FORVM, No. 174-175
Juni
1968

Wie man demonstriert

FORVM steht auf seiten der österreichischen Studenten. Aber Demonstrieren will gelernt sein. Die nachfolgende Gebrauchsanweisung kommt aus den Erfahrungen der deutschen Studentenbewegung. Bitte lesen und verbreiten.

Eine wichtige Kampfform der neuen Revolution ist die Demonstration. Demonstrationen haben zwei Ziele: erstens die Manifestation von gemeinsamen Meinungen und zweitens die Aufklärung von Nichtdemonstranten. Demonstrationen ohne edukative Intention sind kollektive geistige Selbstbefriedigung.

So wird die Straße zur Zeitung der Revolution: Demonstrationszüge sollten sich nach vorhergehender Programmierung an geeigneten Stellen in Hunderte von Instruktionskadern aus zwei bis fünf Demonstranten auflösen, um mit der nicht demonstrierenden Bevölkerung in Ruhe und Ordnung zu diskutieren.

Die taktischen Aufgaben einer Demonstration sind so zu stellen, daß sie die größtmögliche Solidarisierung der Bevölkerung mit den strategischen Zielen der Bewegung erzielen können. Knochenbrüche oder gar Tote haben keine erzieherische Wirkung, erreichen bestenfalls vorübergehende Empörung, und das meist nicht einmal zugunsten der Bewegung. Gewalttätigkeiten und durch Provokation gewaltsame Reaktionen der Gegner zur Erzeugung von Märtyrern sind deshalb strikt zu vermeiden.

Erfahrene Demonstranten sind als Demonstrationsschutz in Schulungskursen auszubilden und einzusetzen. Sie haben die Aufgabe, undisziplinierte Demonstranten vor ihrer eigenen Aggressivität zu schützen und die härtesten Angriffe der Gegner auf sich zu nehmen. Die Waffe des Demonstrationsschutzes ist in der Regel die ruhige, überlegene Argumentation; nur im äußersten Notfall darf er zur Brachialgewalt greifen und dann nur individuell und nüchtern rational. So müssen unter Umständen Demonstranten, die sich nicht beherrschen können, oder eingeschleuste Provokateure durch das Aufhalten des Armes am Steinwurf oder am Prügeln gehindert werden.

Kollektive, in ihrer Wirkung unübersehbare Gewalttätigkeiten sind absolut zu vermeiden. Der gesetzwidrige Terror muß das zweifelhafte Privileg der Reaktion bleiben, da jeder revolutionäre Terror durch eine vielfach brutalere Form des reaktionären Terrors ersetzt werden kann und ersetzt wird.

Die revolutionäre Gewaltlosigkeit kann auf jede revanchistische Gewalttätigkeit verzichten. Die Wunden und Opfer der Demonstranten werden nicht dadurch geheilt, daß auch Polizisten und andere Gegner ins Kranken- oder Leichenhaus getragen werden. Revolutionäre gewaltlose Aktion erfordert äußerste Disziplin und Selbstbeherrschung.

Demonstrationen benutzen öffentliche Straßen und Plätze und behindern damit in gewisser Weise den Straßenverkehr. Aus diesem Grunde sollten sie stets unter Nennung der Rädelsführer polizeilich angemeldet werden. Verweigert die Polizei gesetzwidrig die Genehmigung ohne triftige Gründe, so ist die Entscheidung eines Gerichts anzurufen. Erweist sich die Justiz als korrupt, so ist nach Konsultation von Rechtsexperten die Demonstration unter Anwendung des verfassungsgemäßen Widerstandsrechtes durchzuführen.

Auch bei spontanen, nicht rechtzeitig anmeldbaren Demonstrationen ist die Polizei über die Bewegungen des Demonstrationszuges zu informieren, um ihr jeden Vorwand zu terroristischer Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung zu nehmen.

Die leichte Behinderung des Straßenverkehrs durch Demonstranten bietet keinen Anlaß zu rechtlichen gewaltsamen Polizeiaktionen. Warum werden andere Minderheiten, die regelmäßig den zügigen Verkehr erheblich behindern, z.B. Staatsbesuche, Karnevalszüge, Militärkolonnen, Prozessionen und Wochenendurlauber nicht auch wie Demonstranten geknüppelt, niedergeritten und umgespritzt?

Gewaltlose Demonstranten bewegen sich auf dem Boden des Rechts, auch wenn sie rechtsmodifizierende Ziele haben. Demonstranten können jederzeit ihr Verhalten vor dem Richter verantworten. Deshalb sollten sie zur Erleichterung der Identifikation ihren vollen Namen gut leserlich auf der Brust tragen.

Eines Tages wird sich die Polizei unter dem Druck der öffentlichen Meinung aus einer Bande vermummter anonymer Schläger in Staatsbürger in Uniform verwandeln, die bereit sind, ihr Verhalten jederzeit vor dem Gesetz zu verantworten. Der Vorschlag, die Polizisten sollten Nummern tragen, ist würdelos. Polizisten sind keine Häftlinge, sondern Persönlichkeiten mit bürgerlichen Namen.

Revolutionäre Widerstandsgewalt ist heute und in Zukunft taktisch und strategisch falsch, weil jede Eskalation der Widerstandswaffen (zur Zeit Helme und Steine) die reaktionären Gewaltmittel verstärkt. Aus sozialpsychologischen Gründen müssen aber die Polizisten, die zum Teil auch aus individueller Angst präventiv afunktional gewalttätig werden, immer um ein Vielfaches brutaler sein als die Demonstranten. Eine Humanisierung der Polizei ist nur dadurch zu erreichen, daß sie nicht physisch bedroht wird und daß durch die Namensschilder im Bewußtsein der einzelnen Polizisten eine Kontrollinstanz geschaffen wird, die sie an ihre individuelle rechtliche Verantwortung erinnert und sie das Risiko illegaler Terrorhandlungen reflektieren läßt. Die Anonymität der Polizisten und der Demonstranten ist eine Garantie für die Eskalation der Brutalität.

Eine revolutionäre Bewegung kann historisch nur solange ein objektives Interesse an der Eskalation der Gewalttaten haben, als am Ende die revolutionäre militärische Mobilisierung der Bevölkerungsmassen zu erwarten ist, die die Reaktion militärisch niederwirft. Eine solche Entwicklung ist aber in der hochtechnisierten Gesellschaft selbstmörderisch.

Deshalb hat die Studentenbewegung ein objektives Interesse an der Deeskalation der Gewaltmittel, während die Reaktion ein objektives Interesse an der Gewalttätigkeit der Demonstranten hat — darum auch die Provokateure in den Reihen der Demonstranten —, um sie von der Bevölkerung zu isolieren. Gegenwärtig unterstützt die Studentenbewegung aus Mangel an einer realitätsadäquaten Revolutionstheorie objektiv die Faschisierung der Bevölkerung und die Verabschiedung der Notstandsgesetze.

Nur anarchistisches Sektierertum und pseudoradikale Revoluzzerei feiert Siege über zerstörte Redaktionen, brennende Lieferwagen, auf die Straße gestreute Zeitungen. Die Aktionen gegen die Auslieferung der Springerpresse sollten eingestellt werden. Weit sinnvoller ist es, an Bildungstagen zum „Bild“-Boykott aufzurufen, indem Instruktionskader, die ihre Sprache demokratisiert haben, d.h. anstelle von Fremdwörtern und wissenschaftlichen Begriffen volksverständliche Wörter gebrauchen, an den Verkaufsstellen mit Plakaten ‚‚Bild macht dumm“ demonstrieren und mit den „Bild“-Lesern in Ruhe und Ordnung diskutieren.

Die gewaltlose Revolution muß noch lernen, lernen, lernen!

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