FORVM, No. 208/I/II
März
1971

Wir Amis lügen

Die Liberalen und der Vietnamkrieg

I.

Das „Pentagon System“ ist tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt. Man hat es zutreffend als den zweitgrößten Staatsapparat der Welt bezeichnet.

Über Details läßt sich streiten, kaum aber darüber, daß die ökonomische Macht in den Vereinigten Staaten weitgehend konzentriert ist; daß die Vertreter dieser ökonomischen Macht die staatliche Verwaltung beherrschen; daß diese ihrerseits in den Jahren seit 1945 beträchtlich angewachsen ist; und daß diese ökonomische und administrative Macht mit der militärischen Macht eng kooperiert.

Die Informationen über dieses System zentralisierter Kontrolle sind spärlich. David Horowitz hat vor kurzem darauf hingewiesen, daß er nirgendwo eine unabhängige wissenschaftliche Arbeit über den Einfluß der Standard Oil Company of New Jersey auf das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben Amerikas endecken konnte — immerhin einer Organisation, die den ökonomischen Pulsschlag eines halben Dutzends strategisch wichtiger Länder bestimmt, im eigenen Land eine bedeutende politische Kraft ist, eigene Nachrichtendienste und einen eigenen paramilitärischen Apparat unterhält und immer wieder führende Regierungspolitiker stellt.

Es ist interessant, das Fehlen wissenschaftlicher Untersuchungen über Privatimperien wie Standard Oil mit den Untersuchungen etwa über Thailand zu vergleichen. Nachdem einige vertrauliche Dokumente über dieses Thema von amerikanischen Studenten zutage gefördert wurden, hat Jacques Decornoy festgestellt, „daß die Vereinigten Staaten umfassende Studien über das Funktionieren der thailändischen Gesellschaft angestellt haben, mit dem (unausgesprochenen) Ziel, sie besser beherrschen zu können“. Ein großer Teil dieser Arbeiten hat die Funktion — in den Worten eines Universitätsberichtes — „das amerikanische Hilfsprogramm für Thailand zu unterstützen und zu stärken“. USAID, die Organisation, die dieses Hilfsprogramm durchführt, hat ihrerseits die Aufgabe, „die königlich-thailändische Regierung bei der Liquidierung kommunistischer Aufstände in ländlichen Gebieten“ zu unterstützen. Dies wiederum ist ein entscheidendes Element der amerikanischen Politik in Südostasien.

Die Absicht hinter den verschiedenen Forschungsprojekten über Thailand ist nach Decornoys Auffassung, „die Grundlagen dafür zu schaffen, die Thais in die japanisch-amerikanische Einflußsphäre zu bringen“. Nach dem vorliegenden Material scheint dieses Urteil zuzutreffen.

Die Schlüsse aus dem Fehlen jeder wissenschaftlichen Forschung über die Standard Oil Company und aus der Fülle solcher Forschungen über Thailand liegen auf der Hand und bedürfen keines langen Kommentars. Der Vergleich illustriert die intensive „Verstaatlichung“ der amerikanischen Universitäten in den Nachkriegsjahren. Diese „Verstaatlichung“ ist — zu Recht, wenn auch verspätet — von der amerikanischen Studentenbewegung scharf angegriffen worden. Ich stimme den Kritikern zu, die vor den Gefahren einer solchen Politisierung warnen. Die Universitäten sollten so weit wie möglich unabhängig von außeruniversitäten Mächten sein, privaten wie staatlichen, und auch von militanten Gruppen innerhalb der Hochschulen selbst. Aber es fällt auf, wie selten diese Befürchtungen zu jener Zeit ausgedrückt wurden, als die akademische Welt mit der Unterstützung und Stärkung des US-Hilfsprogramms in Thailand beschäftigt war, mit der Entwicklung technologischer Kampfmittel gegen Aufstandsbewegungen oder Lenkungssystemen für immer neue Fernraketen, während sie Fragen wie nach dem Einfluß von Standard Oil auf die amerikanische Politik sorgfältig aus dem Wege ging.

Peter Berger schrieb: „Während die Physiker emsig an der Vernichtung der Welt werkeln, ist den Gesellschaftswissenschaftern die bescheidenere Aufgabe anvertraut worden, dafür die Zustimmung der Welt herbeizumanövrieren.“ An dieser Bemerkung ist einiges Wahre.

Daß die Universitäten sich der Staatsmacht willig unterworfen haben, daß sie dazu aber auch immer weniger bereit waren, je weiter der Vietnamkrieg fortschritt, ist von großer Bedeutung. Es ist eine Kernfrage, ob das von Galbraith so genannte „wissenschafttreibende und lehrende Establishment“ in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft eine unabhängige (und folglich’ oppositionelle oder sogar revolutionäre) Kraft wird, oder ob es seine Rolle im Management der Gesellschaft akzeptiert.

II.

Trotz echter Veränderungen in den letzten Jahren haben wir wenig Grund zum Optimismus. Schließlich hatte die Ideologie des Kalten Krieges in der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft eine bedeutende Funktion. Sie war keineswegs nur eine Massenparanoia, unerklärbar abweichend vom normalen Verhalten. William A. Williams hat jene Funktion treffend beschrieben, als er meinte, die amerikanische Machtfülle sei nach dem Zweiten Weltkrieg „wohlgezielt unter der Fahne des Antikommunismus eingesetzt worden, eine politische Strategie, die so simpel wie erfolgreich war. Die herrschende Mehrheit der amerikanischen Führung hatte erkannt, daß die Bevölkerung aus ihrer Ruhe aufgeschreckt werden mußte, wenn sie die Aktivität der Kriegszeit aufrechterhalten und die damit verbundenen Kosten weiterbezahlen sollte. Senator Arthur Vandenberg war nur ein wenig offenherziger als seine Kollegen, als er bemerkte, es würde wohl notwendig sein, dem ‚amerikanischen Volk einen höllischen Schrecken einzujagen‘. Das Gespenst des Kommunismus entsprach dieser Notwendigkeit.“

Das Verblassen der Kalten-Kriegs-Ideologie ist daher eine ernste Angelegenheit. Diese Ideologie hatte sich gut bewährt, um die amerikanische Bevölkerung zur Unterstützung der Regierungspolitik zu mobilisieren. Ohne Zweifel hat die Politik der staatlich geförderten, weitgehend auf militärische Bedürfnisse ausgerichteten Produktion und die dazugehörige Forschung — sie absorbierte fast zwei Drittel der Naturwissenschafter und Techniker des Landes und einen großen Teil seiner Arbeiter und Angestellten — stark dazu beigetragen, die „Wirtschaft gesund zu erhalten“. Der Steuerzahler nahm es hin, weil es der politischen Führung gelungen war, ihm eine Höllenangst einzujagen. Die Gesellschaft mußte dafür allerdings einen hohen Preis bezahlen.

Das Gespenst des Kommunismus hat aber auch dazu gedient, die amerikanische Bevölkerung für langgehegte internationale Pläne zu gewinnen. Vor allem sollten „die Türen aller schwächeren Länder für eine Invasion amerikanischen Kapitals und amerikanischen Unternehmertums aufgestoßen werden“, wie Woodrow Wilson, Außenminister im Jahre 1914 die offiziellen Ziele der Regierung dargestellt hat.

Diese Ziele haben sich nicht geändert. Da aber die Ideologie des Antikommunismus die Bevölkerung nicht mehr mobilisieren kann, läßt sich mit einiger Sicherheit voraussagen, daß man sich nun nach einer neuen Technik der gesellschaftlichen Kontrolle umsehen wird. Möglicherweise wird man versuchen, die nicht mehr glaubwürdige kommunistische Bedrohung auf lange Sicht durch eine schreckliche Vision linksgerichteter Studenten zu ersetzen, die, im Verein mit ethnischen Minderheiten und Revolutionären aus der Dritten Welt sich anschicken, die Grundfesten der zivilisierten Welt einzureißen. Es sind zum Teil genau dieselben Leute, die seinerzeit die legitime Opposition gegen den „kommunistischen“ Totalitarismus in einen paranoiden antikommunistischen Kreuzzug verwandeln halfen und die jetzt mit der Subtilität eines Gummiknüppels auf die Studentenbewegung losgehen. Mit einigem Erfolg.

Tatsächlich haben alle Untersuchungen über dieses Thema ergeben, daß die Studentenbewegung in erster Linie von den Fragen des Rassismus und des Krieges ausgegangen ist. Die Berichte an den Präsidenten und die Untersuchungsausschüsse des Kongresses sind sich — mit Recht — darüber einig, daß die studentische Aktivität mit dem Krieg in Vietnam zusammenhängt.

Die Reaktion der Staatsgewalt und ihrer Sprecher auf diese Tatsache ist interessant. Sie versucht den Zusammenhang von Protestbewegung und Krieg zu leugnen. Die Logik ist klar. Die Regierung will in Indochina mit möglichst geringen Kosten eine möglichst große Wirkung erzielen. Das kann sehr lange dauern. Es ist daher notwendig, die Kosten zu reduzieren — aber zu diesen Kosten gehört nicht zuletzt die Bitterkeit und Entfremdung der Jugend. Man muß daher leugnen, daß diese Erscheinungen ein Preis des Krieges sind.

Statt dessen wird die studentische Unruhe auf Drogen zurückgeführt, auf radikale Professoren, auf zu weiche Universitätsbehörden, auf die zu große Toleranz der Gesellschaft.

Der Versuch, den studentischen Protest von seinen gesellschaftlichen Ursachen zu trennen, geht parallel mit dem Bemühen, einen neuen Teufel hervorzuzaubern, der die Bevölkerung wieder in die bequeme Passivität der fünfziger Jahre zurückschrecken soll.

III.

Für das indochinesiche Volk ist das alles kein Kinderspiel, sondern eine Frage des Überlebens. Außerhalb der Studentenbewegung gibt es keine wesentliche Gruppe, die aus prinzipiellen Gründen gegen den Krieg aufgetreten ist. Damit meine ich eine Opposition, die den Krieg nicht deshalb ablehnt, weil er zu viel kostet, weil er fehlgeschlagen ist, weil er den nationalen Interessen nicht dient oder auch weil er so grausam ist. Ich meine eine prinzipielle Opposition, die sich auf die gleichen Gründe stützt wie der allgemeine Abscheu, den seinerzeit die russische Invasion der Tschechoslowakei hervorgerufen hat. Diese Invasion ging schnell, kostete wenig Blut, wurde von einem Teil der Bevölkerung unterstützt und brachte mit Erfolg die Herrschaft der tschechischen Kollaborateure, so daß die russischen Truppen bald wieder abgezogen werden konnten. Die Tschechoslowakei ist ein Paradebeispiel gelungener „Vietnamisierung“. Dennoch bleibt eben der Grundsatz gültig, daß keine Großmacht — auch nicht eine so selbstlose und wohltätige wie die Vereinigten Staaten — das Recht oder die Befugnis hat, mit Gewalt die gesellschaftliche und politische Struktur eines anderen Landes zu bestimmen, daß sie kein Recht hat, den internationalen Richter und Henker zu spielen.

Die amerikanischen Intellektuellen haben in dieser Frage nicht besonders gut abgeschnitten. Telford Taylor, einst Erster US-Anwalt in Nürnberg und heute Professor für Rechtswissenschaften an der Columbia-Universität, sagte mit Recht, daß der Vietnamkrieg das Werk hochgebildeter Akademiker ist. Die Rusks, McNamaras, Bundys und Rostows tragen die größte Verantwortung für diesen Krieg. Männer wie sie waren für die „verrückten Gedankenspiele“ verantwortlich, die zu der Zerstörung Indochinas geführt haben. Eigentlich — das ist aus diesen Worten Taylors herauszulesen — gehörten sie nach den Grundsätzen von Nürnberg abgeurteilt, wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich wären.

Wir müssen Townsend Hoopes zustimmen, daß die Architekten der Tragödie von Vietnam „fast ausschließlich Männer sind, die bei ihrem Amtsantritt zu den fähigsten, besten, humansten, liberalsten Menschen zählten, die für ein öffentliches Vertrauensamt zu finden waren“.

Es sind, so Taylor, führende liberale Gelehrte, die von „Urbanisierung“ sprechen, wenn die Bauern durch Luftangriffe in die Städte getrieben werden und dort als Häufchen Elend in Spitälern und Flüchtlingslagern vegetieren. Dieser Euphemismus ist schlimmer als die inhaltlich gleiche Äußerung, die einem amerikanischen General zugeschrieben wird: „Wenn wir sie bei den Hoden haben, dann kommen die Herzen und die Gedanken von selber nach.“

Es war die Kennedy-Regierung, unter deren Auspizien die großen Programme zur „Eindämmung von Aufständen“ entwickelt wurden. Unter dieser Regierung wurden amerikanische Truppen — „Berater“ genannt — für großangelegte Bombenangriffe eingesetzt, für die Entlaubung des Dschungels und die Vertreibung der Bevölkerung in großem Stil („Bevölkerungskontrolle“).

Die Intensivierung dieser Maßnahmen unter Johnson, die massiven Bombenangriffe auf Südvietnam, die direkte Invasion durch Bodentruppen und die gewaltige Ausbreitung des Luftkrieges nach Laos und Nordvietnam — all das wurde von Kennedy-Beratern begonnen und geleitet. Manche von ihnen wandten sich in späteren Jahren gegen den Krieg, vor allem wegen seiner hohen Kosten und seines geringen Erfolgs, wie die meisten von ihnen unterstrichen.

Aber es wäre ein grober und selbstgerechter Irrtum, wollten wir nur von dem üblen Verhalten dieser „humansten und liberalsten Männer“ sprechen, „die für ein öffentliches Vertrauensamt zu finden waren“, oder von dem Verhalten der liberalen amerikanischen Intellektuellen, die diese Männer berieten und unterstützten. Wie viele von uns können sich dem Urteil entziehen, das Jan Myrdal aussprach:

Der Bewußtlose ist kein Verräter. Er geht unangefochten durchs Leben. Aber wir, die Europäer, die wir ein Teil unserer Tradition sind und diese Tradition fortsetzen, wir haben mit Einsicht und Bewußtsein Verrat geübt. Wir haben sorgfältig alle Kriege analysiert, bevor sie noch erklärt waren. Aber wir haben sie nicht verhindert. (Und viele von uns wurden die Propagandisten dieser Kriege, sobald sie erklärt waren.) Wir beschreiben, wie die Armen von den Reichen ausgeplündert werden. Aber wir leben unter den Reichen. Wir leben von der Beute und wir versorgen die Reichen mit Ideen. Wir beschreiben die Folterungen und wir setzen unsere Namen unter Aufrufe gegen diese Folterungen, aber wir verhindern sie nicht. (Und wenn höhere Interessen die Folterungen verlangten, dann wurden wir selbst Folterknechte und Ideologen der Folter.) Und nun können wir wieder einmal die Situation der Welt analysieren, die Kriege beschreiben und erklären, warum die Vielen arm und hungrig sind. Aber mehr tun wir nicht. Wir sind nicht die Träger des Bewußtseins. Wir sind die Huren der Vernunft.

Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Die Brüder Berrigan zum Beispiel, die jetzt im Gefängnis sitzen und weitere Verurteilungen gewärtigen müssen, haben mehr getan, als nur die Tatsachen des Indochinakriegs darzustellen und zu erklären. Aber im großen und ganzen lassen es diejenigen, die mit der offiziellen Ideologie nicht einverstanden sind und an der Staatsgewalt nicht teilnehmen, dabei bewenden, Fußnoten für die Geschichtsschreibung zusammenzutragen, während sie gleichzeitig den demokratischen Staat nach Herzenslust morden und zerstören lassen. „Raisonniert soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht.“ Das war die Maxime Friedrichs des Großen, wie Kant sie beschrieb. Die indochinesischen Bauern haben allen Grund, uns zu fragen, was sie eigentlich durch den Triumph der Demokratie im Westen gewonnen haben.

IV.

Das jüngste Geisteskind der Antiguerillatheoretiker ist die Lösung der „Probleme“ in den nördlichen Gebieten Südvietnams durch „die größte geplante Bauernwanderung in der Geschichte Vietnams“. Dort will die Bevölkerung die Autorität der Regierung selbst in jenen Gegenden nicht anerkennen, die durch US-Bombenangriffe fast völlig verwüstet sind. Die südvietnamesischen Behörden bestätigen, „daß von der Umsiedlung zwei bis drei Millionen Bauern betroffen sein dürften“. Aber diese Menschen sind „wie Schafe“, so versichert uns ein Saigoner Minister, und deshalb brauchen wir uns auch keine Sorgen darüber zu machen, ob sie freiwillig wegziehen. Anschließend wird das Gebiet durch Bomben und Artillerie saniert.

Unterdessen verfolgt die amerikanische Staatsgewalt weiterhin „Verschwörungen“ gegen ihre eigenen Verbrechen und vergißt bequemerweise das Urteil von Nürnberg.

Im Dienste der staatlichen Propaganda betreffend die Wohltaten, die wir den Vietnamesen angedeihen lassen, indem wir ihr Land verwüsten und ihre Gesellschaft urbanisieren, hat ein Forschungsteam der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Naturwissenschaften kürzlich festgestellt, daß zwar die Entlaubung der Wälder in Vietnam „ernsten Schaden“ angerichtet hat: so ist zum Beispiel rund die Hälfte der Bäume in den Hartholzwäldern nördlich und westlich von Saigon abgestorben; das Gebiet läuft Gefahr, auf Jahrzehnte hinaus durch wertloses Bambusgestrüpp überwuchert zu werden — aber, antwortet das Pentagon „Teile der südvietnamesischen Wirtschaft, vor allem die Forstwirtschaft und die Kleinbauern, haben höchstwahrscheinlich von der Entlaubung profitiert. Ein Teil der Wälder wurde zerstört und kann jetzt abgeholzt werden. Die Entlaubung macht die Wälder leichter zugänglich, so daß die Arbeiter sie jetzt betreten und das Holz hinaustransportieren können“. Diese Wohltaten, hätte das Pentagon hinzufügen können, werden noch viele Jahre anhalten, denn nach den Schätzungen der erwähnten AGFN wurde durch Pflanzengifte so viel Nutzholz zerstört, wie Südvietnam in 31 Jahren verbrauchen kann. Nach der gleichen Logik müssen wir Hitler für seinen Beitrag zur Stadtplanung in Rotterdam Beifall zollen.

Eine andere Verschleierungstechnik besteht darin, „Probleme“ des Krieges als rein technische Probleme darzustellen. Zwei Antiaufstandsexperten, ein Amerikaner und ein Engländer, erklärten: „Alle Schwierigkeiten (der Niederwerfung von Aufständen) sind praktischer Natur und im ethischen Sinne so neutral wie die Gesetze der Physik.“ In der für das Experiment der Aufstandsbekämpfung gewählten Gesellschaft soll die Herrschaft gewisser ausgesuchter Gruppen etabliert werden. Eine Anzahl von Methoden bietet sich hiefür an; sie reichen von Entwicklung der Landwirtschaft und Import von Konsumgütern bis zu Bombenangriffen und Vernichtung der Ernten. Der Leiter des Experiments hat die Aufgabe, diese Methoden so zu kombinieren, daß sie den größtmöglichen Erfolg versprechen. Offensichtlich kann nur ein Hysteriker oder selbstquälerischer Moralist hier eine ethische Frage sehen.

Auch die wissenschaftliche Terminologie findet nützliche Anwendung. Menschen mit Geschützfeuer und chemischen Zerstörungsmitteln in die Städte treiben, heißt „Urbanisierung“. Diese ist ein Maßstab für die „Modernisierung der Gesellschaft“.

Wir „experimentieren mit Maßnahmen der Bevölkerungskontrolle“. Unreflektierte Begriffe wie „persönliche Einstellung“ überwinden wir durch zweckmäßige Anordnung positiver und negativer Verstärkungsmechanismen, wie etwa „Beschlagnahmen von Hühnern, Schleifen von Häusern oder Zerstören von Dörfern“.

Oder betrachten wir das „Angebot von Nahrung im Austausch für bestimmte Dienstleistungen“: „Wenn diese Methode sich in der Vergangenheit als starker Anreiz erwiesen hat, kann dieser Anreiz durch eine verstärkte lokalen Landwirtschaftsproduktion geschwächt werden. Der schwachgewordene Anreiz läßt sich jedoch durch die Vernichtung der Ernten verstärken.“

Eine andere, seit langem beliebte Methode der Verschleierung hat C. P. Fitzgerald beschrieben: „Der Kunstgriff, das Opfer als grausamen und gefährlichen Angreifer darzustellen, ist ein bewährter Mechanismus zur Verringerung der Schuldgefühle.“ Keinem Bewohner des Westens, der lesen kann, wird es dafür an aktuellen Beispielen mangeln.

Eine wirksame Variante besteht darin, das Opfer für die Grausamkeit des eigenen Angriffs verantwortlich zu machen. Ein bekannter Kriegsberichterstatter und entschiedener Gegner des Krieges schrieb nach längerem Aufenthalt in Vietnam, der Krieg dort sei „ein schrecklicher Fehler“, denn „die Vereinigten Staaten haben niemals die grundlegende Andersartigkeit Vietnams zur Kenntnis genommen — jene Aspekte der vietnamesischen Gesellschaft zum Beispiel, die es zulassen, daß öffentliche Funktionäre täglich und unverschämt ihre amerikanischen Verbündeten belügen, daß Bettler kleine Kinder kaufen oder stehlen müssen, um in der schmutzigen Gosse von Saigon noch erbarmungswürdiger auszusehen ... Es ist allzu einfach, die erschütternde Käuflichkeit der südvietnamesischen Gesellschaft zu vergessen oder zu ignorieren, den Egoismus des einfachen Vietnamesen, den fast totalen Mangel an Gemeinsinn in dieser Gesellschaft ... Der tiefverwurzelte amerikanische Optimismus hinsichtlich der menschlichen Natur wird in dieser Gesellschaft einer schweren Bewährungsprobe unterworfen ... Der Charakter der Vietnamesen könnte den Erfolg der amerikanischen Anstrengungen in diesem Land zunichtemachen.“

Zuerst vernichten wir die bäuerliche Gesellschaft Vietnams und treiben Millionen Landbewohner in elende städtische Siums. Dann klagen wir sie an, weil Bettler kleine Kinder kaufen oder stehlen müssen, um noch erbarmungswürdiger auszusehen. Welcher Egoismus, unseren tiefverwurzelten Optimismus hinsichtlich der menschlichen Natur einer solchen Bewährungsprobe zu unterwerfen! Welcher Mangel an Gemeinsinn in einem Volk, das seit 25 Jahren gegen alle Schrecken kämpft, die westlicher Erfindungsgeist sich ausdenken konnte!

Ich glaube, daß die amerikanische Regierung zwar alle Argumente für den Vietnamkrieg verloren, aber dennoch einen großen Propagandasieg errungen hat. Der Regierung ist es gelungen, den Rahmen zu bestimmen, in dem sich die Diskussion über den Krieg abzuspielen hat. Demonstriert wird damit die verblüffende Kraft staatlicher Propaganda selbst in einer relativ offenen Gesellschaft, die wenigstens für die intellektuelle Elite den Zugang zu Informationen nicht beschränkt.

Literatur

Zur inneren Struktur der USA:

  • James McDonald: Militärstaat USA, I: NF Anfang April: 1970, II: NF Mitte Mai 1970.

Zur amerikanischen Studentenbewegung:

  • Iring Fetscher: Freilaufende Jugend wird erschossen, NF Anfang Juni 1970.
  • J. B. Neilands: Vietnam in Kalifornien oder Wie man Studenten vergast, NF Mitte Mai 1970.

Zum Vietnamkrieg:

  • William Fulbright: Friedensengel Nixon, NF Juni/Juli 1970.
  • Fritz Csoklich: Nixon schafft viele Vietnams, NF Anfang Juni 1970.
  • Catherine Bousquet: Menschenmord durch Pflanzenmord, NF Anfang Juni 1970.
  • Helfried Bauer: Die Bomben fallen, Vietnam, Laos, Kambodscha, NF Mitte April 1970.
  • Joseph Buttinger: Tischerlrücken für Vietnam, Analyse der Pariser Gespräche, NF Mitte März 1969.
  • Joseph Buttinger: Lösung für Vietnam, NF Aug./Sept. 1966.
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