MOZ, Nummer 57
November
1990
Lateinamerika und Osteuropa:

Wirtschaftliche Seelenverwandtschaft

Wenn sich die Ordnung der Welt im Ost-West-Gefüge verschiebt, spürt das auch der Süden. Die MONATSZEITUNG hat zum Wie und Warum Kommentare von Korrespondenten aus der soge­nannten „Dritten Welt“ eingeholt. Viktor Sukup aus Buenos Aires macht den Anfang.

Nur am Rande haben wohl die mit den osteuropäischen Ereignissen überforderten Zeitungsleser zur Kenntnis genommen, daß im Lauf der letzten zwei Jahre fast überall in Lateinamerika neu gewählte Regierungen angetreten sind, die mit der heftigsten und längsten Krise unseres Jahrhunderts zu kämpfen haben.

Lateinamerika umfaßt ein Siebentel der Erdoberfläche und rund ein Zwölftel der Weltbevölkerung. Gleichgültigkeit gegenüber diesem Kontinent ist schon deshalb nicht angebracht, weil er gleichzeitig der „Dritten Welt“ und der westlichen Kultur angehört und weil Brasilien, das mit seinem Bruttonationalprodukt weltweit an der 10. Stelle liegt, alles andere als eine ‚quantité négligeable‘ darstellt. Auch darum z.B., weil das kleine Chile im fernen Süden seit einem Vierteljahrhundert einen überaus interessanten — und oft schemenhaften — Testfall für die zeitgenössischen Wirtschaftstheorien bildet und sich Ökonomen und Soziologen, Historiker und Psychologen schon seit Jahrzehnten fragen, wie die Dauerkrise im benachbarten Argentinien, noch Mitte des Jahrhunderts eines der wohlhabendsten Länder der Welt, zu erklären ist.

Es gibt mehr als eine Parallele zwischen dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ im Osten und der dramatischen Krise des kaum gesünderen real existierenden Kapitalismus im fernen Südwesten. Den Polen, Ungarn und anderen wäre dringend zu raten, sich dieses genauer anzusehen, wenn sie verhindern wollen, daß es ihnen vielleicht bald ähnlich ergeht. Denn beide Regionen waren, sind und bleiben — jedenfalls auf absehbare Zeit — periphere, abhängige Gebiete des kapitalistischen Weltmarktes, unabhängig von der Verschiedenheit ihrer vergangenen Irrwege und den jetzigen Umorientierungen. Ähnlich wie vor dem Zweiten Weltkrieg, werden beide auch weiterhin grundlegend Rohstoffe und Agrarprodukte sowie Industrieerzeugnisse von geringem technologischem Niveau anzubieten haben und dafür die Lieferung von hochwertigen Industrieprodukten, vor allem Investitionsgütern wollen, wobei ihnen die Weltmarkttendenzen unvermeidlich ins Gesicht blasen werden. Und trotz der feierlichen Töne der ersten Monate ist es heute recht klar, daß den Ost-West-Überläufern wenig geschenkt werden wird, kaum mehr als den Lateinamerikanern und Afrikanern.

Man kann den Litauern und anderen alles Gute für die Unabhängigkeit wünschen, aber noch mehr, daß sie sich ein paar Gedanken machen über die historisch-strukturellen Ursachen der nationalen Frustration von Uruguay, eines vergleichbar kleinen Landes, das einst wie Argentinien zu den reichsten der Welt gehörte und seit 30 Jahren nicht mehr aus der Sackgasse herausfindet, in die es die bescheidenen Dimensionen seines Binnenmarktes und die Krise seiner überaus exportorientierten Wirtschaft geführt haben.

Polen und Brasilien, betont Ignacy Sachs, ein guter Kenner beider Länder, weisen trotz ihrer bedeutenden Unterschiede grundlegende Ähnlichkeiten in ihrer außenwirtschaftlichen Strategie der letzten Jahrzehnte auf. In beiden Fällen ging es im wesentlichen darum, durch Investitionen im Bereich der Schwer, und Grundstoffindustrien und unter massiver Zuhilfenahme der damals billigen Auslandskredite in kurzer Zeit den Sprung zur exportorientierten und konkurrenzfähigen Industriemacht zu schaffen. Fehlanzeige in beiden Fällen, trotz der anfänglichen Erfolge, denn die Perspektiven des Weltmarktes änderten sich. Energieverbrauch und Umweltprobleme gerieten außer Kontrolle, und die Zinsen für die mittlerweile astronomische Außenschuld stiegen — insbesondere dank der ‚Reaganomics‘ — schnell ins Uferlose. Fazit: Zusammenbruch des technokratisch-exportorientierten Modells und der dahinterstehenden autoritären Regime, Hyperinflation, explosive soziale Spannungen, und niemand weiß so recht, wie es eigentlich weitergehen soll.

Kein Platz für Latinos

Aus der ehemaligen DDR flüchteten Anfang 1990 um die 2.000 Personen pro Tag. Aber die WirtschaftsemigrantInnen wären noch viel zahlreicher in Argentinien, Brasilien oder Peru, wenn es eine ähnliche Auffangstelle gäbe wie die Bundesrepublik für die ehemals DDR-Müden. Viele Hunderttausende sind in den letzten Jahren aus den einstigen Einwandererparadiesen Argentinien und Uruguay ausgewandert. Und wenn Argentinien seit über zwei Jahren seine Zahlungen für die unendliche Außenschuld eingestellt hat, so bereichert es doch noch weiterhin die Industrieländer

durch den massiven ‚Export‘ von z.T. hochqualifiziertem ‚Humankapital‘, eine Art verkehrter Technologietransfer, der dem langjährigen „umgekehrten Marshall-Plan“ folgt, über den sich der frühere Präsident Alfonsin — alles andere als ein Linksradikaler — immer wieder zurecht, aber vor den tauben Ohren des Nordens beklagt hat.

Für den neoliberalen Zeitgeist ist die Schuldenkrise, die Lateinamerika seit bald einem Jahrzehnt finanziell erwürgt, grundlegend hausgemacht, obwohl auch die oberflächlichsten Beobachter leicht die enorme Mitverantwortung der westlichen Industrieländer und ihrer Banken erkennen können. Dieser Krise, meinen die liberalen Modernisierer, wäre nur mit einem rigorosen Abbau von Staatsbürokratie und Subventionen, Liberalisierung der Importe sowie Privatisierungen und Deregulierungen à la Thatcher zu begegnen. Alles das hat wohl insofern einen rationellen Kern, als die Staatsapparate hier notorisch ineffizient sind, ein oft übertriebener Protektionismus die Binnenmärkte zu sehr vom frischen Wind der Konkurrenz abgeschottet hat und die Staatsbetriebe nicht selten zu einem Hort der Korruption und der Mißwirtschaft verkommen sind. Aber niemand kann andererseits ignorieren, daß z.B. die außergewöhnlichen industriellen Erfolge Brasiliens ohne einen aktiven und oft sehr protektionistischen Staat unmöglich gewesen wären und die neoliberalen Experimente in vielen Ländern der Region seit 1973 — Chile, Uruguay, Peru, Venezuela und Bolivien — kläglich gescheitert sind, nicht nur im sozialen Bereich, sondern auch, wenn man sich nur auf die makroökonomischen Daten stützt. Das gilt nicht zuletzt auch für Chile, trotz der Lobgesänge jener, die aus Ignoranz oder Zynismus von einem pinochetistischen ‚Wirtschaftswunder‘ sprechen, sich aber wohlweislich hüten, eine Gesamtbilanz für die Periode 1973-89 aufzustellen und gar auch noch die sozialen, kulturellen und Umwelt-Faktoren einzuberechnen.

Die Mauer bleibt: Reich gegen Arm

Soziale und kulturelle, industrielle wie ökologische Rückentwicklungen also, wohin man hier blickt. Und die Propagandisten der „freien Marktwirtschaft“ sind uns bis heute eine Erklärung dafür schuldig geblieben, woher denn der angeblich endgültig triumphierende Kapitalismus die Ressourcen für einen verschwenderischen „Wohlstand für alle“ geholt hat und holen will. Die diversen Umweltdesaster in Osteuropa mögen wohl die im Westen noch in den Schatten stellen, aber nicht aus der Welt schaffen, ebensowenig wie der Zusammenbruch der poststalinistischen Systeme die perversen Folgen der ungezügelten Marktwirtschaft beseitigt. Dies ganz besonders in der „Dritten Welt“, wo Brasilien, Indien und Afrika auf dem besten Weg sind, alles bisher Dagewesene, inklusive Tschernobyl, noch zu übertrumpfen.

Die Sandinisten sind in Wahlen besiegt worden, und vielleicht gelingt es den USA auch, nach ihrer Heldentat gegen ihren Ex-Kollaborateur Noriega in Panama — die Todesschreie einiger tausend Zivilisten sind im Echo der gleichzeitigen rumänischen Ereignisse untergegangen —, demnächst einem von ihnen unabhängigen und sozialistisch orientierten Kuba endlich den seit Jahrzehnten ersehnten Garaus zu machen. Aber keine Desinformationskampagne kann darüber hinwegtäuschen, daß in Kuba und in Nicaragua soziale und kulturelle Fortschritte erzielt worden sind, von denen das viel reichere Venezuela und andere Länder der Region nur träumen können. Und daß diese Niederlagen in erster Linie auf den unerbittlichen, nicht selten offen kriminellen Druck der westlichen Supermacht zurückzuführen sind, die um jeden Preis die Verbreitung des ‚schlechten Beispiels‘ verhindern will, wie einst Breschnjew die Beispielswirkung des Prager Frühlings.

Auch ist es unmöglich zu ignorieren, daß Zentralamerika trotz seines dynamischen Wirtschaftswachstums der 60er und 70er Jahre zu einem Pulverfaß geworden ist und es auch bleiben wird. Ähnliches gilt für Mexiko, das durch seine geplante ‚Integration‘ in den Westblock USA-Kanada wohl einige dynamische Impulse in diversen Sektoren erhalten kann, kaum jedoch die Lösung seiner schweren strukturellen Probleme davon erwarten darf. Auch Ungarn mit seinen Autobussen und die anderen Oststaaten mit diversen anderen Industrieprodukten haben schließlich aus der COMECON-Spezialisierung gewisse Vorteile ziehen können, aber insgesamt scheinen sie heute dieser nur im Ansatz hergestellten „sozialistischen internationalen Arbeitsteilung“ unter Moskauer Führung keine Träne nachzuweinen.

In Peru hat Alberto Fujimori die größte Wahlsensation der letzten Jahre, wenn nicht aller Zeiten, geliefert und den Kandidaten der Banken und des Auslandskapitals, den früher fortschrittlichen Schriftsteller Vargas Llosa, wieder an seine Arbeit für den längst fälligen Literaturpreis zurückgeschickt. Aber wenn auch er, trotz entgegengesetzter Wahlversprechen, neoliberale Rezepte anwenden sollte, so kann er damit das Pulverfaß in den mittleren Anden nur endgültig in die Luft jagen. Denn hier wie anderswo gilt es in erster Linie, eine „andere Schandmauer“ zu beseitigen, wie der fast siegreiche Präsidentschaftskandidat Luiz Inacio da Silva auf eine demagogische Frage seines Rivalen nach der Berliner Mauer meinte: diejenige, die die wenigen Reichen von den unzähligen Armen trennt.