FORVM, No. 107
November
1962

Wissenschaft und letzte Werte

Die „Reine Rechtslehre“, nach der Psychoanalyse Sigmund Freuds wohl die originellste und am weitesten in die Welt ausstrahlende schöpferische und systematische Leistung eines Österreichers dieses Jahrhunderts, ist im Heimatland ihres Begründers heute eine viel zu wenig bekannte Theorie.

Über die mangelnde Vertrautheit auch weiter juristischer Kreise mit dem Lehrgut Kelsens dürfen die hohen Auflagen seiner Bücher und die zahlreichen Lobesbezeugungen nicht hinwegtäuschen, die ihm von offizieller Seite bei passenden Gelegenheiten dargebracht werden. Der tatsächliche Stand der Lehr- und Forschungstätigkeit an den juridischen Fakultäten unseres Landes entspricht im großen und ganzen einem Verharren in der von Kelsen kritisierten und inhaltlich aufgelösten traditionellen Jurisprudenz und „Allgemeinen Rechtslehre“.

Die grundlegenden, ja revolutionären Einsichten, die Kelsen in seiner „Reinen Rechtslehre“ entwickelt und in der zweiten Auflage seines Hauptwerkes 1960 wieder in glänzender Form dargestellt hat, werden von den Vertretern des Traditionalismus, die das Feld beherrschen, unterschlagen. Kelsen wird gewöhnlich nur in seiner Bedeutung als Rechtstechniker gewürdigt, als Rechtssystematiker nur insoweit, als sein System der Vertiefung schon vor ihm gewonnener Erkenntnisse dient — so nimmt man z.B. keinen Anstoß an der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung —, nicht aber, soweit er mit seinen Ausführungen für unumstößlich gehaltene und auch heute noch von den konservativen Juristen und Staatsrechtslehrern als Selbstverständlichkeiten behandelte Positionen der herkömmlichen Rechtslehre entwurzelt.

Es ist kein Wunder, daß sich alle jene ablehnend oder doch passiv resistent gegenüber der „Reinen Rechtslehre“ verhalten, die im politischen Bereich der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung unkritisch gegenüberstehen. Die Zusammenhänge zwischen politischer Gesinnung und wissenschaftlichem Bekenntnis liegen trotz der grundsätzlichen Selbständigkeit und Verschiedenartigkeit der Sphären auf der Hand. Wer die Reihe der ideologiekritischen Elemente der „Reinen Rechtslehre“ — ganz zu schweigen von den rein ideologiekritischen Arbeiten Kelsens — Revue passieren läßt, wird die Abwehr oder Zurückhaltung jener verstehen, die durch die messerscharfe Analyse Kelsens in die Verlegenheit gebracht werden, alle tradierten Denk- und Gesellschaftsinhalte auf ihre logische Gültigkeit und ihren ideologischen Gehalt hin zu prüfen, und die genau fühlen, daß es kein Halten gäbe, wenn sie sich einmal auf das gefährliche Unternehmen einließen.

Obwohl die „Reine Rechtslehre“ ihrem Selbstverständnis nach Rechtswissenschaft und nicht Rechtspolitik treiben will, obwohl sie nur die Frage zu beantworten sucht, „was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll“, wirft sie doch gleichsam als Nebenprodukt ihrer auf Rechtserkenntnis gerichteten Hauptabsicht Aussagen von großer Tragweite für die inhaltliche Gestaltung und geistige Deutung bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen ab.

Indem die „Reine Rechtslehre“ den zäh verteidigten Positionen der „Allgemeinen Rechtslehre“ den Kampf ansagt, begibt sie sich in der gesellschaftlichen Arena auch in die Sphäre des Wollens, zu dem sie sich als Theorie heranarbeitet, das sie als letzte Quelle der Normen aufdeckt, das sie aber letztlich nicht mehr instrumentieren kann, sondern dessen Entscheidungsmächtigkeit sie offenlassen und als ens sui generis anerkennen muß.

Gerade der Wertrelativismus, der der „Reinen Rechtslehre“ philosophisch immanent ist, ist der Willensentscheidung gegenüber machtlos und inkompetent. Die „Reine Rechtslehre“ begegnet aber in der gesellschaftlichen Realität nicht bloß dem politisch relevanten und von ihr respektierten Wollen, das ihr in keinem Falle zu widersprechen vermag, sie begegnet auch einem als wissenschaftlich getarnten ideologisch gefärbten Widerstand, gegen den sie sich ihrerseits sehr wohl mit ihrem wissenschaftlichen Rüstzeug zur Wehr setzen muß und kann. Insoweit die „Reine Rechtslehre“ sozusagen gegen ihren Willen und am Rande des von ihr konsequent verfolgten Hauptweges auch gegen bestimmte gesellschaftliche Zustände oder doch gegen deren ideologische Präsentation Stellung bezieht, macht sie sich alle jene zu Feinden, die nicht bereit sind, auf die ideologische Legitimierung ihrer sozialen Wertvorstellungen zu verzichten, und die nicht damit zufriedenzustellen sind, daß ihnen die „Reine Rechtslehre“ ohnehin freie Hand zur Fällung ihrer Grundentscheidungen läßt.

Da sich die „Reine Rechtslehre“ aber ihrer Natur nach nicht dazu eignet, ihrerseits als Begründung und Rechtfertigung politischer Willensinhalte zu fungieren, wird sie entweder als unbrauchbar beiseitegeschoben oder aber von den Ideologen nach der „Haltet den Dieb“-Methode selbst der Ideologie verdächtigt. Schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert stellte der Archivar Professor Kelsens, Dr. Rudolf Aladar Métall, in bezug auf die „Reine Rechtslehre“ fest:

Die einen tadeln an ihr, daß sie politische Ziele verfolge; die anderen wieder schelten sie, weil sie nicht in den Dienst politischer Ziele gestellt werden kann.

Und Kelsen selbst charakterisierte die von den Ideologen aller Richtungen bedrängte Position der „Reinen Rechtslehre“ folgendermaßen:

Da sie die Ideologie beider Seiten als solche erkennt, werden ihre Resultate von jeder der beiden Seiten als Ideologie des Gegners verdächtigt.

Die „Reine Rechtslehre“ hat mit vielen Begriffen und Systematisierungen aufgeräumt, die mehr oder minder verhüllte Ideologoumena darstellen und einer konsequenten Analyse und rechtslogischen Durchdringung nicht standhalten. So hat sie die durchaus ideologische Funktion des Dualismus von Staat und Recht aufgedeckt und aufgezeigt, daß die krampfhaft festgehaltene Unterscheidung der herrschenden Lehre die Funktion hat, den Staat durch das von ihm erzeugte Recht rechtfertigen zu lassen und ihm so eine höhere Weihe zu verleihen.

Ähnlich verhält es sich nach Kelsen mit der nicht minder zäh verteidigten und trotz aller Kritik fortgeschleppten Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, auch hier ist das Motiv der Differenzierung ein ideologisches, nämlich das Bestreben, den Gegensatz zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung zu verabsolutieren; dem Staat soll gegenüber der Gestaltung der privaten Rechtsbeziehungen eine besondere, privilegierte, durch das Verhältnis von Über- und Unterordnung gekennzeichnete Sphäre reserviert werden, um der Macht in seinem Bereich einen weiteren Spielraum einzuräumen.

Neben diesen Fundamentalkonstruktionen der herrschenden Lehre fallen aber auch die kleineren, scheinbar harmlosen Hilfsfiguren der traditionellen Jurisprudenz der Kritik zum Opfer: die Lehre vom Rechtssubjekt wird von der „Reinen Rechtslehre“ als bloße Personifikation einer von der Rechtsordnung gestifteten Einheit enthüllt und auf ihr richtiges Maß zurückgeführt.

Die sich hinter der Figur des Rechtssubjektes verbergenden subjektiven Rechte hinwiederum werden von Kelsen als ideologische Konstruktion zum Schutz der Institution des Privateigentums vor der Aufhebung durch die Rechtsordnung entlarvt.

Der Verschleierung der Ausbeutung dient nach Kelsen die Unterscheidung zwischen persönlichen und dinglichen Rechten. Durch die Verdinglichung des Eigentumsrechtes soll der strikt personale Bezug des Eigentums, nämlich der Ausschluß aller anderen und deren Verpflichtung, dieses Eigentum zu respektieren, verdeckt und vergessen gemacht werden.

Nehmen wir noch dazu, daß Kelsen die Deutung der Gemeinschaftsreaktion gegen normwidriges Verhalten von Gesellschaftsmitgliedern als Strafe der Ideologie bezichtigt und zum alten Eisen geworfen hat, ist leicht einzusehen, daß die mehr als bloß rhetorische Anerkennung der „Reinen Rechtslehre“ zu weittragenden gesellschaftlichen Konsequenzen führen müßte, wenn sich auch nur eine größere Anzahl von Juristen die Ergebnisse der „Reinen Rechtslehre“ zu eigen machten.

Erst Recht, dann Pflicht

In welche Tiefen des konservativen Gedankengutes und des damit verknüpften Doppelspieles die „Reine Rechtslehre“ mit ihren Mitteln hineinleuchtet, geht aus einer Stelle bei Kelsen hervor, die — ohne eine politisch wertende historische Bezugnahme zu enthalten — dennoch gerade das bloßlegt, was sich bei Betrachtung und Analyse des Konservativismus aufdrängt: den Widerspruch zwischen dem ökonomischen Freiheitsideal des konservativen Lagers und seinem kulturellen Gebundenheitsmodell — welcher Widerspruch sich allerdings vom gemeinsamen Grundwollen der dieses Lager bildenden Schichten her auflöst.

So formt sich die Analyse der juristischen bzw. ideologischen Widerspiegelung dieser gesellschaftlichen Grundhaltungen bei Kelsen zu der Feststellung:

Der Rechtspflicht stellt man für gewöhnlich die Berechtigung als subjektives Recht gegenüber und rückt dabei dieses an die erste Stelle. Man spricht im Bereiche des Rechts von Recht und Pflicht, nicht von Pflicht und Recht (im Sinne der Berechtigung) wie im Bereich der Moral, wo jene mehr als dieses betont wird.

Die Betonung des Rechtsmoments im Rahmen der Rechtsordnung und die Betonung des Pflichtmoments im Rahmen der Ethik, die von den Vertretern des Konservativismus in die gesellschaftliche Realität projiziert wird, stellt einen Widerspruch dar, der zu näherer Untersuchung einlädt und die Aussage Kelsens an einem höchst bedeutsamen Einzelfall illustriert:

Der innere (logische) Widerspruch ist in der Regel Symptom eines ideologischen Systems, da ein solches nicht nur aus Sätzen bestehen kann, die die Realität verhüllen, sondern auch aus solchen, die sie darstellen.

Es kann also nicht daran gezweifelt werden, daß die „Reine Rechtslehre“ eine ihr wissenschaftliches Ziel transzendierende, aber doch nicht vom Grundbestand ihrer Aussagen loslösbare politische und gesellschaftlich revolutionierende Komponente hat, der sich Kelsen sehr wohl bewußt ist und von der er sich im klaren ist, daß sie mit den Grundforderungen sozialistischer Programmatik ein gutes Stück Gemeinsamkeit besitzt. So urteilte Kelsen in seiner „Allgemeinen Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung“:

Es ist vor allem die unter dem Namen ‚Reine Rechtslehre‘ oder ‚normative Schule der Rechtswissenschaft‘ bekannte Richtung, die seit zwei Jahrzehnten einen energischen Kampf gegen die meisten Positionen der traditionellen Rechtstheorie, und zwar im wesentlichen nach der Methode einer Ideologiekritik führt. Insofern entsprechen die Ergebnisse dieser Richtung der neueren Rechtswissenschaft in einem sehr weiten Maße den Tendenzen der materialistischen Geschichtsauffassung und kommen dieser zugute.

Trotz dieser Parallelität der Bemühungen auf beiden Ebenen muß sich Kelsen vom Standpunkt der „Reinen Rechtslehre“ aus dagegen verwahren, sein System nunmehr einem anderen politischen Programm dienstbar zu machen und es solcherart wieder in eine ideologische Position drängen zu lassen. Denn:

... die ‚Reine Rechtslehre‘ untersucht ihren Gegenstand in der ausgesprochenen Absicht, damit keinem politischen, sondern einem wissenschaftlichen Ziel, keinem irgendwie gerichteten Wollen, sondern ausschließlich dem Erkennen zu dienen. Die ursprünglich von der bürgerlichen Wissenschaft aufgestellte, heute von ihr auf dem Gebiet der sozialen Theorie nicht mehr sonderlich beobachtete, hier zum Teil sogar bewußt aufgegebene Forderung nach prinzipieller Trennung von Politik und Wissenschaft sucht die ‚Reine Rechtslehre‘ gegen alle Widerstände von rechts und links aufrechtzuerhalten.

Die „Reine Rechtslehre“ bewahrt davor, Ideologie nur beim Gegner zu sehen und gegen die eigene Ideologie blind zu bleiben. Insofern ist die „Reine Rechtslehre“ nicht nur ein Verbündeter im politischen Kampf des Sozialismus, da sie ja die vom gesellschaftlichen Wollen her bekämpften Eigentums- und Kulturpositionen des Gegners vom Geistigen her in Frage stellt, sie wird auch zu einem Instrument innersozialistischer Kritik und Selbstverständigung.

Vor allem die Irrtümer und Fehlwirkungen der Marxschen Staatslehre wurden von Kelsen in einer Weise aufgezeigt, die sich für eine Fruchtbarmachung im politischen Aktionsbereich der sozialistischen Bewegung sehr wohl eignet. Der Kelsen’schen Kritik entging es auch nicht, wenn Marx einmal selbst Opfer einer ideologischen Konstruktion der von ihm bekämpften bürgerlichen Theorie und Rechtswissenschaft wurde. So zeigte Kelsen auf, daß der ideologische Dualismus von Staat und Recht von Marx in modifizierter Form übernommen wurde und daß Marx über dem taktischen Vorteil, den ihm der dialektisch gedeutete Gegensatz von Staat und Gesellschaft bot, die ideologische Funktion dieses Dualismus übersah.

Es ist auffällig und einer Erklärung bedürftig, daß — wie schon angedeutet — die meisten politischen Systeme und Denkrichtungen von der in der „Reinen Rechtslehre“ enthaltenen Ermächtigung zur Fällung ihrer Wertentscheidungen keinen Gebrauch gemacht und sich lieber der zweifelhaften Schutzherrschaft der Ideologie, also der Legitimierung und Erschleichung ihrer Willensinhalte, anvertraut haben.

Es ist selbstverständlich, daß die jeder rationalen Analyse abholde und rassistisch verblendete Doktrin des Nationalsozialismus kein Verständnis für die „Reine Rechtslehre“ aufbringen konnte, obwohl der „Reinen Rechtslehre“ zu Unrecht vorgeworfen wird, daß sie durch ihren Wertrelativismus das Heraufkommen des braunen Totalitarismus ermöglicht und erleichtert habe.

Auch der Widerhall Kelsens im konservativen Denk- und Aktionsraum ist ein höchst unfreundlicher: die beste Art der Würdigung ist dort noch immer die, so wenig wie möglich von Kelsens origineller Schau zur Geltung kommen zu lassen und soviel wie möglich vom eigenen Gedankengut in die fremde Denksphäre zu verpflanzen.

Selbstverständlich können sich auch die Kommunisten nicht dazu bequemen, die ideologiefreie Deutung der Gesellschaft zu akzeptieren, der die „Reine Rechtslehre“ zum Siege verhelfen kann.

Die Kritisierten schweigen

Mit Ausnahme einiger Liberaler und Sozialisten sieht sich die „Reine Rechtslehre“ im deutschen Sprachraum einem schier undurchdringlichen Wall des Schweigens, des Mißverstehens und der Ablehnung gegenüber. Diese vom Standpunkt der „Reinen Rechtslehre“ akzidentielle Situation, die sie an der unbeirrten Propagierung ihrer unwiderlegten, wenn auch viel widersprochenen Einsichten nicht hindert, wirft aber vom Standpunkt der gesellschaftlichen Aktion eine Frage auf, die für die im politischen Kampf engagierten Kräfte von außerordentlicher Bedeutung ist und auch der „Reinen Rechtslehre“ nicht gleichgültig sein kann, da sie durch diese Frage aus ihrer wissenschaftlichen Reserve wiederum in die politische Auseinandersetzung hineingezogen werden könnte, zu der sie ihrer Natur nach nur einen negativen Beitrag zu leisten vermag —, nämlich die Frage: Welche gesellschaftlichen Kräfte können sich die von der „Reinen Rechtslehre“ verlangte Ehrlichkeit leisten? In welchem Maße sind die einzelnen gesellschaftlichen Kräfte einer Entideologisierung fähig und auf Willensentscheidungen legitimer Natur reduzierbar?

Wenn auch die „Reine Rechtslehre“ mit ihrem Relativismus jeder ehrlich festgehaltenen Grundentscheidung gegenüber tolerant und offen ist, so stößt sie doch offenkundig bei vielen gesellschaftlichen Kräften auf wenig Gegenliebe. Diese Kräfte denken nicht daran, ihren ideologischen Überbau abzutragen oder doch zu verkleinern, sondern hören nicht auf, die Ruinen ihrer Denkgebäude wie Trutzburgen zu behandeln.

Vermag die „Reine Rechtslehre“ von ihrem Standpunkt aus auch nicht über die Qualität der einzelnen Werturteile zu befinden, die den Handlungen im politischen Leben zugrunde liegen, so kann und muß sie doch von den immanenten Kriterien ihrer eigenen Disziplin her konstatieren, in welchem Maße sich die einzelnen sozialen und politischen Gebilde ihrer Kritik stellen, und sie muß den Schluß zumindest offenlassen, daß die intransigenten Systeme sich dieser Kritik unter Berücksichtigung ihres Grundwollens nicht aussetzen können.

Das Wort „können“ ist hier nicht im Sinne einer absoluten, logischen Unmöglichkeit zu verstehen, wohl aber im Sinne einer sozialpsychologischen Unfähigkeit. So müßte der Konservativismus, der mit der von der „Reinen Rechtslehre“ nahegelegten Selbstbescheidung und Entideologisierung Ernst machen würde, sich in einer Vielzahl von Fällen auf die Grundentscheidung „Historisch gewordene Tatsachen sind unantastbar und sollen nicht geändert werden“ zurückziehen, und die „Reine Rechtslehre“ könnte einer solchen Entscheidung von ihrem Standpunkt aus nichts entgegenhalten, was nicht schon ihre Kompetenz und den Rahmen ihres Systems überschreiten würde. Trotzdem wird diese Grundentscheidung selten bekannt und artikuliert, obwohl sie unzweifelhaft ein starker Motor konservativer Gesellschaftsauffassung ist.

Ein frappantes Beispiel konservativer Ideologisierung und Rationalisierung des besprochenen Grundsatzes wurde etwa in einem Beitrag Dr. Alfred Haslingers über die Strafrechtsreform [*] geliefert. Ein zur Verdeutlichung des Textes in den Artikel eingeschaltetes Bild der „Justitia“ trägt den Untertitel: „Recht muß Recht bleiben.“ Da im zitierten Beitrag gegen eine Änderung des Strafrechtes in einem bestimmten Sinne Stellung bezogen wurde, Recht im juristischen Sinn aber auch nach der Einführung von Änderungen zweifellos Recht, d.h. gültige und verbindliche Norm bleiben würde, könnte der Titel ehrlicherweise nur lauten: „Alles muß beim Alten bleiben!“

Gegen eine solche entwaffnende Offenheit ließen sich wohl wieder Argumente anführen, die bezogene Position selbst aber bliebe vom Standpunkt der „Reinen Rechtslehre“ aus unanfechtbar. Dagegen muß die proklamierte Forderung „Recht muß Recht bleiben“ dem entschiedenen Widerspruch der Kritik begegnen; impliziert sie doch den naturrechtlichen Gedankengang, daß eine materiell geänderte Rechtsordnung weniger rechtshältig wäre als eine andere.

Auch die bolschewistische Praxis würde dem Zugriff der „Reinen Rechtslehre“ entgehen, wenn sie sich zu dem ihr Handeln instrumentierenden Grundsatz „Der Wille der in der Partei bzw. in ihren Führungsgremien vereinigten Menschen ist oberstes Gesetz“ bekennte und auf die geschichtsphilosophische und politisch-ideologische Begründung dieser Maxime verzichtete. Wenn sie aber den Begriff „Demokratie“ bemüht, um eine Minderheitsherrschaft zu rechtfertigen, heftet sich die Ideologiekritik auf ihre Spur, und sie muß sich etwa den von Kelsen erbrachten Nachweis gefallen lassen, daß der ursprüngliche Begriffsinhalt hier in einer unverantwortlichen Weise ausgehöhlt und zurechtgebogen wurde.

Es scheint also gewisse Wertentscheidungen zu geben, die sich nicht als agitatorisch brauchbar erweisen und die selbst dann nicht reflektiert und bekannt werden, wenn sie dem eigenen Handeln bewußt als Impuls dienen. Ohne daß diese Tatsache etwas für die grundsätzliche Überlegenheit anderer, reflektierter und einbekannter Wertentscheidungen aussagt — auch die bewußt gemachte und deutlich formulierte Entscheidung bzw. die ihr vorausgehende Urteilsbildung ist vom Standpunkt der „Reinen Rechtslehre“ eine subjektive —, macht sie uns doch darauf aufmerksam, daß sich die in jedem Falle subjektiven menschlichen Wertungen ihrer rationalen Motivierung nach innerhalb eines historisch und psychologisch eingeengten Radius bewegen.

In vielen Fällen handelt es sich gar nicht darum, Wertentscheidungen mit verschiedener Intention gegeneinander abzuwägen und vor der Letztgültigkeit des freien Entschlusses zu kapitulieren, sondern einfach darum, die Folgen der politischen Aktion und der individuellen Handlungen mit den von den Handelnden selbst als Rechtfertigung bemühten Kriterien und Wertungen zu konfrontieren. Dies aber ist durchaus ein legitimes Betätigungsfeld rationaler Erhellung und wissenschaftlicher Forschung.

Kein Grund zur Skepsis

Aus lauter Schrecken über die im Letzten sicherlich gegebene und unaufhebbare Unfähigkeit des Wertrelativismus, mit seiner wissenschaftlichen Methode etwas zur Begründung letzter Werte beizutragen, wurde weithin übersehen, welch reiche Betätigungsmöglichkeit der Wissenschaft und der Kritik innerhalb der ihr gesetzten Grenzen verbleibt.

Während noch vor Jahrzehnten der negative Aspekt des Max Weber’schen Postulates der Werturteilsfreiheit, bzw.
Werturteilsbewußtheit für den Bereich der Wissenschaft im Bewußtsein der wissenschaftlich gebildeten Zeitgenossen vorherrschte, besinnt man sich heute wieder auf die großen verbleibenden Möglichkeiten der Wissenschaft. So weist Ernst Topitsch in seiner „Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft“ im Schlußkapitel „Vom Wert wissenschaftlichen Erkennens“ auf die großen Aufgaben und Möglichkeiten der wissenschaftlichen Forschung hin, die auch im Bereich der sozialen Gestaltung viel zum geistigen und gesellschaftlichen Fortschritt beizutragen vermag.

Der bekannte deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf setzte sich erst kürzlich in einem Aufsatz seines Sammelbandes „Gesellschaft und Freizeit“ mit der positiven Funktion der Wissenschaft auseinander und entschärfte die Problematik der Begegnung von Wissenschaft und Werturteil erheblich.

Eine eindrucksvolle Zusammenstellung dessen, „was die Wissenschaft mit Werten tun kann“, gibt Arnold Brecht in seinem enzyklopädischen Werk „Politische Theorie“. Wenn wir uns hier nur die Tragweite der legitimen wissenschaftlichen Aufgabe der Erörterung der „Tauglichkeit eines Mittels zur Erreichung des Zwecks“ sowie der Frage der „vorhersehbaren Konsequenzen und Risken, die sich aus der Anwendung der vorgesehenen oder alternativer Mittel ergeben“ vergegenwärtigen, wird klar, daß zu einem vorschnellen Skeptizismus kein Grund besteht. Der Wertrelativismus muß durchaus nicht die lähmende Wirkung haben, die man ihm zuschreibt, sondern er kann als Ansporn dafür dienen, die menschliche Vernunft bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu beanspruchen und vor dem Irrationalen nicht eher zu kapitulieren, als es sich als unabweisbare Größe aufdrängt und in seiner letztbestimmenden Qualität sichtbar wird.

[*„Furche“, Nr. 18/1962, S. 3

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