FORVM, No. 202/I
Oktober
1970

Wissenssoziologie als Purzelbaum

Vgl. Adam Schaff, Sartre und Marx, FORVM März 1964

Adam Schaff, zwischen Warschau und Wien als akademischer Lehrer pendelnd, gehört zu den Initiatoren der Renaissance marxistischer Philosophie nach Stalins Tod. Sein Buch „Marxismus und das menschliche Individuum“, im Wiener Europa-Verlag erschienen, markierte die Wende im Denken der poststalinistischen Philosophen in den Satellitenstaaten der Sowjetunion. Unbeschadet solchen historischen Verdienstes hat Schaff den Hang zu einer beinahe stalinistisch anmutenden Orthodoxie nie abgelegt; unbeschadet wiederum dieses Dranges zur Orthodoxie wurde er, als es in Polen zur Säuberung von jüdischer Intelligenz kam, aus wichtigen Universitäts- und Parteipositionen entfernt. Im Kampf zwischen seinem jüngeren philosophischen Kollegen Leszek Kolakowski und der Parteibürokratie schlug er sich leider auf die falsche Seite (Dokumentation: NF März 1967, 213; Mai 1968, 289; Mitte Februar 1969, 103). Daß derlei die dialogische Auseinandersetzung nicht behindern soll, hoffen wir mit nachfolgender Publikation sowie Kritik zu, beweisen. (Auszüge aus Schaffs demnächst im Europa-Verlag erscheinendem Werk „Geschichte und Wahrheit“)

Der grundlegende Kunstgriff der Wissenssoziologie ist überaus einfach, wenn er auch vom heuristischen Standpunkt aus bedeutsam und fruchtbar ist. Sie begnügt sich nämlich nicht mit der Feststellung, daß in jeder Zeit bestimmte Anschauungen über gesellschaftliche Probleme vorhanden sind, sondern sie stellt überdies die Frage, warum sie gerade in der gegebenen Form zutage treten, die sich von anderen, vergangenen und zeitgenössischen, unterscheidet. Die scheinbar banale Fragestellung nach der Genese ist mit der Feststellung verbunden, daß eine durchaus nicht banale Abhängigkeit der Anschauungen über gesellschaftliche Probleme von den sozialen Lebensbedingungen besteht. Diese verursachen, daß die Menschen diese und keine andere Ansichten haben, was erklärt, warum Menschen, die unter anderen Bedingungen leben oder lebten, auch zu anderen Ansichten neigen.

Diese Erkenntnis hängt aufs engste mit der Bejahung der marxistischen These von der gegenseitigen Abhängigkeit von Basis und Überbau zusammen. Wenn man die These akzeptiert, daß die Bewegung der Basis, das heißt die Veränderung der materiellen Bedingungen gesellschaftlichen Seins, in der Folge Veränderungen der gesellschaftlichen Anschauungen, das heißt Veränderungen im Überbau, nach sich zieht, wird es verständlich, warum wir die Frage nach der Genese dieser Anschauungen stellen und insbesondere nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die diese ins Leben rufen, und nach den materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Seins, die ihnen zugrunde liegen.

Den Ausganspunkt der Analyse des Erkenntnisprozesses sollte also nicht das Individuum bilden, sondern eine Gesellschaftsgruppe, in deren Rahmen das Individuum handelt und mit der es zusammenarbeitet, um eigentliche Gestalt anzunehmen.

Die Verlegung des Akzentes von dem autonom verstandenen Individuum auf die Gesellschaftsgruppe und folglich auf das gesellschaftlich verstandene Individuum ist für die Wissenssoziologie von entscheidender Bedeutung. Erstens unterstreicht Mannheim, der genau den Spuren von Marx folgt, daß die Erkenntnis kein abstrakt-theoretischer Akt, sondern im kollektiven Handeln fundiert ist.

Zweitens aber — was wieder auf die enge Verbindung mit dem Marxismus hinweist — will Mannheim die Erkenntnis dynamisch, als Prozeß, und nicht statisch auffassen. Diese These ist für die Lösung der sich aus der Wissenssoziologie ergebenden Prokleme von größter Wichtigkeit.

Indem er von der Voraussetzung ausgeht, daß Ideologie immer gesellschaftlich bedingt ist, daß sie die Tendenzen und Interessen einer bestimmten Gesellschaftsgruppe spiegelt, steht Mannheim auf dem Standpunkt, daß jegliche Ideologie ex definitione „falsches Bewußtsein“ ist, das heißt, ein einseitiges, parteiliches, also entstelltes Bild der Wirklichkeit gibt. Da er alle Ideologien auf dieselbe Ebene stellt, kann er dem Relativismus nicht entgehen.

Vor allem unterscheidet Mannheim den partikularen und totalen Ideologiebegriff. Mit einem partikularen Ideologiebegriff hat man es nach Mannheim dann zu tun, wenn man bestimmte Ideen und Vorstellungen für mehr oder weniger bewußte Verhüllungen eines Tatbestandes hält, dessen wahre Erkenntnis nicht im Interesse der Gruppen und Individuen liegt, die diese Ideen und Vorstellungen haben. Es kann sich hierbei um eine ganze Skala von Möglichkeiten handeln: von der bewußten Lüge bis zur halbbewußt instinktiven Verhüllung des Tatbestandes, von der Fremdtäuschung bis zur Selbsttäuschung.

Dieser Ideologiebegriff, der sich nach Mannheim erst ganz allmählich von dem Begriff der gewöhnlichen Lüge abgehoben hat, ist in mehreren Bedeutungen des Wortes partikular. Seine Partikularität springt sofort ins Auge, wenn man ihm den totalen Ideologiebegriff gegenüberstellt. Man kann von der Ideologie im totalen Sinn sprechen, wenn wir die Beschaffenheit der totalen Bewußtseinsstruktur, einer Epoche oder einer Gesellschaftsgruppe, zum Beispiel einer Klasse, meinen.

Mannheim interessiert nicht der partikulare, sondern eben der totale Ideologiebegriff; ihn interessiert die veränderliche noologische Ebene, die konstitutive Erkenntnisebene. Gerade mit dieser hat sich die Wissenssoziologie zu befassen. Sie „beobachtet jene Fälle, ... bei denen sich das ganze gesellschaftliche Gefüge mit allen seinen Phänomenen offenbar notwendigerweise den an verschiedenen Punkten dieses Gefüges verankerten Beobachtern verschieden gibt. Nicht die Verhüllungsabsicht bestimmt also in allen diesen Fällen die Einseitigkeit und Falschheit der Aussagen, sondern die unvermeidlich verschieden geartete Bewußtseinsstruktur der verschieden gelagerten Subjekttypen im historisch-sozialen Raum“.

Alle Anschauungen über gesellschaftliche Fragen sind — nach Mannheim — ideologisch; jede Ideologie aber ist eine Deformation der Erkenntnis, ist „falsches Bewußtsein“. Da jede Ideologie gleichzeitig — seiner Meinung nach — eine Funktion der jeweiligen sozialen Seinslage ist, muß sie — als bedingte Wahrheit — auf die jeweiligen Verhältnisse relativiert werden. Deshalb gibt es auch so viele Wahrheiten, wie es „Seinslagen“ gibt.

Ein solcher Standpunkt ist Relativismus, und die konsequente Anwendung dieser Doktrin auf die Gesellschaftswissenschaften im allgemeinen und auf die Geschichtswissenschaft im besonderen muß Folgen hervorrufen, die diese Wissenschaft zunichte machen. Da nämlich die wissenschaftliche Wahrheit vom Bezugssystem abhängt, wird die Möglichkeit intersubjektiv verpflichtender, objektiver Wahrheit in Abrede gestellt und somit der wissenschaftlichen Erkenntnis die Grundlage entzogen.

Mannheim wehrt sich vor dieser Konsequenz, die einer wissenschaftlichen Katastrophe gleichkäme, und das Instrument der Verteidigung soll eben die Wissenssoziologie sein, insbesondere die Unterscheidung von Relativismus und Relationismus im Rahmen dieser Theorie.

Mannheim stellt im Zusammenhang mit unserem Problem zwei Grundthesen auf. Er stellt fest: Erstens, daß man vom Relativismus als Theorie nur dann sprechen kann, wenn man die Kategorie der Wissenssoziologie nicht auf die Erkenntnistheorie ausdehnt und sie auf diese Weise modernisiert; zweitens, daß seine eigenen Anschauungen nicht relativistisch sind, sondern relationistisch, was ein grundsätzlicher Unterschied ist.

Die Sache beruht darauf, daß man die veraltete Erkenntnistheorie und den auf ihr gründenden Wahrheitsbegriff verändern muß, indem man in diesen die Einsicht von der Gebundenheit des Subjekts und des Erkenntnisprozesses an die sozialhistorische Seinslage eingehen läßt. Nur wenn man dieses Moment unberücksichtigt läßt, gelangt man zum Relativismus.

Mannheim schreibt:

Der Relativismus entsteht hierbei stets, wenn man die moderne historisch-soziologische Einsicht in die faktische Standortgebundenheit jedes historischen Denkens mit einer Erkenntnistheorie älteren Typus verbindet, die das Phänomen des seinsverbundenen Denkens eigentlich noch gar nicht kennt ... und daher ... notgedrungen zum Verwerfen eines jeden standortgebundenen Wissens als einem bloß relativen kommen muß. Der Relativismus entsteht also hier aus der Diskrepanz, die zwischen der neuen Einsicht in die faktische Denkstruktur und einer diese noch nicht bewältigenden Erkenntnistheorie besteht.

Um diesen Sachverhalt zu überwinden, muß man nach Mannheim die veraltete Erkenntnistheorie einer Revision unterziehen, indem man ihren historisch-veränderlichen Charakter berücksichtigt. Anderswo stellt Mannheim dasselbe Postulat hinsichtlich des Wahrheitsbegriffs auf, der — nach ihm — ebenfalls „in den historischen Wandel einbezogen“ ist, das heißt abhängig von den Bedingungen der jeweiligen Epoche.

Der Relationismus soll darauf beruhen, „daß es zum Wesen bestimmter Aussagen gehört, nicht absolut, sondern nur in standortsgebundenen Aspektstrukturen formulierbar zu sein“.

Nach Mannheim muß die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen menschlichen Wissens zur Schlußfolgerung von der „relationalen“ Struktur menschlicher Erkenntnis führen. Aber das ist, wie Mannheim behauptet, kein Relativismus:

Es resultiert also auch hier nicht ein Relativismus im Sinne der Beliebigkeit jeder Behauptung; der Relativismus in unserem Sinne besagt vielmehr, daß jede Aussage wesensmäßig nur relational formulierbar sei, und er schlägt nur dann in Relativismus um, wenn man ihn mit dem älteren statischen Ideal ewiger, desubjektivierter, unperspektivischer Wahrheiten verbindet und an diesem ihm disparaten Ideal (von absoluter Wahrheit) mißt.

Mannheim sagt, daß der Relationismus dann in den Relativismus übergeht, wenn er im Rahmen der Erkenntnistheorie gefaßt wird, welche — ohne die Rolle des subjektiven Faktors im Erkenntnisprozeß zu berücksichtigen — mit dem Ideal ewiger und absoluter Wahrheiten, die statisch aufgefaßt werden, operiert. Seiner Meinung nach beruht der Vorwurf gegen den Relationismus, ein Relativismus zu sein, auf einem Mißverständnis.

Und in gewissem Sinne verhält es sich tatsächlich so, wenn man von dem mechanistischen, passiv-kontemplativen Modell der Erkenntnisrelation an die Einschätzung des Relationismus herangeht: Es ist dann unmöglich, die Rolle des subjektiven Faktors beim Erkennen zu begreifen, und folglich kann man auch den Sinn der Idee des Relationismus nicht verstehen. Aber die ganze Angelegenheit läßt sich bei der Wissenssoziologie nicht nur auf einen Irrtum reduzieren. Die Sache reicht viel tiefer und hängt vor allem damit zusammen, daß Mannheim den Standpunkt des Relationismus nicht konsequent durchzuhalten vermocht hat und folglich auf die Positionen des Relativismus übergegangen ist.

Mannheim ist seiner eigenen Theorie untreu geworden, wenn er zugleich mit den Thesen des Relationismus die Theorie verfocht, daß jegliche Ideologie „falsches Bewußtsein“ ist. Jede Ideologie ist gesellschaftlich bedingt, standortgebunden, ist also in ihrer Perspektive begrenzt und entstellt die Wirklichkeit. Infolgedessen sind alle Ideologien eine Deformation, also ein falsches Bild der Wirklichkeit, ein „falsches Bewußtsein“. Daraus geht eindeutig hervor, daß Mannheim die Rolle des subjektiven Faktors beim Erkennen negativ bewertet.

Gleichzeitig aber wissen wir, daß der Relationismus den subjektiven Faktor als einen notwendigen Bestandteil des Erkenntnisprozesses einkalkulieren will und es der sogenannten traditionellen Erkenntnistheorie zum Vorwurf macht, daß sie es nicht verstanden hat, ihn in ihren Konstruktionen zu berücksichtigen. Somit darf man — dem Relationismus zufolge — die Rolle des subjektiven Faktors, insofern er Ausdruck der gesellschaftlichen Bedingtheiten des Subjekts ist, nicht negativ einschätzen.

Wenn man den Relationismus konsequent entwickelt, kann man nicht gleichzeitig die Theorie von der Ideologie als einem „falschen Bewußtsein“ verfechten. Das ist ein Widerspruch innerhalb der Doktrin, der unsere These bestätigt, daß Mannheim es nicht verstanden hat, seine eigenen Ideen konsequent durchzuführen, so daß er im Endergebnis nicht zum Relationismus, sondern zu einem echten Relativismus gelangt ist.

Mannheim behandelt die Erkenntnistheorie, für die — unter anderem — das Ideal der absoluten Wahrheit das Maß ist, als veraltet. Nicht nur, weil sie die Standortgebundenheit nicht berücksichtigt, sondern auch wegen des „statischen Ideals absoluter Wahrheiten“. Der Relationismus soll gerade den partiellen Charakter der jeweilig der Erkenntnis erreichbaren Wahrheiten berücksichtigen und folglich den prozessualen, dynamischen Charakter menschlicher Erkenntnis und der durch sie erlangten Wahrheit.

Aber wiederum tritt ein Widerspruch zwischen diesem Postulat des Relationismus und der Mannheimschen Wissenssoziologie deutlich hervor. Während Mannheim in dem einen Fall gegen die Anerkennung der absoluten Wahrheit als Maß protestiert, postuliert er sie in dem anderen. Denn wenn die Ideologie keine vollständige Wahrheit beinhaltet, also keine ewige und absolute, disqualifiziert er sie als „falsches Bewußtsein“. Er läßt also die Kategorie der partiellen und folglich veränderlichen Wahrheiten nicht zu, das heißt, er klammert eine spezifische Evolution des Wahrheitsbegriffs aus.

Damit aber akzeptiert er die Prämisse — und zwar seinen eigenen Postulaten zuwider —, daß das Ideal der absoluten Wahrheit das Maß ist. Er begeht auf diese Weise einen grundlegenden Fehler: er verwechselt die objektive mit der absoluten Wahrheit. Das hat dem Relativismus Tür und Tor geöffnet, obwohl die Wissenssoziologie doch den Relationismus gefordert hat.

Sogar auf dem Boden des Relationismus bleibt die These in Kraft, daß keine Aussage den historischen Gegenstand in seinem „Ansichsein“ zu fassen vermag, vielmehr infolge ihres ideologischen Charakters eine Funktion der Standorts- und Zweckgebundenheit des Historikers ist. Wieder erscheint — trotz der neuen Terminologie — die Frage des Bezugs der Erkenntnis auf das Subjekt und seine gesellschaftliche Bedingtheit in einer Weise, die die Möglichkeit objektiven Wissens in Frage stellt.

Mannheim versucht, diese Klippe mit Hilfe der „Theorie der Perspektiven“ zu umschiffen. Denn wenn man die Wirklichkeit unter verschiedenen Aspekten faßt, erreicht man die Objektivität auf einem mittelbaren Weg, auf dem Wege des „Umrechnens“ oder „Übersetzens“ dieser verschiedenen perspektivischen Anschauungen:

Genauso wie der Streit bei dem visuellen Gegenstande, der ja auch ... wesensmäßig nur perspektivisch gesehen werden kann, nicht dadurch geschlichtet wird, daß man eine unperspektivische Sicht konstruiert (was nicht möglich ist), sondern so, daß man aus dem einen standortgebundenen Bilde heraus versteht, warum sich dem anderen dort von jenem Standorte die Sache so und nicht anders gibt, so werden wir auch hier durch das Übersetzen und Umrechnen die Objektivität herstellen. Daß hierbei sofort das Problem entstehen wird, welche von den vorhandenen Perspektiven die optimale ist, ist selbstverständlich — auch dafür gibt es aber ein Kriterium, ganz wie bei der visuellen Perspektivität, wo auch bestimmte Aspekte den Vorzug haben können, die entscheidenden Zusammenhänge am Gegenstand sichtbar zu machen — eben: die größte Fassungskraft, die größte Fruchtbarkeit dem empirischen Material gegenüber.

Wie es in solchen Fällen normal ist, macht die Häufung der Argumente die Situation nur noch komplizierter. Zugleich mit dieser „Theorie der Perspektiven“ tauchen neue, gewichtige Schwierigkeiten der Wissenssoziologie auf.

Mannheim ist darum bemüht, nachzuweisen, daß seine Konzeption nicht relativistisch ist, daß sie Objektivität der Erkenntnis anerkennt, nur anders verstanden als im Rahmen der traditionellen Erkenntnistheorie. Auch bei der relationalen Lösung, sagt Mannheim, „geht es nicht darum, daß man das Postulat der Objektivität und Entscheidbarkeit sachhaltiger Diskussionen preisgibt oder einem Illusionismus huldigt, wonach alles Schein und nichts entscheidbar ist, sondern nur darum, daß diese Objektivität und Entscheidbarkeit nur auf Umwegen herstellbar ist“.

Nach Mannheim tritt diese Objektivität in zwei Varianten zutage.

Erstens dann, wenn wir eine gemeinsame noologische Ebene haben. Bekanntlich wächst nach der Mannheimschen Theorie der Ideologie die „Aspektkultur“, der „Denkstil“ aus bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und zweckgerichteten Prozessen hervor. Auf diese Weise entsteht eine bestimmte Begriffs- und Kategorienapparatur, die die Konturen unseres Weltbildes vorzeichnet, und die Änderung dieser Apparatur ruft eine Veränderung des Weltbildes hervor. Solange wir uns also im Rahmen ein und desselben Systems befinden (denselben „Denkstil“ haben, wie zum Beispiel die Mitglieder einer Klasse in derselben historischen Epoche), können wir zu denselben Resultaten gelangen und die Anschauungen, die mit ihnen im Widerspruch stehen, als irrige verwerfen.

Zweitens dann, wenn wir uns im Rahmen verschiedener Systeme befinden und es zu einem Konflikt verschiedener „Perspektiven“ kommt. In diesem Fall müßte die „Objektivität“ auf Umwegen durch das „Umrechnen“ dieser Perspektiven erreicht werden. Aber auf welche Art soll das vor sich gehen?

Mannheim schlägt vor, die Synthese dadurch zu erreichen, daß man sich über die in Konflikt geratenen Perspektiven erhebt, was einem ermöglicht, deren Entstehungsbedingungen zu verstehen. Aber nach der Theorie der Ideologie hat doch auch derjenige, der die Synthese herstellt, einen eigeren „Denkstil“ und ist kein unparteiischer Richter, sondern bringt seine entstellende Sichtweise in die Frage hinein. Wir müßten also, wie in anderen relativistischen Systemen, zu der die Wissenschaft aufhebenden Überzeugung kommen, daß, wer das letzte Wort hat, auch recht behält.

Mannheim schlägt noch einen anderen Ausweg vor: den Streit zwischen verschiedenen „Perspektiven“ mit Hilfe des Kriteriums der größten Fruchtbarkeit eines Aspekts dem empirischen Material gegenüber zu schlichten.

Aber auch hier melden sich Schwierigkeiten des Typus an, von denen eben die Rede war. Denn der Konflikt bezieht sich doch unter anderem auf die Sichtweise, in der diese Fruchtbarkeit gesehen wird, und der Schiedsrichter besitzt ebenfalls seine Sichtweise, die Objektivität ausschließt. Und wiederum hat recht, wer das letzte Wort hat.

In dieser kritischen Situation entschließt sich Mannheim zu einem theoretischen Salto mortale: Die Objektivität einer gewissen Gesellschaftsgruppe in ihrer Denkstruktur wird — bezüglich ihrer gesellschaftlichen Situation — einfach vorausgesetzt. Folglich setzt Mannheim die Möglichkeit voraus, daß diese Gruppe die objektive historische Wahrheit erreichen kann. Das ist nicht allen gegeben, sondern allein der Intelligenz, die über den Klassen steht und deren Berufung es ist, immer den Punkt zu finden, von dem aus eine allgemeine Orientierung in den Ereignissen möglich ist.

Dieser letzte Salto mortale bedeutet für die Konzeption Mannheims einen doppelten Bankrott.

Erstens weil Mannheim in Konflikt mit seiner eigenen Theorie gerät, wenn er die besondere Stellung der Intelligenz herausstreicht, die den Rahmen der allgemeinen These von der Standortgebundenheit alles Wissens sprengt.

Zweitens weil er durch die Setzung der Möglichkeit der objektiven Erkenntnis der „Denkstruktur“ und somit der objektiven historischen Wahrheit in Widerspruch zur Grundthese der Theorie der Ideologie gerät (der Ideologie als „falsches Bewußtsein“) und somit die Grundlagen seines Systems in Frage stellt.

Es stellt sich also heraus, daß der Preis, den Mannheim für seinen Versuch, den Relativismus zu vermeiden, zu bezahlen hat, die Vernichtung der Basis seiner eigenen Konzeption ist.

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