FORVM, No. 432
Dezember
1989

Wie Hedwig Lachmann starb

Dank
Ich habe den Tod meiner Frau miterlebt; dann hat die Kraft nicht weiter gereicht, als den Freunden die furchtbare Tatsache mitzuteilen. Mein erster Dank für Einkehr und Zuspruch ist so Bitte um Nachsicht; ich werde zu allen, die sie gekannt und geliebt haben, noch einmal kommen und ihnen den Dank bringen, der einzige Tröstung birgt: ich werde erzählen, wie Hedwig Lachmann gestorben ist.
In Liebe mit allen vereint, die sie geliebt haben

Gustav Landauer

Noch lebe ich in dem Sterben meiner Frau und will davon nicht weg. Wundre sich keiner, daß ich die Feder halten und Sätze bauen kann; es fällt nicht leicht, aber es soll gehen; ihr, die ihr sie im Leben gekannt habt, sollt erfahren, welches Leben ihr Sterben war.

Vielleicht, daß ich später einmal von ihrem Leben Bericht erstatten kann; hier deute ich an, welches die einzige Art war, in der sie dichten konnte; ohne daß zwischen ihr und der Gestalt, die sie gebären wollte, Papier oder Feder war; wartend, stunden- und tagelang im Stillesitzen oder Stehen den Vorgängen tief drunten im Unbewußten lauschend und standhaltend. Man wird verstehen, wieso ich hier sage, daß Hedwig Lachmann ihren Tod auf ihre Art zu dichten empfangen hat.

Ich werde, wenn ich von ihrem Sterben rede, von mir nicht immer schweigen können; ich war dabei und oft ich allein. Ich glaube, ohne Scheu sei es gesagt, daß ich bei manchem, was ich zu schildern habe, in einem schönen Lichte dastehn werde; trägt leider keiner je in alle Kleinigkeiten des Lebens seine Liebe hinein, so habe ich doch von Anfang an diese Krankheit nicht als widriges Leben, sondern als Tod erkannt und bin in jedem Augenblick zuinnerst bei der Leidenden gewesen. Das sage ich, weil diese Erklärung zur Sache gehört, nicht um mich zu rühmen; und das Schicksal darum zu preisen, bin ich nicht stark und entrückt genug; ich soll leben und sie lebt nicht mehr.

Sechsmal vierundzwanzig Stunden, von denen der Schlaf nur recht wenige abgezogen hat, sind keine so kurze Zeit; sie hat ausgereicht, daß Hedwig Lachmanns Leben in ruckweisem Übergang ungeheuer intensiv und gesteigert und in eine andere Sphäre gebracht wurde, — ich weiß nicht, soll man sagen: gesenkt oder gehoben? Seit ich diesen Tod erlebt habe, ist mir anschaulicher und unverlierbarer Besitz geworden, was ich vorher in einer nicht annähernd so gewissen Art gedacht habe:

daß, was in geheimsten, tiefsten Schächten einer reinen Menschenseele lebt, eben das ist, was wir oben in der Höhe suchen: der Himmel.

Sie war immer gesund gewesen; kleine Unpäßlichkeiten und Funktionsstörungen hat sie gekannt; Krankheit nicht. Wir waren in ihre Heimat gezogen, um in dieser abnormen Zeit natürlich und gedeihlich leben und arbeiten zu können, und hatten gefunden, was wir suchten. In der letzten Zeit, von Weihnachten bis in den Februar hinein, als unsre fünfzehnjährige Tochter Gudula in Ferien zu Hause war, war sie besonders heiter und sogar fröhlich gewesen. Dann kam ein für sie ungewöhnlicher, ziemlich heftiger Katharrh; sie fühlte sich ein paar Tage gar nicht wohl, war aber nicht bettlägerig. Ähnlichen Katharrh hatten in der Zeit wir alle. Ihr Befinden besserte sich dann; sie hustete noch ein wenig, aber so, daß sie der Sache keine Beachtung mehr zu schenken brauchte; sie ging zu Besorgungen aus und machte auch ein paar Spaziergänge von ein, anderthalb Stunden mit mir. Ich brachte dann eine Begegnung mit zwei durchreisenden jungen Neffen in Ulm zustande; nach einigem Zögern, das aber mit Gesundheitsgründen nichts zu tun hatte, entschloß sie sich, die kleine Fahrt mitzumachen. Es war nach strahlend schönen Tagen der erste mit schlechtem Wetter; ein rauher Regenwind blies. Schon auf der Hinfahrt meinte sie, ihr Schnupfen komme wohl wieder; in Ulm war sie ziemlich, aber nicht ungewöhnlich still und auch darauf bedacht, nicht gar zu viel im Freien zu sein. Auf der nächtlichen Heimfahrt war sie zuerst matt, und es fiel mir auf, daß sie, als ich sagte, es sei schön gewesen, erst eine gewisse Starrheit überwinden mußte und mich wie mit ernstem Fragen ansah; dann aber tauschten wir frohe Eindrücke, die der Tag gebracht hatte, aus, und sie wurde sehr aufgeräumt, wir unterhielten uns lebhaft. Später brachten es ungünstige Verkehrsverhältnisse mit sich, daß wir eine Stunde lang in der Kälte und in Zugluft warten, dann noch anderthalb Stunden lang frierend in der ungeheizten Bahn sitzen mußten; da schlief sie die meiste Zeit. Als wir nach halb ein Uhr nachts vom Bahnhof schnell nach Hause gingen, fror sie heftig. Frierend — es war wohl ein Schüttelfrost — ging sie zu Bett und schien sofort einzuschlafen. Am nächsten Morgen, 15. Februar, einem Freitag, konnte sie nicht aufstehen, fühlte sich recht übel und als ich dann die Temperatur maß, hatte sie ziemlich hohes Fieber. Der Arzt stellte eine Lungenentzündung fest.

Das Fieber stieg noch an diesem Vormittag bis 40 Grad; von da an sank es wieder, und sie hatte von nun an nur wenig erhöhte oder scheinbar normale Temperatur; das eine oder andere Mal auch etwas wie Untertemperatur. Die Entzündung begann unten auf der linken Seite, stieg dann nach oben und griff auf die rechte Seite über. Schmerzen empfand sie anfangs fast keine, dann erst erträgliche, später ganz gelinde, und in den letzten zwei Tagen keine mehr. Dagegen war ihr am ersten Tage sehr übel; in der Mitte der ersten Nacht brach dann unter Erbrechen kalter Schweiß aus, und von da an wurde es mit der Übelkeit besser, bis sie sich ganz verlor. Sie hatte bis wenige Stunden vor dem Tod starke Hustenanfälle, bei denen sie viel Kraft ausgab. Sie litt, auch als das Fieber so gut wie fort zu sein schien, unsäglich unter Durst. Aber man ließ sie nicht leiden; sie hatte immer etwas, was sie erquickte.

Vom allerersten Anfang an kam aus ihr ein in Stunden und Stunden unaufhörliches Stöhnen hervor, aus völliger Unwillkürlichkeit heraus; sie mußte; auf Befragen des Arztes führte sie es erst, zögernd und suchend, auf die Übelkeit, dann auf das Fieber zurück. Die Frau, die da gleichmäßig, monoton, beinahe rhythmisch stöhnte, ohne daß sie mit ihrem oberen Willen es beherrschen, in ihrem Oberbewußtsein es recht begründen konnte, war aber am ersten Tag schon dieselbe, die später in Phantasien und Symbolen lebte und aus tiefem Grunde heraufrief; es war, als wäre in der Frau drinnen, die sich mit ihrer Umgebung manchmal noch über Kleines und Großes besprach und bald kaum mehr Schmerzen zu empfinden glaubte, eine andre, in ihr, wie hinter ihr, die Unsägliches litt und sich unsäglich wandelte.

Wirklichen, erquickenden Schlaf hat sie von Ausbruch der Krankheit an keinen mehr gefunden; ließ man sie allein oder sprach nicht mit ihr, so war es, als versänke sie; aus diesem bösen Scheinschlaf erwachte sie dann geschwächt und war ängstlich bemüht, wach zu bleiben. Ich half ihr dabei, später, bei Tag, auch ihr Bruder und zumal ihre Schwester; in den Nächten war ich mit ihr allein, und zwei Nächte, die beiden letzten vor ihrer Sterbenacht, verbrachten wir zwei selbander in einer Stimmung, für die ich kein andres Wort weiß als gedämpfte und etwas kauzige Heiterkeit. Ich muß dazu sagen, daß ich vom zweiten Tag an, obwohl da die äußern Symptome die günstigsten schienen, verzweifelt war und kaum mehr Hoffnung hatte; sie aber glaubte, daß sie Schweres durchmachte und ertragen mußte, weil sie der Krise entgegenginge, die ihr die Rettung brächte. Gerade vor einem Jahr hatte eine geliebte kleine Nichte in einer sehr schweren Lungenentzündung einen Kampf auf Leben und Tod geführt, und Hedwig war in der Krisennacht dabei gewesen und hatte die Rettung und die rasche Wendung aus Ärgstem zur Besserung miterlebt; so machte sie sich auf furchtbare Tage gefaßt, war aber getrost. Ich hätte damals nicht begrifflich zu sagen gewußt, daß ihre Krankheitsform ganz anderer Art sei; aber von dem Tag an, wo das Fieber weg zu sein schien, ihre Kräfte aber sanken, schwand mir die Hoffnung. In den zwei letzten Nächten nun war sie zugleich bei ganz klarem Bewußtsein und in der unentrinnbaren Notwendigkeit, kuriose Dinge zu sehen und vor allem zu denken und zu sprechen; ich hatte die Kraft, mich wie spielend in diesem Doppelreich des Traums und der Klarheit mit ihr zu bewegen, und so tummelten wir uns durch Stöhnen, Krankheitserscheinungen, Phantasien und Gespräche als durch eine mal magische, mal tolle Trübung hindurch, hinter der ihr die Genesung leuchtete. In allem war sie wunderbar geduldig, milde und in ihrer zugleich sanften und bestimmten, überlegenen Art ironisch gegen die vor ihrem Willen immer leicht verwehenden und doch immer wieder aus der Luft zusammengeballten und zudringenden Phantastereien.

Am Nachmittag des 19. Februar war auf einen Schlafzustand, der in schwerem, scharfem, schnellem Atmen in Bewußtlosigkeit ausgeartet war, ein Erwachen zu einem Zustand erfolgt, der zugleich äußerste Schwäche und Entfliehen der Herrschaft über die Geistesklarheit brachte. Davon erholte sie sich aber wieder, und ich konnte ihr, ohne daß sie irgend erschrak, sagen, daß ihrer die größte Freude wartete, die ich ihr in Krumbach verschaffen konnte: ich hatte am Tag zuvor ihre Schwester telegraphisch dringend gebeten, unsre Tochter Gudula zu bringen, und die Ankunft der beiden stand nun bevor. Hedwig erwartete und empfing sie mit sanfter, inniger Freude. Wir bewahrten sie dann, soweit es nur ging, vor dem Unheilsschlaf, den sie selbst auch fürchtete, und die nächste Nacht war die zweite von denen, die ich geschildet habe.

Darauf folgte der letzte Tag, den sie lebte, und ihr Sterben hub an. Die Lungen keuchten, das Herz wurde schwach, sie war nur noch zu Zeiten bei uns; das Gestalten der Worte wurde ihr allmählich schwer, und was sie dann sagte, wurde ein Rufen aus der Tiefe herauf und war oft vermischt mit Phantasien, deren sie sich nicht erwehren konnte. Sie wollte es aber und äußerte oft ihren Unwillen über das wirre Zeug, das sie nicht los wurde. Doch kam dieser Unwille mit Ironie heraus, in der Art, wie sie, als sie ihr Gesicht, dessen Züge gespannt und scharf geworden waren, im Spiegel betrachtete, zwischen Seufzen und Lächeln von einem schönen Ponim sprach. Solche jüdischen Worte, auch hebräische Wendungen, von denen sie vielleicht seit der Kinderzeit nichts mehr gewußt hatte, äußerten sich jetzt manchmal. Im großen Ganzen drehten sich die Phantasien, die ihr in die Quere kamen, um höchstgebildete, gelehrte Dinge, und immer wieder wurde sie leise unwirsch gegen das „Schulmeisterzeug“, das sie nicht los wurde. Ich kann von alledem fast keine Beispiele anführen, weil mir fast alles schon wieder entschwebt ist; ich lebte es so traumhaft leicht mit, wie es ihr selbst kam und ging, und gewiß wurde dieses mein Mitleben in ihrem Reiche gefördert von meiner Übermüdung infolge des fehlenden Schlafes. Was ich aber nun im weiteren mitteile, gehört einer anderen Stufe an, von der ich nach Inhalt und Ton so überwältigt wurde, daß ich die meisten dieser Äußerungen gewiß nie vergessen hätte; ich ging aber an diesem Abend und in der Nacht manchmal von ihr weg ins Nebenzimmer, um wieder Kraft im Schmerz zu holen, den ich, wenn ich bei ihr war, nicht aufkommen ließ, und da schrieb ich mir manche ihre Worte sofort auf. Einiges andere hat auf meinen Wunsch ihre Schwester in den Tagen nach dem Tode aufgezeichnet.

Sie merkte im Verlauf dieses Tages, wie sehr schwach sie war, und wurde ängstlich. Lange dürfe die Wendung zum Bessern nicht auf sich warten lassen, äußerte sie; viel könne sie nicht mehr aushalten. Als der Arzt gegen 6 Uhr abends — zum letzten Mal — da war, bat sie ihn leise und flehentlich, heute noch einmal zu kommen. Dann versank sie immer mehr, und wenn sie aus ohnmachtähnlichem Schlaf erwachte, merkte man, daß eine kurze Spanne ihr wie eine lange, lange Zeit vorkam. Als sie so gegen 7 Uhr wieder einmal aus dem Traumreich auftauchte, und ich ihr auf Befragen sagte, wieviel Uhr es sei, und die Ungläubige dann auf den Besuch des Arztes, auf die Kinder, die sich zum Schlafengehen rüsteten, verwies, rief sie mir mit einer entzückenden Schelmerei in der glockenhellen Stimme und einer unbeirrbaren Sicherheit zu: „Jetzt mogelst Du ja!“ Das war kein Wort, wie sie es sonst aus ihrem Sprachschatz anwandte. Sie hatte, wie es im Traum ist, sehr bereite Ideenassoziationen im Zusammenhang mit Klangähnlichkeiten; so erinnere ich mich, als unser jüngstes Töchterchen hereinkam und freudig berichtete, Trotzki hätte sich durch Funkspruch zum Frieden bereit erklärt, daß sie von alledem zunächst nur das Wort Graziano erfaßte, das ihr wohl aus Trotzki entstanden war. Geraume Zeit später schien es mir, daß der Inhalt der Meldung doch zu ihr gedrungen war. Wenn die Kinder hereinkamen, redete sie immer, auch jetzt noch, ohne jedes Abirren in die traumhafte oder gesteigerte Sphäre, Worte aus dem Bereich der Kinder mit ihnen und lächelte ihnen aufmunternd zu; ich sah, wie schwer es ihr wurde. Zu dem Zwang, Worte und Vorstellungen zu wechseln, kam auch jetzt noch immer die Bewußtseinskontrolle, und dann gelangte sie noch hie und da zu Scherzen und ironischen Wendungen. Alles, was sie von nun an sagte, schwebte seltsam zwischen ätherischer Leichtigkeit und tiefst heraufgeholtem Pathos und ekstatischer Glut; manches kam in geprägter Form, mit einer Neigung zum Reim und zur Assonanz heraus.

Mit ihrer Schwester hatte sie ein rechtes Fest und beobachtete, während Atem und Herzschlag ihr furchtbar zu schaffen machten und ihr die Worte, wenn nicht eine Ekstase hervorbrach, nur noch leise und schwer von den Lippen kamen, mit einer Mischung aus Rührung und Ironie, wie diese Pflegerin sie betreute und sich unermüdlich um sie zu schaffen machte. Sie lobte sie um ihrer guten Hilfe willen und streichelte sie liebevoll; als ich dann in die Tür trat, sagte sie leichthin, ohne einen Moment des Besinnens:

Jede Bewegung
Eine Verpflegung.

Es ärgerte sie abwechselnd, daß ihr so viel ungeordnetes Geistige durch den Kopf ging, während sie bei uns sein wollte, und dann wieder, daß sie sich mit Husten, Keuchen, Herzqual beschäftigen sollte, wo sie doch so viel Tieferes zu bedenken getrieben wurde. So murmelte sie einmal mit beschwörender Betonung: „Ach, man muß, man muß mit diesen Dingen kämpfen. Wozu?“ Dann wies sie wieder wie eine Belästigung „die ganze Weltgeschichte“ fort, die ihr durch den Kopf ging, und sagte: „Gelt, was ich für ein Zeug zusammenrede! Das Merkwürdige ist, ich höre alles, was ich sage.“ Man mußte jetzt schon laut und deutlich reden, um zu ihr vorzudringen; sie war sehr geneigt zu Wortspielen und Verdrehungen. „Ich muß doch noch so vieles sagen“, äußerte sie zu ihrer Schwester, und als diese fragte: Was willst du mir denn sagen, liebe Hedwig? erwiderte sie mit starker Betonung: „Nicht entsagen: sagen!“ Ein ander Mal verstand die Schwester, Hedwig hätte auf ihre Mitteilung, sie wollte im Sommer mit ihren Kindern nach Krumbach kommen, geäußert: „Ich kann mich über nichts mehr freuen“, was sie dann berichtigte: „Ich kann mich doch über nichts mehr freuen.“

Manchmal zählte sie ängstlich rasch die Wochentage auf, die sie höchstens noch bis zur Krise leiden zu müssen glaubte: „Mittwoch“ — an dem hielten wir — „Donnerstag, Freitag, Sonnabend“. „Noch zwei Tage!“ rief sie, als man ihr ein Trostwort gesagt hatte, „das kann kein Mensch durchmachen!“ Dann gingen ihre Gedanken zu ihrer Freundin Paula Dehmel, die so viel schwere Lungenaffektionen und Fieberzustände überstanden hatte; da schöpfte sie eine Hoffnung, sie werde auch durchkommen. Dann aber erwog sie auch den Unterschied: „So ein kranker Organismus, sagte sie, „stellt sich ganz anders ein; der macht sich das alles schon so zurecht, wie er’s für sich braucht“.

All solche Äußerungen kamen nur noch nach Pausen, die immer länger wurden; in ihnen lag sie, stark, rhythmisch atmend, oft die Luft durch die zusammengepreßten Lippen blasend, manchmal die Lippen bewegend, ohne reden zu können, mit geschlossenen Augen da. Wenn dann aus tiefer Benommenheit oder mit Phantasien vermischt, Worte der Klarheit und Einsicht und innigster, glühender Empfindung kamen, muß man den Ton der fernen Entrücktheit dazu hören, um zu ahnen, wie himmlisch das alles war. Als sie eine Zeitlang vor den unerwünschten Phantasie-Einfällen, die sie sonst wie lästige Fliegen von sich scheuchte, Ruhe hatte, sagte ich zu ihr, diese Geschichten schienen jetzt fort zu sein. Worauf sie sogleich still, sinnend, wie zufrieden und lächelnd mit hoher Stimme melodisch vor sich hin sprach:

Entweder verflogen,
Oder nach oben.

Sie ertrug nun nicht die leiseste Last mehr auf ihrem Herzen, warf die Decke zurück und riß sich das Hemd auf. So lag sie die drei Stunden, die sie noch lebte, mit nackter Brust da; manchmal freilich, wenn sie die Augen groß aufschlug, sah sie mich an, wie prüfend, ob ich das wohl auch erlaubte, und versuchte mit ihren schwachen Fingern, die schon kühl waren, die Knöpfchen wieder gewissenhaft zu schließen.

Es fingen dann, von der Brust nach dem Halse hinauf, die Rasselgeräusche des Lungenoedems an. Da sie in starker Not die Luft tief einziehen mußte, geschah ihr dieses Rasseln im Halse in einem gewissen Rhythmus; es kamen zwischen je zwei Atemzügen wie zwischen Taktstrichen ein paar kurze Rasseltöne. Kaum war dieses Geräusch zu hören, als sie anfing, dazu, immer klarer phrasiert und immer weiter ausgebildet, eine Melodie zu singen. Sie hatte noch über drei Stunden zu leben, und diese Melodie sang sie von jetzt an unermüdlich fast bis zuletzt. Noch eine viertel Stunde vor ihrem Tod erkannte ich Fragmente dieser Melodie; sie brachte da nichts Ganzes mehr zusammen, aber sie bemühte sich um sie. Die Weise war sanft, wie wenn ein Leid ins Liebliche verduftete; ich will nicht versuchen, sie in Noten wiederzugeben; der Seelenstimmung nach erinnerte sie an ein gewisses Allegretto von Beethoven, das ich seiner lieblichen Trauer wegen den Kindertotenmarsch zu nennen pflege. Zu solcher Melodie wurde ihr ihr Sterberasseln; und nach dem Takt ihres Gesangs schlug sie immerzu mit stark ausgreifenden Bewegungen auf ihre nackte Brust, es war, als griffe sie da drinnen etwas, mir schien, es wären „diese Dinge“, mit denen sie zu kämpfen hatte und wußte nicht, wozu, und in der ferneren Bewegung, die dann weit nach außen ging, schleuderte sie das Feindliche von sich. Ich bin mir aber dieser Bedeutung nicht ganz sicher; manchmal wieder waren es Bewegungen wie vom Dirigenten eines Orchesters oder wie von einem leidenschaftlichen Paukenschläger. Meine Schwägerin hat, in Minuten, in denen ich hinausgegangen war, noch andere rhythmische Bewegungen ihrer Glieder gesehen, fast wie zum Tanz; ich will, was sie mir über diese Melodie und was dazu zu gewahren war, aufschrieb, im Zusammenhang mit ihren Worten hierher setzen:

Nach und nach bildete sich eine Melodie zum Sterbegesang; zwischendurch schien sie diesem Gesang zu lauschen mit einer Hingabe, als ob sie ganz etwas Überirdisches hörte; sie sah ganz verklärt aus von einer himmlischen Schönheit. Es schien, als ob je nach ihrem Leiden ihr Gesang glutvoller würde und je nach der Linderung entrückter. Ihr Antlitz wurde immer heiliger und engelhafter, ihre Töne immer hingegebener. Dazwischen schlief sie wohl minutenlang; sobald sie aber erwachte, begann sie ihre Melodie mit leiser Stimme, als ob sie für sich hinsummte. Dann schien sie aber in Tönen zu schwimmen, begann mit beiden Händen, im Takt ihrer Töne, mit himmlischer Bewegung abwechselnd mit den Händen ihre Brust zu schlagen und dann das Bett, oft mit Heftigkeit, als ob sie diese tobende Brust zersprengen wollte, und dann mit einer Inbrunst, als ob sie ihre Seele ausströmen wollte und sich selbst zum Opfer bringen; dann wieder ruhiger, wie wenn sie wundervoll, ganz hingegeben ein Instrument spielte. Schließlich begann sie ihre Knie nach der Melodie zu schaukeln und zu wiegen, ihr ganzer Körper schien in Tönen gebadet, und es klang, als sänge sie sich selbst ihr Wiegenlied.

Und dazu, immer furchtbarer, aber von ihr nie als furchtbar gedeutet, sondern in Musik verwandelt, das Rasseln aus dem Halse empor.

Was meine Schwägerin sagt, daß Hedwig, indem sie aus den widrigen Tönen ihres Körpers das Lied ihrer Seele selbst gestaltete, dabei doch eine Melodie draußen oder droben zu lauschen schien, war ganz auch mein Eindruck. Mir ging erschüttert und beseligt, wenn ich meine singende Sterbende ansah, eine Stelle unsres geliebten herrlichen Welt- und Seelendichters Alfred Mombert durch den Sinn:

Ich lausche meiner obern Melodie.

Ganz so war es, ganz so lag sie da, ganz so schimmerte es von ihrem Antlitz: die Melodie ihres Innern war zugleich ein Höchstinniges, Allgemeines, das nicht mehr ihr allein angehörte, dem sie wie unterworfen war und hingegeben belauschte.

Mit Worten oder irgend Sagbarem hatte die Musik, die sie mit geschlossenen oder halboffenen Lippen sang, nichts zu tun. Es waren Töne, wie man sie wohl hervorbringt, um dem Klang eines Blasinstruments, etwa einer Oboe, mit der Stimme nachzubilden.

Nun muß ich sagen, damit man alles wisse und auch verstehe, wie innig, wie händefaltend ich von diesem Lied ihrer letzten Stunden ergriffen wurde, daß ich, der ich bis ins Letzte vertraut mit ihr gelebt habe, meine Frau niemals, auf keine Art, zuvor habe singen hören. Es hat nie einen musikerfüllteren Menschen gegeben; aber zum Singen war sie — manche würden sagen, zu herb, aber es ist nicht wahr, Hedwig Lachmann war nicht herb — zu keusch war sie zum Singen, zu sehr mit dem Tiefsten ihres Wesens in der Tragik wurzelnd und im Schweigen ruhend. Sie hatte unsäglich viel Kindlichkeit; aber nichts Lautes. An mir freute sie sich, wenn ich, der ich auch ein recht ernster Mann bin, manchmal ausgelassen sein konnte; in der ersten Zeit unsrer Ehe hatte ich manchmal einen kurzen Signalgesang, den ich plötzlich in die Luft rief, und noch kurz vor der Krankheit hatte sie mich daran erinnert, daß diese und manche verwandte fröhliche Gewohnheit mir in den Kriegsjahren ganz abhanden gekommen war; sie hörte es gern, wenn ihre Kinder sangen; aber sie selbst hat nie gesungen oder gesummt. Jetzt sang sie, zum Sterben, und das Lied war gerufen von den Todestönen, die ihr aus der Brust kamen.

Ich weiß nicht, war ich schon früher von selbst darauf gekommen oder gab es mir ihre Melodie erst ein: manchmal, wenn sie wie von einem Brand zerfressen oder wie versinkend und erlöschend zu stöhnen anfing, strich ich ihr sanft, rhythmisch bezwingend über den Arm und redete ihr ohne Worte mit leisen Tönen, die wie gesungen und einlullend waren, zu. Das hatte jedesmal sofort die Wirkung, daß ihr Klagen wieder in eigenen leisen Gesang umschlug; manchmal öffnete sie dabei die Augen und sah mich fragend, sehr fragend an.

In dem, was sie nun noch, mühsam, abgerissen, schwer verständlich sagte, lag unendlich viel Verachtung gegen alle Kleinheit und Niedrigkeit in der Welt, und das Wissen, einem hohen Reich anzugehören. Einmal rief sie stark aus, denn jetzt, wenn sie so aus völligem Versinken heraufrief, lag etwas Strahlendes, Helles, fast wie Siegesgewisses in ihrer Stimme: „Keine Ahnung, wie die Rhythmen gelten, — so dumm!“ Und dann, zu mir gewandt: „Du würdest sie mir einteilen, aber es muß ja nicht gerade die eine Melodie sein — —“

Ein ander Mal sagte sie allerlei aus gelehrten Gebieten, und noch mehr wollte wohl hervor, wofür sich ihr die Worte nicht mehr boten; dann kämpfte sie wieder, diese ungebetenen Gäste, die sie nicht als sich selbst anerkannte, loszuwerden, und rief mit einem hohen, stark betonten Klang, und mit Pausen dazwischen: „Wenn das alles Plunder ist, was ich da gesagt habe — — und lauter Unsinn — — — dann werd’ ich gesund!“

Meine liebe Schwägerin hatte immer noch, auch jetzt, Hoffnung und wußte nicht, daß der Tod schon über die Schwelle getreten war. Als das Rasseln sich eingestellt hatte, sagte sie der Kranken in einer warmen, frohen Zuversicht, jetzt nahe die Krise, der Schleim beginne sich zu lösen, nun gehe sie der Genesung entgegen. Da summte Hedwig leise, still, wie ungläubig und doch nicht hoffnungslos, vor sich hin: „Kann sein, kann schon sein.“ Später schon war es, als die besorgte, hoffende Pflegerin der Leidenden verwehren wollte, so nackt da zu liegen und alles von sich zu werfen; da rief sie stark, empört und wie aufs primitivste Menschenrecht pochend: „Was schadt denn das bloß? Das steht doch jedem Bettler frei!“

Ein andermal schlug sie die Augen auf und rief laut, und es lag etwas Klagendes und froh Beherztes zugleich in dem Klang: „Ach, ich möcht’ mal ein bißchen aufstehen — ob ich die alten Eigenschaften noch habe — — — die guten bäurischen Eigenschaften — — ja die bäurischen.“ Sie hätte sich wohl besinnen müssen, wenn ihr im Leben jemand gesagt hätte, sie hätte etwas Bäurisches an sich; aber ich verstand schmerzlich gut, wieso die Sterbende, die da lag, von der Gesunden so sprach.

Daß sie aus wahrer Herzensnot Decke und Hemd von sich tat und so frei atmete, wie es ihr möglich war, deutete sich ihr ins Seelische um. Mit einer großen Bewegung ihrer Arme warf sie die Hände einwärts gegen die Brust hin und rief mir mit einer unvergleichlichen Freiheit und kühnen Innigkeit zu: „Hier — küsse mich!“ Bald nachher kam die Schwägerin wieder zu uns herein, und ich merkte, wie Hedwig in Allgemeineres ablenken wollte und doch vor Bewegtheit nicht konnte. Sie sagte, erst murmelnd, dann aber in wahrhaft gewaltigen, markdurchdringenden, himmlisch hellen Klängen rufend:

Das mit den Russen — was ist das uns? — — — Muß ich mich denn — so hinaufsteigern? — — Was soll — all der Unsinn? — — Sinn hat nur die Liebe! — — Mein geliebter Mann — mein Gatte! Und meine — Kinder — meine holden Kinder! — — Wie schön sind sie! Und sie lieben mich so — und Dich!

Kurz vor ½ 12 Uhr nachts mußte ich fort; ich hatte nachmittags meinen Vetter, der Arzt ist, telephonisch gebeten zu kommen; er sollte nun mit dem letzten Zug eintreffen, und ich konnte ihn bei Nacht den unbekannten Weg nicht allein gehen lassen. Ich will nicht schildern, wie schwer ich mich losriß; wußte ich denn, ob ich sie noch lebend antraf? Aber als ich nach etwas über einer halben Stunde mit dem Vetter wiederkam, hörte ich schon, als ich in die Wohnung trat, das Rasseln und immer noch die Melodie; es war im ersten Augenblick kaum eine Verschlimmerung zu merken. Kurz, ehe ich wegging, war kalter Schweiß ausgebrochen; jetzt faßten sich die Hände schon ganz kalt an. Mein Vetter versuchte, ohne zu hoffen, das Mögliche: er spritzte ihr Kampfer und Coffein ein. Sie hatte ihn erkannt; jetzt, bei der zweiten Einspritzung, wo der äußere Schmerz durch den Stich unter die Haut ihr Traumbewußtsein noch einmal ins Bereich des Wachen brachte, öffnete sie die Augen weit und rief in schneidenden Tönen: „Muß ich denn sterben?“ Wir wollten ihr Hoffnung machen: ihr Herz sollte in dem schweren Kampf Unterstützung finden, sagten wir; aber sie erwiderte, zwischen Besinnen und Klagen: „Ihr sagt das ja so verzweifelt — da kann man nicht — viel — Hoffnung haben —“. Und mit einem vollen Blick auf mich rief sie bald darauf: „Du Armer!“

Dann sank sie in Schweigen. Das Herz hatte nur noch ganz geringe Kraft. Aber sie machte manchmal immer noch kräftige Bewegungen, und auf einmal rief sie Worte; die andern beiden konnten nur einzelnes verstehen und faßten keinen Sinn, aber ich hörte alles, wie sie da, die Sprache gehorchte ihr nicht mehr, zwischen Schreien und Flüstern, und einmal mit einem unheimlich hellen Lachen dazwischen ausrief:

Ich bin ja tot — und da soll ich sterben — und zusehen — (hier kam nun das Lachen) — — das ist ja — sehr — inter — essant —.

Das waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Sie bewegte wohl noch die Lippen, und es redete innerlich in ihr; aber es wurde nichts mehr zu Laut. Eine Viertelstunde nachher hörte der rasche, tiefe, stoßende Atem auf; sie legte sich ganz zurück, es atmete leise und langsam, drei, vier Pausen dazwischen, dann hörte jede Bewegung auf, das Herz stand still, Hedwig Lachmann war tot. Das war um ½ 2 Uhr in der Nacht vom 20. zum 21.Februar.

Gustav Landauer.


Krumbach (Schwaben), 27. Februar bis 1. März 1918.

Landauers Bericht Wie Hedwig Lachmann starb wurde „als Manuskript für Freunde gedruckt“; dies hier ist der erste Reprint, herausgegeben von Eckart Früh.

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