FORVM, No. 478/479
November
1993

»Wir wollen keine bewußtlosen Idioten der Geschichte sein!«

So lautet einer der bekanntesten Aussprüche Rudi Dutschkes. Bis in die Redaktion des »profil« hat er sich aber noch nicht durchgesprochen. Denn sonst wäre dort irgend jemand der schreiende Widerspruch zwischen diesem radikalen, aufklärerischen Impetus und den in Jens Tschebulls Polemik »Nieder mit den 68ern!« (Nr. 18/3. Mai 1993) aufgestellten Behauptungen aufgefallen, die 68er wären durch »ihre LSD-Experimente und ihre Hasch-Verharmlosung« für »ihre Opfer in den Entzugsanstalten« verantwortlich und das »Neue FORVM« hätte »dem amerikanischen Rauschgiftprofessor Timothy Leary wahre Sondernummern gewidmet«.

Dieser jemand hätte Tschebull ins Archiv schicken können: Dort hätte er auf kurz oder lang ein Interview mit eben diesem Rudi Dutschke über Drogen im »Spiegel« (10. Juli 1967) entdecken müssen: »Wenn einer von uns auf den Gedanken käme, zur ›Verbreiterung‹ der Erfahrung LSD zu schlucken, würden wir auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse der Psychoanalyse und der Medizin erörtern, welche Rolle Drogen und Rauschgifte für die Integration politischer Opposition heute spielen. Und das hieße — nebenbei — in der praktischen Konsequenz, daß wir bestimmt kein LSD schlucken«. Und ein kurzer Blick nur auf den Titel — »Der LSD-Magnat und sein Agent« — des Beitrages über Timothy Leary im »Neuen FORVM« 251/Nov. 1974, hätte ihn außerdem von der Falschheit seiner Behauptung über die »Sondernummern« überzeugt.

Oder dieser jemand hätte sagen können: »Geh’ Jens (oder wie er sonst genannt wird), frag’ doch mal darüber den Willi Burian, den Leiter der Drogenabteilung im Mödlinger Anton-Proksch-Institut — der ist ein ›alter‹ 68er!« Vielleicht auch: »Rede doch vorsichtshalber mit dem Subkultur-Guru Schwendter!« Oder: »Kauf’ Dir doch Schwendters im Bundesverlag erschienenes Buch ›Drogenkultur und Drogenabhängigkeit‹!«

Oder ... Oder ... Nichts von alledem geschah. Warum? Aus Schlamperei? Leider nein. Denn diese Schlamperei hat System, sie paßt haargenau in Reihe ähnlicher Vorwürfe und Verdrehungen, die mit stupender wie stupider Regelmäßigkeit vorgebracht werden, sobald irgendein Jubiläum von 1968 ansteht: Die abgedroschenste Variante sind dabei die »Karrieren einer rebellischen Generation«. Lassen sich spektakuläre Tartüff’s unter den ehemaligen Neuen Linken nicht in genügender Zahl auftreiben, dann wird eben jeder mit entsprechendem Geburtsdatum zum 68er verklärt. [*]

Tschebull ist kreativer, wenn auch um kein Jota schlüssiger: Er bescheinigt den 68ern zunächst nur »eingebildete Heldentaten« und »Lausbübereien«, erklärt sie also für gesellschaftspolitisch wirkungslos, um sie einige Absätze weiter — indem er eine Melange aus rationalistischer Neuer Linker und Hippie-Subkultur fabriziert — für solche Kleinigkeiten wie die »Opfer in den Entzuganstalten, Gefängnissen, Familienberatungsstellen und Paukkursen« verantwortlich zu machen. Wobei es »natürlich unter den 68ern nette und ehrliche Leute gibt« — bis auf die »Ewiggestrigen«, die er wegen ihrer »Unfähigkeit verachtet, reuig Abbitte zu tun«.

Von allem intellektuellen Brimborium entkleidet, argumentiert Tschebull also: 1. Es war ohnehin nichts. 2. Wenn doch etwas war, dann hat es nur Schlechtes gebracht. 3. Wer Abbitte leistet, darf auf huldvolle Vergebung durch die Krähwinkler Kleinbürger hoffen. (Danke, Papa!)

Solche Botschaft kann breiter Zustimmung sicher sein in einem Land, in dem man selbst die Mützen der phrygischen Amazonen nicht stolzen Jakobinerhäuptern, sondern biederen Gartenzwergerln aufgesetzt hat.

Schluß mit »Bullshit« — denn es gibt Wichtigers: Alle 8 Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger. Die globalen Militärausgaben sind auch nach Ende des Kalten Krieges noch immer so hoch, wie das Bruttosozialprdukt der 65 ärmsten afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten oder 2mal so hoch wie die weltweiten Ausgaben für Gesundheit oder 15mal so hoch wie die offizielle »Entwicklungsshilfe« der Industrieländer. Die Anzeichen für eine nahende ökologische und Umweltkatastrophe mehren sich. Die 2/3-Gesellschaft in den Industriestaaten wird mit jedem Tag der globalen Krise realer, die den Kapitalismus — Marx schau oba! — just in der Stunde seines vermeintlich weltgeschichtlichen Sieges erfaßt hat.

1968 wollte eine rebellische Generation von Paris bis Peking, von Prag bis New York, von Havanna bis Tokio, diesen galoppierenden Wahnsinn stoppen, »eine Welt bauen, die die Welt noch nicht gesehen«, um nochmals Dutschke zu strapazieren. Sie ist gescheitert. Vorrangig an den wenigen, die wußten und wissen, daß die richtige Lösung von diesem Probleme für wenige, aber nur für sehr wenige, nicht angenehm ist — zum Beispiel für die 101 Superreichen der Welt, die trotz Wirtschaftskrise ihr Einkommen um 10% auf satte 455 Milliarden Dollar steigern konnten (»Die Presse«, 23. April 1993 — eine Milliarde Dollar reicht, um 5 Millionen Menschen ein Jahr zu ernähren). Aber sie ist auch an den Möchtegern-Reichen gescheitert — zum Beispiel an jenen 24.348 Österreichern, die jährlich mehr als eine Million Schilling versteuern (»Standard« 23. Februar 1993). Und sie ist — last not least — an den intellektuellen Verbündeten dieser Profitgeier und der kleinbürgerlichen Dackel-Mentalität »Wenn’s mei’m Herrl gut geht, geht’s mir auch gut« gescheitert (fast wäre ich jetzt wieder auf Tschebull zurückgekommen).

Das ist aber kein Grund aufzugeben, sondern nur noch radikaler (an die Wurzel gehend) das nächste 68er-Jahr vorzubereiten! Und nur darüber lohnt es sich, im Zusammenhang mit Jahrestagen dieser Rebellion zu diskutieren.

[*Elisabeth Welzigs Buch Die 68er, Wien-Köln-Graz 1985 und — philosophisch verbrämt — Norbert Lesers Aufsatz: Spätfolgen der Neuen Linken; in: Religion und Revolution, Wien 1990, sind nur zwei Beispiele.

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