tangenten“. Luckmann-Verlag, Wien 1963.

[**Vgl. das Kapitel „Theologie als Grammatik: Der Aphorismus als die österreichische Form des Philosophierens“ in „Das große Erbe“, Graz 1962.

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