FORVM, No. 271/272
Juli
1976

Wir vögeln nicht mehr

Ein Koitus ist ebensowenig eine Vereinigung zweier Menschen wie eine Ohrfeige oder das Bohren in einer fremden Nase.

Wir sind eine Kommune von zwei Männern, drei Frauen und einem sechsjährigen Mädchen. Hauptsächlich beschäftigen wir uns mit der Aufarbeitung unserer psychischen Schäden. Doch das auffälligste an uns ist, daß wir nicht mehr vögeln. Wir haben uns daran gewöhnt, unter Sex nicht mehr vögeln zu verstehen.

Maßgebend für diesen Entschluß waren unsere eigenen Erfahrungen und das Buch „Die sexuelle Reaktion“ von Masters und Johnson, die in einer zehnjährigen Untersuchung nachgewiesen haben, daß es nur einen Orgasmus gibt, der für Mann und Frau derselbe ist. Im einen Fall wird er vom Penis, im anderen von der Klitoris ausgelöst. Also ohne Klitoris kein Orgasmus.

Dem Schwanz steht der Kitzler gegenüber und nicht die Vagina, deren Reizempfindlichkeit kaum nennenswert ist. Penis und Klitoris sind die Reizbeantworter der indirekten Reize vom ganzen Körper und der direkten von Schwanz und Kitzler selbst. Beim Geschlechtsverkehr hat nun der Mann eine starke direkte Reizung am Schwanz, die Frau eine indirekte über die Vagina plus einer schwachen, halbdirekten Reizung der Klitoris.

Die Bedingungen beim Koitus sind also für Mann und Frau nicht die gleichen. Das erklärt, warum Frauen meist länger zum Orgasmus brauchen, warum zuvor geschlechtsunterschiedliche Orgasmuskurven gemessen wurden usw. Es erklärt die meisten sexuellen Unzulänglichkeiten, die der Frau nachgesagt werden. Um mit dem kleineren Reiz zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Mann zu kommen, muß sie sich konzentrieren und hineinsteigern. Sie muß die Reaktion auf den Reiz mit psychischen Mitteln verstärken. Das heißt, sie bezieht ihren Orgasmus hauptsächlich über eine eingebildete Reizung.

Die Emotionen, die sie dabei zu haben hat, sind unterschiedlich masochistisch. Auf alle Fälle wird ihr was getan. Zum Unterschied vom Mann erlebt sie den Sex als etwas von außen kommendes und nicht als etwas, das sie macht. Der Koitus ist für die Frau erzwungene Passivität und Unterwerfung, für den Mann vor allem Leistungsdruck. Er braucht das Gefühl, „drinnen“ zu sein, und fühlt sich dadurch erst als Mann. Auch der Frau ist eine Leistung vorgeschrieben, die allerdings nicht als Leistung gewertet wird. Sie hat nach wie vor passiv unterhalb zu liegen, sich ganz dem Gefühl hinzugeben und womöglich vor schmerzhafter Lust zu stöhnen.

Das wesentliche am Geschlechtsverkehr ist nicht die physische Abwicklung, sondern der psychische Hintergrund. „Er dringt in sie ein“ heißt nicht: sie erleben die gleiche Lust. Wir haben uns selbst genau beobachtet — die alte Bedeutung ist stärker. Assoziation einer Kommunardin zu ihrem eigenen Sexstöhnen: sie fällt in ein Messer.

Das Empfinden der sexuellen Reaktion auf Körperreize mischt sich mit den psychischen Emotionen aus dem mystischen Überbau, der der „Vereinigung“ aufgesetzt wurde. Gegen die Vermengung von Körperreizen mit psychischen Emotionen wäre an und für sich nichts einzuwenden, solange der Unterschied bewußt bleibt.

Auch wir finden es angenehmer, wenn zur sexuellen Erregung die Sympathie für den Partner kommt. Und was will man mehr? Der Koitus ist ebensowenig Vereinigung zweier Menschen wie ein Kuß, eine Ohrfeige oder das Bohren in einer fremden Nase. Die Mystik um den Koitus dient allein der Fixierung von Rollen, Herrschaftsverhältnissen und Charakterverformungen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Sexualrepression, die die eigentliche Sexualität ins Unbewußte verdrängt und deren nicht verdrängbaren Rest zu einer gefährlichen, unbeschreibbaren und daher wunderbaren Sensation macht. Davon kann sich auch das emanzipierteste Pärchen nicht lösen.

Für unsere Kommune heißt das: Es ist unmöglich, einer übernommenen Sexualpraktik einen neuen Inhalt zu geben. Egal, wie aufgelockert in den Stellungen und wie verteilt in den Aktivitäten, der Koitus bleibt traditionell psychopathisch besetzt. Gegen ein paar Jahre Aufklärung stehen bei den Beteiligten mindestens zwanzig Jahre neurotischer Formung, in denen der geschlechtertrennende Geschlechtsverkehr als einziger Ausweg aus dem Druck des Sexualverbots angestrebt werden mußte.

Daher glauben die meisten, die von unserer Alternative hören, daß sie einen Lustverlust beinhaltet und aus frustrierendem Herumfingerln besteht. Dem ist aber nicht so. Bei der beliebtesten Stellung in der Kommune liegt der Schwerere, also der Mann, unten und stellt ein Bein leicht auf, Die Frau nimmt dieses Bein zwischen ihre Beine und legt sich auf den Mann. So kann sie an seinem Oberschenkel den Druck auf ihrer Klitoris selbst bestimmen. Der Schwanz bekommt den Druck vom Bauch der Frau. Die Bewegungen sind fast die gleichen wie beim Koitus, und man hat beide Hände frei für den übrigen Körper. Das gleiche läßt sich auch in der Seitenlage machen usw. Der einzige Nachteil, der für den Mann entsteht, ist der Verzicht auf die Gleitflüssigkeit der Vagina am Schwanz.

Warum haben sich Frauen eine Sexualpraktik, bei der sie zu kurz kommen, auch dann noch gefallen lassen, als nicht mehr das Kindermachen im Vordergrund stand? Und warum wissen die Frauen selbst nicht, was Masters und Johnson herausgefunden haben: Daß es um die Klitoris geht und nicht die Vagina?

Bekanntlich interessieren sich kleine Mädchen kaum für die Vagina, sondern hauptsächlich für den Kitzler. Sie geben ihm den gleichen Stellenwert wie die Buben dem Schwanz. Nun wird aber dieses für sie wichtigste und amüsanteste Körperstück von ihrer Umwelt einfach verleugnet. Man kann sich vorstellen, was in einem Kind vorgehen muß, das unter der üblichen Sexualrepression und Kastrationsdrohung steht, wenn die Umgebung das bedrohte Stück offiziell gar nicht registriert.

Die Drohung ist massiv genug, so daß die reale Bedeutung des Kitzlers ein nie verbalisiertes Geheimnis des Kindes bleiben muß. In der Latenzzeit, die natürlich ein Ergebnis der vorangegangenen Sexualunterdrückung ist, gibt das Mädchen dem Umweltdruck nach, es verdrängt während der sexuellen Abstinenz — die aufgrund des stärkeren Sexualverbots auch länger dauert als bei den Buben — seine Erfahrung mit dem Kitzler. Diese Verdrängung führt oft bis zur sexuellen Unempfindlichkeit der Klitoris bei direkter Berührung.

Nach unseren Beobachtungen wehren sich Frauen auch viel stärker gegen unsere Sexualtheorie als Männer. Das ist verständlich, denn sie haben etwas zu verlieren. Bisher war der Kitzler gut versteckt im „Vaginalorgasmus“, doch wenn man dahinterkommt, daß die Frauen mehr als nur ein auszufüllendes Loch haben, und wenn der Kitzler dem Schwanz gegenübergestellt wird, könnte man die Frauen einer „männlich“ aktiven und selbständigen Sexualität verdächtigen, die ihnen aufs strengste verboten ist.

Wir sind der Überzeugung, daß erst das Wegdrängen des Kitzlers aus seiner natürlichen Position die Unterdrückung der Frau auf allen anderen, nichtsexuellen Gebieten möglich macht. In jeder uns bekannten Gesellschaft bestimmt das Genitalbewußtsein das Selbstbewußtsein und damit die erlaubten Forderungen. Was können die Frauen fordern, wenn vom „Fehlen“ des Schwanzes die psychische und intellektuelle Unterlegenheit abgeleitet wird?

Solange den Frauen nicht bewußt ist, daß die Klitoris ihr primäres Sexualorgan ist, wird ihr Selbstbewußtsein dem des Mannes so hoffnungslos unterlegen sein wie die Vagina dem Schwanz. Um sich tatsächlich emanzipieren zu können, brauchen die Frauen ein neues realistisches Genitalbewußtsein.

Trotz unserer Informationen versuchen wir in der Kommune erst seit kurzer Zeit hier eine Veränderung durchzusetzen — und zwar erst nachdem uns unser Kommunekind seine Version dieses neuen Bewußtseins vorgeführt hatte.

Obwohl sie sich mit dem Kitzler beschäftigte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, fing sie erst nach den ersten Kommunemonaten an, mit uns darüber zu reden. Dabei entwickelte sie eine Klitorisverherrlichung, die dem Peniskult der übrigen Welt um nichts nachstand. Alle Autos und Hochhäuser waren große Kitzler. Sie machte vor keinem klassischen Penissymbol halt. Die Badeanzugspflicht in den Badeanstalten deutete sie mit: die Leute fürchten sich vorm Kitzler. Sie erfand Spiele, bei denen wir durch die ganze Wohnung laufen mußten, während sie uns mit ihrem Kitzler verfolgte. Wir reagierten auf das alles eher unsicher und ein wenig neidvoll.

Aber wir versuchten unsere Abwehr unter Kontrolle zu halten. Dabei konnten wir den direkten Zusammenhang zwischen ihrem Stolz auf den Kitzler und ihrem wachsenden Selbstbewußtsein sehen. Dieses Selbstbewußtsein fällt aber jedesmal in nichts zusammen, wenn sie Kontakt zu Personen hat, die sie an ihre frühere, repressivere Umgebung erinnern. Dann redet sie plötzlich mit einer übertrieben hohen Stimme, macht nur mehr kleine Schritte und ist ganz brave Kriecherei. Nach solchen Besuchen braucht sie immer einige Zeit, um ihre aufgestauten Aggressionen an uns und ihrem Spielzeug loszuwerden. Sie spielt dann meist Polizei, die zu einem Kind sagt: „Ich sperr dich ein, weil du was gestohlen hast“, oder „Du darfst keinen Kitzler haben, das ist verboten, alles ist verboten“.

Daß Außenstehende keine Befehlsgewalt über sie haben und sie nicht bis unter die Bettdecke verfolgen können, glaubt sie uns nicht. Auch bei ihr stehen 4½ entscheidende Jahre gegen 1½ Jahre Kommune.

Wir hatten für uns alle größere Schwierigkeiten bei der Umstellung auf ein neues Sexualverhalten erwartet. Doch die Veränderung entwickelte sich relativ selbstverständlich und unkompliziert. Wir versuchen auch diesen Entwicklungsstand nicht als den revolutionären Höhepunkt zu sehen, da vieles von dem, was auch jetzt noch als naturgegeben erscheint, neu überdacht werden muß.

Die „Kleine Kommune“ aus Wien-Leopoldstadt brachte diesen Text vor anderthalb Jahren in die Redaktion, wo er durch unsere Schuld so lange liegenblieb. Die Kommune steht jedenfalls nach wie vor zu ihrer These, ja pocht geradezu auf die Priorität ihrer Entdeckung. -Red.

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