FORVM, No. 101
Mai
1962

Witziger Kopf, schlechter Charakter

Pascal notiert: „Witziger Kopf — schlechter Charakter.“ Und keiner hat die vorerst kaum begreifliche Wahrheit dieses Satzes so stringent bewiesen wie Nestroy, dieser witzigste Kopf der gesamten deutsch-sprachigen Literatur (und obendrein der einzige neuere Dramatiker, der es wenn auch nicht in der Breite, so doch in der Tiefe der Empfindung mit Shakespeare aufnehmen kann; aber das nur nebenbei).

„Witziger Kopf — schlechter Charakter“: das scheint, dem gutbürgerlichen Frohsinn jedenfalls, freilich nicht die rechte Würdigung jemandes zu sein, von dem man sich in einhundert Jahren der (allerdings häufig getrübten) Erinnerung ein bereits walhallareifes Bild gemacht hat, zumindest als eines Klassikers zweiter Wahl; wir meinen hingegen, daß einem, der es Zeit seines Lebens so strikt mit der Wahrheit gehalten hat wie Nestroy, nichts anderes dürfe nachgerufen werden als eben diese, und diese ist, wie wir gerade dank der dramatischen Produktion Nestroys doch wissen sollten, genau der Gegensatz (Gegen-Satz) zu all dem, was man gemeinhin und insbesondere auch bei funebren Anlässen kultureller Natur daherzuschwafeln pflegt. „Denn er war unser“ wird man deshalb von uns im Andenken an Nestroy gewiß nicht hören; das überlassen wir gern den offiziellen Leichenfledderern, die ja aus dem Kapital honoriert werden, das sie aus dem ihnen sonst ganz unbegreiflichen Geist der großen Toten schlagen wir sind halt ein armer Staat und brauchen uns deshalb vor nichts zu genieren (wie der „Herr Karl“ etwa sagen würde). Wir behaupten aber: er ist wir; und: wir sind er — wenn auch nur im Hinblick auf: den „schlechten Charakter“. Denn anders würden wir über seinen Witz nicht lachen können.

Wir wissen nicht, ob es das gibt: eine Kulturgeschichte des Witzes. In einer gedachten jedenfalls blieben lange Etappen und weite Felder leer, weil eine Kultur in einem bestimmten Stadium ihres Wachstums durchaus keine Witze macht. Den Menschen religiös gefestigter Epochen hält ein Doppel-Bewußtsein im Gleichgewicht: das der Urverderbtheit, der Erbsündigkeit (um christlich zu reden), und das der Urerlösbarkeit des Menschen durch Gottes oder der Götter Gnade, durch eines Heilandes Opfer, durch der Heiligen Fürbitte. Wenn aber dann, bei fortgeschrittener Entwicklung (oder, wenn man das lieber hört, im Stadium der Degeneration), der Glaube an die Erlösbarkeit des Menschen durch außerweltliche Mächte schwindet, dann fehlt dem religiösen Bewußtsein der Verderbtheit der die Lebensfähigkeit garantierende Ausgleich, und aus dieser Not gebiert sich die makabre Tugend des Witzes: als Versuch der Selbsterlösung.

Das Mittelalter hat den Witz nicht gekannt, denn es hat ihn nicht gebraucht, die Renaissance hingegen war witzig, mitunter bis zum Exzeß, denn in ihrer Hiesigkeit, in ihrem Humanismus war sie auf den Witz als das Mittel der Rettung angewiesen. Pascal — er lebte, als die Folgen der Renaissance offenbar geworden — hat diesen Sachverhalt erkannt und in dem zitierten Aphorismus festgehalten: er wertet den Witz als Symptom der religiösen Ungesichertheit, in welcher der ansonsten paralysierte „schlechte Charakter“ (die Erbsündigkeit) isoliert zutage tritt — und isoliert bleibt, weil für den homo religiosus die Kategorie des Witzes eine wesentlich andere, geringere, nämlich eine irdisch-menschliche, eben eine humanistische, ist als die der (gottgewollten) Erbsündigkeit. Pascal behauptet damit natürlich nicht, Witzlosigkeit sei bereits das Kriterium guten Charakters; denn einen solchen kennt er ja nicht, als Christ; er sagt viel mehr: die Tatsache des Witzes offenbart das Freigewordensein der „charakterlichen Schlechtigkeit“, denn der Witz ist der Versuch, diese wieder unter Kontrolle zu bringen, wieder ins Lebens-Ganze einzugliedern, die im Abfall von Gott verlorene Harmonie wiederherzustellen.

Eine Epoche voll des Vertrauens auf Selbsterlösbarkeit war auch die des 1801 zu Wien geborenen und 1862 in Graz verstorbenen Johann Nestroy, die Epoche des Liberalismus:

Eigentlich gibt’s jetzt keine Sterne mehr, sie geben sich wenigstens nicht mehr ab mit uns. Wie die Welt noch im Finstern war, war der Himmel so hell, und seit die Welt im Klaren ist, hat sich der Himmel verfinstert.

Diesem Liberalismus fehlten freilich all jene Züge ins Riesengroße und damit fast schon wieder ins Überirdische, die den Renaissance-Menschen oft über die von ihm selbst gerissenen Abgründe hinweggetragen haben. Der Mensch des Liberalismus hingegen ist in vergleichsweise primitiver Weise auf sich selber angewiesen — „Wir sind jetzt weit mehr auf die Welt reduziert, an etwas Irdisches muß man sich jetzt anklammern“ — und deshalb äußerst gefährdet und schrecklich hilflos: dieser Mensch stürzte sozusagen alltäglich aus unziemlichem Stolz in wahre Höllenangst. Und der pedantisch genaue Schilderer dieses zerrissenen Seelenzustandes ist eben Nestroy geworden; hat es werden können, weil er selber der zutiefst am Zeitleid Erkrankte war. (Genie entsteht immer nur dort, wo die metaphysische Misere einer Epoche sich aufs dickste und dichteste konzentriert, wo sie gewissermaßen persönlich wird — das wollen wir auch bei dieser Gelegenheit wieder all unsren Tanten beiderlei Geschlechts ins Stammbuch schreiben.)

Jenem Literarhistoriker der Jahrhundertwende, der „Nestroys Zynismus einer angeborenen (sic!) Gemeinheit entspringen“ sah, dürfen wir durchaus zustimmen, wenn auch in einem ungleich höhern Verstande; nämlich insofern, als in dem Individuum Nestroy jenes isolierte Bewußtsein der Urverderbtheit, der Erbsündigkeit, der „angeborenen Gemeinheit“, das dem ganzen Zeitalter eigentümlich, in allerextremster Isolierung wirksam geworden ist. Deshalb unterscheidet der Dichter auch nicht zwischen „guten“ und „bösen“ Menschen:

Es gibt sehr wenig böse Menschen, und doch geschieht soviel Unheil in der Welt; der größte Teil dieses Unheils kommt auf die Rechnung der vielen, vielen guten Menschen, die weiter nichts als gute Menschen sind,

— weil, wie wir ergänzen möchten, es den „guten Menschen“ höchstens in relativer, nie aber in absoluter Hinsicht geben kann; weil man gar nicht erst von sich aus und individuell böse sein muß, denn man ist es schon von Natur. Deshalb herrscht in Nestroys Stücken fast nie die Gerechtigkeit irdischer Richter in normalen Zeitläuften, wo der Gute nach Gebühr belohnt und der Böse nach Gebühr bestraft wird; es regiert viel mehr die notgedrungene Willkür des Ausnahmezustands:

Nach Revolutionen kann’s kein ganz richtiges Strafausmaß geben. Dem Gesetz zufolge verdienen so viele Hunderttausende den Tod — natürlich, das geht nicht; also wird halt einer auf lebenslänglich erschossen, der andere auf fünfzehn Jahr’ eing’sperrt, der auf sechs Wochen, noch ein anderer kriegt a Medaille — und im Grund haben s’ alle das nämliche getan.

Ja, alle: der Johann und der Kampl und die Salome und der Nebel und der Zins und der Schlucker und der Weinberl und die Regine und wie sie sonst noch heißen: sie alle haben — nicht an der Oberfläche, aber „im Grunde“ — „das nämliche getan“, nämlich: gelebt; gelebt unterm Joch ihres Schicksals, im Zustand ihrer Urverderbtheit, an dem sich denn auch nichts ändern läßt und nichts ändern wird. Knieriem wird weiterhin im Wirtshaus sitzen, Zwirn wird es, was auch immer es sei, weiterhin „nicht aushalten“, und Leim hat weiterhin „nichts mehr zu hoffen“. Der lächerlich-primitive Schluß des „Lumpazivagabundus“ mit der Kollektiv-Bekehrung der drei liederlichen Gesellen täuscht nicht darüber hinweg. Im Gegenteil: wir begreifen ihn, diesen so billigen wie optimistischen Schluß, heute als einen Kunstgriff des Dichters: als das letzte, das ironisch-kühnste Argument für die These von der unwandelbaren Schlechtigkeit des Menschen. Und weil Nestroy zwar nicht mit diesem Schluß, aber mit dem vorher schon begründeten Glück wenigstens eines, nämlich Leims, gelogen, wider besseres Wissen geschildert zu haben vermeinte, ließ er dem Stück ein zweites folgen — „Die Familien Zwirn, Knieriem und Leim oder Der Weltuntergangstag“ —, in welchem uns Leim als Geldprotz und seine Peppi als boshafte Klatschbase wiederbegegnen.

Nestroys Menschen, die Menschen des 19. Jahrhunderts (und nicht nur diese, sondern auch wir noch), leben im Zustand der nicht mehr paralysierten Urverderbtheit: sie haben die Bindung an Gott, nicht aber auch die an Satan zu lösen vermocht. Hans Weigel verweist sehr glücklich auf den fundamentalen Unterschied zwischen Raimund und Nestroy: in jenem „lebt und wirkt noch das barocke Erbe ... er läßt den Menschen nur nebenbei und widerwillig, fast unabsichtlich, nur als Objekt der hohen Mächte auf die Bühne. Für Nestroy ist der Mensch, nur der Mensch, nichts als der Mensch, Subjekt.“ Gott wirkt nicht mehr herein in das ganz auf sich gestellte Dasein, die Schlechtigkeit ist frei geworden.

Um unsern Gedankengang fortsetzen zu können, müssen wir nun mit einem der fatalsten Mißverständnisse jüngster Literaturgeschichtsschreibung aufräumen; nämlich mit dem, Nestroy sei primär und wesentlich ein Satiriker gewesen. Wir können so viel Satire, wie behauptet wird, in seinem Werk nicht finden, nur Analyse, gestalthafte Analyse, wie jeder Dichter, um einer zu sein, sie treibt. Was man bei ihm für Satire hält, ist leidenschaftsloser Exhibitionismus: er macht sich frei (wie man beim Arzt sagt), und wir vermögen die Krankheit der Epoche zu diagnostizieren; er legt seine eigenen Wunden bloß, und stellt damit die Zeit bloß. Wo er auf die Außenwelt reagiert — etwa gegen die Zensur oder gegen einen kritischen Frechjé —, ist’s mehr oder minder private Notwehr; für einen so genannten Satiriker geht er recht zahm mit ihr um; denn „man muß die Welt nehmen, wie s’ ist, und nicht, wie s’ sein könnt’. Er weiß aus eigener Erfahrung: „Der Mensch verfallt nach einigen Desperationsparoxysmen in eine ruhige Languissance, wo man über alles räsoniert und anderseits wieder alles akzeptabel find’t.“ Und wenn die Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit zur Debatte steht, dann nimmt er, dieser Erzrealist, die Wirklichkeit in Schutz — sogar noch, wenn man die Konjunktive richtig zu lesen versteht, in den folgenden Sätzen:

Ich sollt eigentlich bös sein auf sie, weil sie mich geboren hat. Mein Gott, sie hat’s gut g’meint; daß ’s schlecht ausg’fallen is, das g’hört auf a anders Blatt. Ich hätt sollen gar nicht in d’ Wirklichkeit kommen. Solang ich noch ein Traum meines Vaters, eine Idee meiner Mutter war, da kann ich recht eine scharmante Idee gewesen sein. Aber so viele herrliche Ideen haben das; wenn s’ ins Leben treten, wachsen sie sich miserabel aus.

Gewiß: das Leben ist für Nestroy „ein heikliches Bild, man skizziert sich das Ding recht schön, in der Ausführung verfehlt man’s, da heißt’s dann, das verpfuschte Werk abliefern an die unerbittlichen Mächte, und man bekommt’s nicht mehr zum Ändern zurück“ ; aber nicht aus kindischer Fixierung ans Ideal, sondern aus männlicher Einsicht in die „schreckliche Gewalt der Tatsachen“ (Stifter), die ihm in höchstem Grade eigen war. Dafür fehlte ihm völlig die erste Voraussetzung zur Satire: die Arroganz, oder, unpolemisch ausgedrückt, die Illusion, außen zu stehen, während der Dichter sich immer zuinnerst befindet, im innersten Knotenpunkt von Ja und Nein, von Gut und Böse, von Leben und Tod, und eben da hat Nestroy sich immer befunden. Er ermangelte des sittenrichterlichen Pathos, das den Satiriker zu dem, was er sein will, erst macht — und ihn daran hindert, den Schritt hinüber zu tun: von der Intelligenz zur Weisheit.

„Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab’ mich noch selten getäuscht“: ein derartiges Geständnis — nämlich bezüglich der Befindlichkeit im tiefsten Innern der Dinge und Verhältnisse —; das Geständnis, nie nur der Ermordete, sondern immer zugleich auch der Mörder, nie der nur Bestohlene, sondern immer zugleich auch der Dieb, nie nur der Belogene und Betrogene, sondern immer zugleich auch der Lügner und Betrüger zu sein: das wäre keinem der großen Satiriker von Swift bis Kraus je über die selbstzensurierten Lippen gerutscht! Der Satiriker handelt ausschließlich von dem, was er selber (seiner irrigen Meinung nach) nicht ist; Nestroy aber, wie jeder reine Dichter, befaßt sich immer nur mit sich selbst.

Einmal gesteht er, dies oder jenes nach der Natur gezeichnet zu haben. Ja, ja und ja, und diese Natur war immer er selber und niemand sonst! Den Satz „Ich hätt’ sollen g’scheiter sein“ lauscht man niemandem ab, einen solchen Satz erfindet man auch nicht — erfinden, so paradox das klingt, tut überhaupt nur der Reporter! —, einen solchen Satz also erfindet man auch nicht, um ihn dann einer fiktiven Person in den Mund zu legen; nein! Solch einen Satz spricht nur einer, der tausendmal nicht gescheit genug gewesen ist und der nun, mit ewig fast schon erlahmenden Armen, im chaotisch aufgewühlten Trümmermeer der eigenen abgelebten Existenz zu neuen Ufern rudert, die es gar nicht gibt; nur einer, dem wirklich und wahrhaft nichts mehr geblieben ist in dem offenbar unvermeidlichen Prozeß der Selbstzerstörung, den man gemeinhin „Leben“ nennt, als eben dies zu sagen: „Ich hätt’ sollen g’scheiter sein.“ Alles, aber buchstäblich alles, worüber wir bei Nestroy im Theater oder bei der Lektüre lachen, ist bitter ernst gemeint, tödlich ernst, denn es geht ums Leben, ums eigene Leben; denn da ist der Witz — wie der einzige weise Philosoph des neueren Deutschland [*] sagt — „das Epigramm auf den Tod eines Gefühls“.

Womit wir bereits bei dem zweiten, dem psychologischen Aspekt der Betrachtung angelangt wären, nachdem Pascal uns den philosophischen eröffnet hat. Das ist keineswegs der erfundene Zwirn, der da spricht: „Ich hab’ eine Herzensangst in mir, eine Bangigkeit — mit einem Wort, Bruder, ich halt’s nicht aus“, sondern Herr Nestroy persönlich — der Nestroy, der an nervöser Todesfurcht gelitten und in seinem Testament eine Anordnung getroffen hat gegen den Fall, als Scheintoter begraben zu werden. „Aus mir hätt’ was werden können“, und: „Mit mir ist’s aus, ich hab’ nichts mehr zu hoffen. Ich lauf’ halt so mit, solang’s sein muß“: das hat der Autor nicht irgend einer Figur angedichtet, sondern tausendmal selber gefühlt und gespürt und geseufzt — und dann halt einmal auch niedergeschrieben.

Ich seh’ einem lustigen Kerl gleich, aber das ist alles nur auswendig, inwendig schaut’s famos aus bei mir. Wie ich trink’, glaub’ ich, ein jeder Tropfen ist Gift — wie ich iß, so ißt der Tod mit mir — wenn ich spring’ und tanz’, so ist mir inwendig, als wenn ich mit meiner Leich’ ging’ — wie ich ein’ Kameraden seh’, der nix hat, so geb’ ich ihm gleich alles, obwohl ich selber nix hab’, weil ich in Gedanken alleweil mein Testament mach’.

Das ist zuerst einmal ein ganz naturalistisches Selbstportrait und dann erst Rollentext. Lips sagt: „Die Träume verraten mir’s, daß es auf die Neige geht, ich mein’ die wachen Träume, die jeder Mensch hat. Bestehen diese Träume in Hoffnungen“ — da mischt sich bereits Herr Nestroy ein —, „so is man jung, bestehen sie in Erinnerungen, so ist man alt“. Und jetzt setzt der Autor sich vollends an die Stelle seiner Figur: „Ich hoffe nix mehr und erinnre mich an vieles, ergo alt, uralt, Greis, Tatl“ — nur Herzblut schäumt in solchen Kaskaden; Tinte fließt anders, glatter. Gewiß: der Dichter polemisiert auch, durch seine Figuren hindurch; aber gegen sich selbst:

Ich nehm überhaupt sehr wenig Notiz von mir selbst. Ich find, das is das Kommodeste. Meine Affären betracht ich als Kuckuckseier, die ich in das fremde Nest des Zufalls leg, der soll s’ ausbrüten, wenn er mag! Ich rechne nie! Auf die Art kann’s Schicksal mir auch nie einen Strich durch die Rechnung machen, währenddem man als schlauer Berechner und Planmacher alle Augenblick den Verdruß erlebt, daß ein ’s Schicksal das Tintenfaß über die Kalkulationen schüttet.

So auf der Bühne, während der private Herr Nestroy, da eine ihm sehr nahe stehende Kollegin sich einer Operation unterziehen muß, die genauesten Weisungen gibt für den Fall ihres Todes: „Sarg sehr elegant ... Totenwagen der eleganteste, der in Wien existiert, mit 4 Pferden, Grab ein apartes“, etc. etc. Denn — „ich rechne nie“? — „das Ärgste trifft selten ein, wenn man darauf gefaßt ist, es ist also gut, wenn man gleich auf das Ärgste Bedacht nimmt“, Nestroy weiß, was er schreibt: „Man feindt d’ ganze Welt an, sich selber am meisten“; denn eben dazu hat man den meisten Grund. Nicht eigentlich die Laster der Umwelt, sondern hauptsächlich die eigenen Schwächen werden glossiert, karikiert, attackiert: das Spiel, die Weiber.

Zum Kritiker des Bürgertums ist Nestroy nur deshalb geworden, weil er selber dem Bürgertum zugehörte, und dies eben nicht nur sozial, sondern seelisch: dafür sprechen sein ängstliches Bemühen, der Lebensgemeinschaft mit Marie Weiler nach außen hin den Anstrich der sanktionierten Ehe zu geben; sein erfolgreiches Bestreben, die Kinder in achtbaren Berufen unterzubringen; seine unerschütterliche Loyalität gegen Kaiser und Vaterland — vom geregelten Tagesablauf, von der Pedanterie der beruflichen Pflichterfüllung ganz zu schweigen! (Und erst recht von der Achtung vorm Geld!) Nie außen, immer nur innen werden die Probleme aufgefunden. Wer von der Dummheit sagen kann:

Sie ist ein Fels, der unerschüttert dasteht, wenn auch ein Meer von Vernunft ihm seine Wogen an die Stirne schleudert. Leichtsinn wurde schon oft von dem sanften Hauch der Liebe, öfter noch von dem rauhen Sturmwind der Erkenntnis verscheucht, selbst das Laster ist nicht selten vor dem Licht der besseren Überzeugung geflohen. Nur die Dummheit hat sich hinter ein festes Bollwerk von Eigensinn verschanzt, pflanzt beim Angriff noch die spitzen Palisaden der Bosheit drauf und steht so unbesiegbar da.

— der hat, um derart gültige Urteile überhaupt fällen zu können, vorher schon tausendmal sagen müssen, und zwar sich selber: „Ich hätt’ sollen g’scheiter sein.“ Erkenne dich selbst, und du hast die Welt erkannt! Denn ihr seid eins!

Wir haben gesagt, der Witz sei das Mittel, das dem der Religion entfremdeten Menschen seine Erbsündigkeit (seinen „schlechten Charakter“, die „angeborene Gemeinheit“) erträglich machen soll. Nestroy hat diese Erbsündigkeit in ihrer Urform erlitten: im Leiden am Weibe. Mag in anderen Punkten ein wenig Beobachtung sich der Selbstbeobachtung, ein wenig Kritik sich der Selbstkritik beigemengt haben, ins Selbstportrait dieser oder jener objektive Zug hereingetragen oder eingeflossen sein: wenn Nestroy über Liebe und Ehe spricht, dann spricht er ganz ausschließlich nur von sich: von der als Jüngling, vielleicht unter dem Druck einer Schwangerschaft der Geliebten geschlossenen und bald wegen Verschuldens der Gattin geschiedenen Ehe — „So mancher tummelt sich beim Unterschreiben des Eh’kontraktes und glaubt, jetzt wird er Mitglied des seligsten Vereins, und derweil schreibt man sich in die wechselseitige Lebensverbitterungsanstalt ein“ ; oder: „Im Liebesdrama heißt die erste Abteilung Sehnsucht, die zweite Besitz, und die ungestüme Jugend duldet da keinen Zwischenakt“ —; von der lebenslänglichen Gemeinschaft mit „der Frau“, der Kollegin Marie Weiler — „Lieber andre balbieren als selbst balbiert werden, lieber andern zu ein Weib verhelfen als selber eins nehmen“; oder: „An einer fremden Hochzeit hab’ ich nie was Widerliches gefunden“; und ganz direkt: „Das Bewußtsein: du mußt jetzt allweil verheirat’ sein, schon das bringt einen um“ —; von seinen Ausbruchsversuchen aus dieser De-facto-Ehe (die immerhin gute dreißig Jahre, bis zu seinem Tod, gedauert und gehalten hat) — „Wie mir die g’fallt — wirklich weit besser als die Vorige, die ich g’sehn hab. Kurios, die ich zuletzt seh, die g’fallt mir immer am besten“; oder:

Ja, wenn ich eine finden könnt, die so wie am ersten Tag der Liebe auch als Frau blieb, durch zwanzig Jahr oder gar acht Tag — aber nein! Keine bleibt sich gleich, und wär’s auch der Fall, so blieb ich mir wieder nicht gleich. Oh, nicht eine Stund! Bei der Liebeserklärung schon muß ich auf eine andere kokettieren.

Und, eigentlich immer in der selben Tonart:

Es ist sehr leicht, ein guter Vater zu sein; guter Gatte, das is schon mit viel mehr Schwierigkeiten verbunden. Die eigenen Kinder sind dem Vater gewiß immer die liebsten, und wenn’s wahre Affen sein, so g’fallen ein’m doch die eigenen Affen besser als fremde Engeln. Hingegen hat man als Gatte oft eine engelschöne Frau und momentan g’fallt ein’m a andre besser, die nicht viel hübscher ist als ein Aff’. Das sind die psychologischen Quadrillierungen, die das Unterfutter unsers Charakters bilden.

Von diesen Ausbruchsversuchen ist ein erschütterndes Zeugnis auf uns gekommen: der folgende Brief des Dreiundfünfzigjährigen an die junge Caroline Köfer:

Mein Fräulein!

Nicht nur der Brief an und für sich, mehr noch die, bey möglicherweise gänzlicher Erfolglosigkeit desselben, gewagte Länge dieses Briefes, ist das, was Sie in Staunen setzen wird. Ohne Ihre Geduld durch die landesüblichen Entschuldigungen noch mehr zu ermüden, eile ich sogleich zur Sache.

Da ich keinen Abend ohne Theaterbesuch verlebe, fügte es sich, daß ich Sie sah, daß ich Sie in Stadt- und Vorstadt-Theater wiederholt gesehen. Ich glaube kaum, daß ich das Glück hatte, von Ihnen bemerkt worden zu seyn; man wird ja gewöhnlich übersehen, wenn man, wiewohl vielleicht mit einigen Ansprüchen auf Eroberungen ausgerüstet, sich an der Seite der Gemahlin, und somit als Ehekrüppel präsentiert. Das einemahl waren sogar, die zweyte Loge neben mir, ein Paar Dandys, denen Ihr Operngucker nicht ohne Wohlgefallen sich zuzuwenden schien, der Gegenstand meines stillen Neides.

Dem ungeachtet, mein Fräulein, wage ich es, in diesen Zeilen das auszusprechen, was Sie von vielen andern, und oft werden gehört haben; Ich sage Ihnen nehmlich, daß Sie, liebenswürdig und interessant in hohem Grade, der Gegenstand meiner glühendsten Wünsche sind.

Wie werden Sie diese Worte aufnehmen? Vielleicht werden Sie mich als zudringlichen Unbekannten auslachen. Vielleicht sogar, wenn Sie, was beynahe nicht anders denkbar ist, einen Geliebten haben, in Compagnie mich auslachen, dieser Gefahr stelle ich mich bloß, aber ich kann es thuen, erstens, weil Sie in diesem Falle nur über einen Unbekannten lachen, und zweytens, weil mir dann immer noch der Trost bleibt, Sie hätten mich vielleicht nicht ausgelacht, wenn Sie sich die Mühe genommen hätten, den Unbekannten kennen zu lernen. Ich kenne Ihre Lebensverhältnisse nicht, und habe meinem Bedienten, welcher beym Nachhausegehen Ihren Schritten folgen mußte, und welcher von einem auf der Treppe stehenden Individuum, wenn auch in etwas unfreundlichem Tone, Ihren Namen erfuhr, jede weitere Neugier, welche Ihnen, wenn Sie Kunde davon erhalten hätten, verletzend hätte erscheinen können, aufs Strengste untersagt. Meine Ansicht ist die: Junge schöne Damen, mögen in was immer für Lebensverhältnissen seyn, ein im Stillen begünstigter, beglückter und dafür dankbarer, discreter Freund ist nie unbedingt zu verwerffen, und selbst, wenn Sie Braut seyn sollten, dürfte Ihnen nach den Flitterwochen ein derart geheimer Freund nicht ohne Nutzen seyn. Wenn Sie in diese meine Ansicht eingehen, mein Fräulein, und darauf kömmt alles an, dann hoffe ich, daß Sie das, was ich Ihnen alsbald proponieren werde, nicht zurückweisen dürften. Ich habe nur noch vorauszuschicken, daß ich mehrere Tage unschlüssig war, über die Art und Weise, wie ich mich Ihnen nähern sollte. Ich wählte endlich dennoch den, durch die Ungewißheit, ob der Brief in Ihre Hände kommen wird, oder nicht, etwas gefährlichen brieflichen Weg, und verwarf den ersten Plan, nach welchem ich eine Gelegenheit, Sie auf der Straße anzusprechen, abwarten wollte, einen Plan, welcher Sie wahrscheinlich verletzt, und mich von dem ersehnten Ziele nur entfernt haben würde.

Sie werden mir die Umständlichkeit meiner Proposition vielleicht als Unbeholfenheit auslegen, sie hat aber ihren Grund einzig nur darin, daß ich es nicht über mich gewinnen kann, mich einer jungen Dame, in die ich mehr als gewöhnlichen Wert setze, auf die zwar gangbarste, aber etwas ordinäre Weise zu nähern. Der Vorschlag, den ich Ihnen nun mache, ist folgender:

Ich wähle eine unverdächtige Stunde: halb Zwey Uhr Mittags, ich wähle einen unverdächtigen Ort, die Prater-Hauptallee. Ich werde früher schon mich unten befinden, und morgen Donnerstag Punkt halb Zwey Uhr langsam vom unteren Ende der Haupt-Alle, vom Rondeau nehmlich, nach dem oberen Ende derselben, nach dem Prater-Stern zufahren. Wenn Sie, mein Fräulein, zur selben Zeit halb Zwey Uhr vom Praterstern nach dem Rondeau hinunterfahren, so werden unsere Wagen sich begegnen. Belieben Sie, damit ich Ihren Wagen in einiger Entfernung schon erkenne, da man in Wien links fährt, am geöffneten Wagenfenster rechts, das Schnupftuch zu halten; dieses Schnupftuch wird mir zugleich das mich hochbeglückende Zeichen seyn, daß Sie, im Falle Sie mich Ihrer Gunst würdig finden, in meine oben ausgesprochene Ansicht über geheime Liaisons eingehen. Ich selbst werde, da zu dieser Zeit mehrere Wagen den Corso machen, durch einen lichtgrauen, hochrot ausgeschlagenen Reise-Manteau Ihnen erkennbar seyn. Ohne Ihnen weiter zu folgen, sehe ich Ihr Erscheinen als die Erlaubnis an, den Zweyten Schritt zu thuen. Dieser wird darin bestehen, daß Sie gleich den folgenden Tag (Freytag) einen zweyten Brief von mir bekommen. In demselben werde ich Ihnen einen Vorschlag machen über die Art und Weise, wie ich das Glück haben kann, Sie zu sprechen. Als den Tag hiezu würde ich Ihnen den nächsten Sonntag vorschlagen.

Meine Wünsche wissen Sie nun, die Erfüllung liegt in Ihrer Hand, und wenn es nur zu der, aus dem zweyten Brief entspringenden Unterredung kommt, dann hoffe ich gewiß, mich als Ihrer Gunst würdig zu erweisen, so daß ich dem ersehnten Ziele mit einiger Zuversicht entgegensehe.

Ihr Sie hochschätzender

eifriger Verehrer


L. B. v. R.

Bedarf es weiterer Belege für die Zuständigkeit Nietzsches? Was denn sonst spricht aus diesem Dokument als ein erwürgtes, ersticktes, ermordetes, zu Tode gequältes Gefühl, von dem nichts übrig geblieben ist als der Mechanismus? „Alt, uralt, Greis, Tatl“, und endlich: Mumie. Wir finden bei Nestroy kaum eine Liebesgeschichte, bei der es nicht ums liebe Geld geht; aber hat er, der Herr Johann Nestroy, nicht auch seine privaten Liebesgeschichten und Heiratssachen mit buchhalterischer Nüchternheit durchgerechnet und geordnet? Im Juli 1856 will er sich von der (mit Recht) eifersüchtigen Marie Weiler trennen; das sieht, in einem Brief an den treuen Freund Stainhauser, so aus:

... Ein fauler Friede, schlechter als gar keiner, und meines Erachtens giebt es nur einen Friedensschluß, der von Dauer seyn kann, der müßte aber auf folgenden Bedingungen basiert seyn.

  1. Vollkommene Freygebung meiner Person.
  2. Compagnieschaft im Geschäft zu Ein Drittheil reinen Gewinnantheil für Weiler, Zwey Drittheile für mich (mit unbedingter Disposition).
  3. Eine leicht und ohne Aufsehen thunliche Separierung der Wohnung in der Wohnung.

Wie und ob sich die Sache später ins Freundlichere gestalten könne, das muß der Zeit und dem Zufall in ruhiger Abwartung anheim gegeben werden ...

Jeder andere Friede ist faul, und somit meine Hoffnung auf Ausgleichung so gering wie die Deinige.

Beiliegenden Brief an Köfer ...

Aber zwei Wochen später trennt er sich von dieser, statt von der Lebensgefährtin, und schreibt diesbezüglich an die Herren Treumann und Stainhauser:

Die beiden Herrn werden von dem Unterzeichneten freundlichst ersucht, in folge der gehabten Rücksprache, sich zu Fräulein Köfer zu begeben, und ihr nachstehende Mittheilung zu machen.

Aus Gründen, welche ich in meinen beyden letzten Briefen an Hr. v. Stainhauser theils angedeutet, theils erörtert habe, ist die zwischen mir und Fräulein Caroline Köfer bestandene nähere Beziehung unwiederruflich aufgelöst, und Fräulein C. Köfer kann sich als vollkommen frey betrachten. Da es jedoch mein Wille nicht ist, sie in augenblicklicher Verlegenheit zu sehen, so erhält Fräulein Caroline Köfer

1tens Fünfhundert Gulden Cv.Mze. ausbezahlt, hat dagegen jedoch Herrn F. Treumann meine Briefe und Portrait zurückzustellen.

2tens Erhält Frl. Caroline Köfer heute am letzten July denselben Betrag, wie in früheren Monaten, nehmlich Achzig Drey Gulden 20 x Cv.Mze. Für künftighin hat dieser Monatgehaltbezug selbstverständlich aufzuhören.

3tens Erhält Frln. Caroline Köfer den ersten halben Jahreszins für die am Laurenzer-Berg aufgenommene Wohnung, pr. Hundert Fünfzig Gulden Co.Mze. Fräulein Caroline Köfer mag deßhalb diese Wohnung kündigen oder beybehalten, ganz nach eigenen Ermessen, da die Zahlung meinerseits selbstverständlich aufhört —

Ferners erhält Fräulein Caroline Köfer am Schluße dieses Jahres, nehmlich am 31ten Dezember 1856, noch Dreyhundert Gulden, dieses jedoch nur unter den ihr von Herrn F. Treumann mündlich kundzugebenden Bedingungen, werden diese Bedingungen in irgend einer Weise verletzt, so würde auch die Zahlung benannter Dreyhundert Gulden hinwegfallen.

... Somit ist weiter nichts mehr zu erwähnen.

Die Abrechnung — man kann den permanenten Zwist nicht anders nennen —, die Abrechnung mit „der Frau“ geht indessen weiter: „Das größte Unrecht ihrerseits ist, daß sie mich als Verschwender ausschreyen will“ — so, zum Beispiel, klagt er im Juni 1858 über sie; über die selbe Person, der er noch nach bald zwanzigjähriger Gemeinschaft entgegenfliegt wie sonst nur ein Mann seiner Frau in den Flitterwochen (Brieffragment vom 24.8.44): „...Nun, mein geliebtes Weib, habe ich Dir nicht mehr zu schreiben, als daß ich mit unaussprechlicher Sehnsucht die Stunden zähle, bis ich wieder zu Dir komme, Dich in meine Arme schließen werde“ (und auf der folgenden halben Seite schreibt er pedantisch genau, welche Züge und Wagen er nimmt, um keine Zeit zu verlieren). Es ist das Jahr, in dem er jenen merk- und denkwürdigen Dialog zwischen dem Werber Lips und der umworbenen Madame Schleier auf die Bühne gebracht hat:

LIPS: Spielen Sie mir jetzt die Komödie vor ...
MAD. SCHLEIER: Komödie würden Sie das nennen wenn —?
LIPS: Aha, Sie gehn schon drauf ein...

Was — so sind wir versucht zu fragen —, was davon ist nun wahr: dieser Dialog, oder jener Brief? Nestroy selber antwortet darauf (wie auf alles): „Und ’s is alles nit wahr, es is alles nit wahr“, was aber nichts anderes heißen kann als: daß alles auch wahr sei, dieses wie jenes. Als erotisches Wesen ist Nestroy der Buchner (in „Liebesgeschichten und Heiratssachen“), der, von seiner Fanny sich betrogen wähnend, im Garten auf das Stubenmädchen stößt, welches ihn fragt, ob er dem Fräulein eine Post aufzugeben habe.

Sagen Sie ihr, ich bin auf ewig verloren für sie und hab’ mir diese düstre Partie des Gartens, weil sie mit meiner Gemütsstimmung harmoniert, zum einstweiligen Aufenthalt erwählt. Hier in der Gegend dieses schauerlichen Salettels halt’ ich mich auf, um sie nimmer wieder zu sehen; sagen Sie ihr das!

Worauf Philippine, „ihn halb spöttisch, halb mitleidig fixierend“, für sich (und die Begriffsstützigen unter uns) bemerkt: „O ihr auf ewig verlorenen Männer, ihr maskiert’s das viel zu schlecht, wie sehr euch darum zu tun is, daß man euch wiederfind’t.“ Ohne die Frau (konkret: die Frau Weiler) kann der Mann (konkret: der Herr Nestroy) nicht leben, und mit ihr kann er’s auch nicht: es ist das Dilemma, das der einzige weise Dramatiker des neueren England [**] auf die knappe Formel gebracht hat: „Die Frauen regen uns an zu großen Taten, und hindern uns daran, sie auszuführen.“ Im Bewußtsein, im grausam erlebten, dieser Unauflösbarkeit teilt Nestroy die Mann-Frau-Beziehung brutal in zwei kategorial verschiedene Möglichkeiten: in Liebe und Ehe, die einander absolut ausschließen:

Die Schöpfung hat sich einmal im Dramatischen versucht und hat eine Komödie verfaßt: ‚Die Liebe‘, und das Stück is halt gut ausg’fallen, allgemeiner Beifall und Andrang — da hat die sukzeßverblendete Schöpfung einen zweiten Teil drauf g’macht: ‚Die Ehe‘, und wie’s schon so geht bei die zweiten Teil, es is halt nicht mehr das Interesse.

Unverblümter dann: „Glücklich nennt man die Liebe, die das erzielt, was oft das größte Unglück is, eine Heirat.“ Und kraß, geradezu zynisch: „Morgen schon muß geheiratet werden, denn Liebe leide ich nicht in meinem Haus, keine Spur von Liebe!“ Über die Ehe selbst ist, so weit unsre Belesenheit reicht, nirgend wo auch nur annähernd so viel Herbes gesagt wie im Werk des ach! so witzigen Nestroy: da wird das Heiratsgut als „Schmerzensgeld“ bezeichnet; einer sagt, mit einer Frau sterben sei „keine Kunst, das is in ein’m Augenblick vorbei, aber ich hab’ Jahr’ lang mit ihr leben wollen, das is ein anderes Numero“; ein Witwer konstatiert, sein Kopf sei seit dem Tod seiner Frau „an nix mehr gewöhnt als an Ruhe“, und eine Witwe hängt an ihrem Haus, weil sie in diesem ihren Mann „los worden“ ist, als an einem „Tempel unschätzbarer Erinnerung“. Für Nestroy ist die Ehe „auf jeden Fall ein Trauerspiel, weil der Held oder die Heldin sterben muß, sonst wird’s nicht aus“, während er die Liebe den „allgemeinen guten Bissen für die Menschheit“ nennt.

In dieser Trennung des erotischen Komplexes in Liebe und Ehe begegnen wir nun ganz konkret jener Zerrissenheit, von der wir eingangs gesprochen haben; hier fassen wir festen Fuß auf dem „Abgrund der Widersprüche“, den der Dichter — nach einem Wort aus dem Nachlaß — desto mehr findet, je tiefer er in seinen Ideen das Senkblei auswirft; auf dem „Abgrund der Widersprüche“, deren Totalität erst den ganzen Menschen bildet: den Menschen, wie er tatsächlich ist, nicht wie er etwa gedacht werden könnte (zum Beispiel „gut“ oder böse“). Auf diesem „Abgrund der Widersprüche“ aber stoßen wir endlich auch auf das eigentlich konstituierende Element der Nestroyschen Kunst (wie überhaupt jeder Kunst): auf die Erinnerung an die Zeit vor dem Sündenfall, ja endlich auf die zweite Unschuld, von welcher Kleist im „Marionettentheater“ handelt. Auf diesem „Abgrund der Widersprüche“ hat Nestroy sein Welt- und Bühnenbild errichtet, um uns — in höherem Auftrag — zu zeigen, wo allein wir wieder dem Heil uns zu nähern vermögen: dort, wo wir uns selbst überrunden, wo wir uns „selbst an G’scheitheit übertreffen“.

Nestroy hat sich selbst überrundet: in „Der alte Mann mit der jungen Frau“, in „Kampl“. Da findet er dann sogar auch über den Witz hinaus, der eben doch nicht viel weiter hilft, als „mit einem blauen Auge davonzukommen“, wer weiß auf wie lang? wie kurz? Wir haben früher behauptet, Genie entstehe dort, wo das kollektive Übel sich in einem Individuum konzentriert; und wir ergänzen jetzt diese Behauptung mit der zweiten, daß dieses kollektive Übel individuell durchlitten werden müsse, bis zum Aufprall auf dem untersten „Abgrund der Widersprüche“, und mit dem hellsten Bewußtsein: als sähe man sich als dritte Person (grammatikalisch gesprochen): „Zur ernsten Besserung wie zum totalen Bösewicht zu schwach, wandelt er den breiten Weg zwischen Reue und Verstocktheit.“

Immerhin: er wandelt; er bleibt nicht stehen, kehrt nicht um, wie die meisten von uns auf der endlos scheinenden Strecke zwischen dem Paradies und dem Paradies, irgend wo unter der sengenden Sonne des Bewußtseins, die allein aber uns zur vollen Reife bringt. Die meisten von uns sind metaphysisch feig, und diesen hat Nestroy die metaphysische Tapferkeit vorgelebt — was nur hier, nicht bei ihm, pathetisch klingt. Tausendmal hat er sich sagen müssen: „Ich hätt’ sollen g’scheiter sein“ — wie jeder von uns; und tausendmal hat er sich denn auch gesagt: „Ich hätt’ sollen g’scheiter sein“ — wie keiner von uns. Er hat sein Dasein in aller Tatsächlichkeit akzeptiert: die Dummheit, und das hat ihn weise gemacht; den „schlechten Charakter“, und das hat ihn gut gemacht. Und deshalb feiern wir ihn, der vier Wochen vor seinem Tod mit den Worten „Alles umsonst!“ von der Bühne abgetreten ist, heute nicht bloß als einen Dichter und Denker von Weltrang, sondern viel mehr als einen Sieger.

[*Nietzsche (falls jemand an Hegel gedacht haben sollte).

[**Wilde (falls jemand an Shaw gedacht haben sollte).

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