Streifzüge, Heft 3/2003
Oktober
2003

Wolpertinger im Jurassic Park

Die unaufhaltsame Regression der deutschen linksradikalen Szene

Die gesellschaftliche Krise, die es angeblich gar nicht gibt, ist nun auch bis in die kleine ideologische Welt des deutschen Linksradikalismus und seiner diversen verfeindeten Szenen vorgedrungen. Einschneidende antisoziale Gegenreformen, Agenda 2010, Massendemonstrationen dagegen in Berlin und anderswo versetzen die Restlinke in Gärungen und Wallungen. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang ist nun auch die antideutsche ideologische Blase geplatzt. Mit überraschender Geschwindigkeit zerlegt sich die einschlägige Szene seit dem Spätsommer 2003. Die intellektuellen Blamagen der Hardcore-Antideutschen um Bahamas und ISF Freiburg waren offenbar nicht mehr länger auszusitzen. Aber das Resultat dieser Auflösungsprozesse ist ein für den Anspruch kritischer Theorie erst recht desaströses. Es ist, als hätte man beschlossen, die Debatten der 90er Jahre unaufgearbeitet liegen zu lassen, um einer kollektiven Amnesie zu verfallen. Die gesamte Szene scheint ihre Unfähigkeit zur theoretischen Auseinandersetzung geradezu zelebrieren zu wollen.

Die Wertkritik ist an allem schuld

Es gibt zarte Hinweise, in welche Richtung die linksradikale Szene sich vor ihren unaufgearbeiteten Widersprüchen davonstehlen möchte. So will ein Volker Radke, der in intellektuell anspruchslosen Internet-Texten bislang zur Orchestrierung der antideutschen Ideologie beigetragen hat, sich von deren vermeintlichen Essentials ausgerechnet dadurch verabschieden, dass er die Kritik von Wertabstraktion und Ware-Geld-Beziehung als angeblich willkürliches Herausgreifen von „Stücken aus Marxens Lebenswerk“ denunziert und die beruhigende Gewissheit verbreitet, dass Wertkritik „keine Erklärung für alles“ sein könne, was bei x-berg als Hauptkritikpunkt an Bahamas/ISF referiert wird („das Beharren auf marxistischer Wertkritik als alleinigem Erklärungsmuster“). Die ohnehin nie gründlich verarbeitete Erkenntnis, dass der Arbeiterbewegungsmarxismus genau die wertkritische Dimension der Marxschen Theorie ausgeblendet hatte, soll wieder entsorgt oder jedenfalls entschärft und mit dem alten Arbeits-, Mehrwert- und Klassenkampf-Paradigma rekompatibel gemacht werden. Radke beweist damit nur, dass er von der Sache keine Ahnung hat, mit der er sich auch gar nicht auseinander setzen will.

Damit dürfte er allerdings einem Großteil der Szene aus der Seele sprechen, die sich in den vergangenen beiden Jahren sowieso nur entlang von oberflächlichen Adaptionen der antideutschen Ideologie herausgebildet hatte, während der Bezug auf den wertkritischen Anspruch gar keine Rolle spielte. Umso leichter fällt es jetzt, auf billigste Weise ausgerechnet die Wertkritik für das antideutsche Desaster verantwortlich zu machen. Das tut nicht weh, weil man sich darauf sowieso nie ernsthaft eingelassen hatte. Im Gegenteil, es wirkt entlastend, wenn man durch das begründungslose Anschwärzen des Labels „Wertkritik“ Bahamas/ISF und Krisis bequemerweise in einen Topf stecken, sich damit jedes theoretische Argument sparen und trotzdem den Anschein erwecken kann, dass die Absetzbewegung von den eigenen ehemaligen Vordenkern irgendeiner kritischen Reflexion entspränge, die noch dazu „über“ dem harten theoretischen Gegensatz von Krisis und Bahamotismus stehe.

Dieses argumentations- und vermittlungslose Räsonnement geht völlig an der Sache vorbei. Konsequente Wertkritik bedeutet keineswegs, „alles“ aus dem Wert erklären zu wollen. Vielmehr ist das Wertverhältnis vermittelt mit einem geschlechtlich konnotierten „Abspaltungsverhältnis“ (Roswitha Scholz), und die Individuen gehen in beidem nicht auf; sonst wäre gar keine Kritik möglich. Wenn die Szene, die weder den Begriff des Wert- noch den des Abspaltungsverhältnisses reflektiert hat, weil sie sich von ISF/Bahamas abrichten ließ, nun zusammen mit ihren falschen Vordenkern auch gleich den nicht so locker einzulösenden Anspruch der Wertkritik vom Hals haben will, kann sie sich nur noch in den Traditionsmarxismus zurückflüchten.

Es entbehrt nicht der Pikanterie, dass der Teil der traditionsmarxistisch verbockten Szene, der sich nie auf den antideutschen Trip verirrt hatte, nun dieselben regressiven Denkmuster bemüht wie die ernüchterte softcore-antideutsche Szene. Ausgerechnet Werner Pirker, der Lieblings-Antizionist der Antideutschen, schlägt in deren Lieblings-Hassblatt Junge Welt hinsichtlich der Wertkritik in exakt dieselbe Kerbe wie der Möschtegern-Antideutschen-Retter Volker Radke. Nachdem die Krisis-Voraussage eingetroffen ist, dass die Antideutschen als ideologische Trendscouts der kapitalistischen Krisenverwaltung fungieren und nun in der Zeit ebenso wie im Merkur die antideutschen Denunziationsmuster entdeckt werden, um jegliche Kapitalismuskritik als „Antisemitismus“ zu identifizieren, gelangt Pirker aus entgegengesetzten Motiven genau wie Radke zu der eilfertigen Schlussfolgerung, dass ausgerechnet die Wertkritik an allem schuld sei: „Zwar ist es in der Tat so, dass das Kapital ein objektives Verhältnis ist, das nach Marx in den Kapitalisten seine ‚Fanatiker‘ findet. Doch ist dem Kapitalverhältnis der soziale Antagonismus immanent. Und dieser Antagonismus hat seine Träger — Besitzende und Nichtbesitzende, Ausbeuter und Ausgebeutete. Nicht Juden und Nichtjuden. Es waren vorgeblich ‚radikale Linke‘, die dem Mainstream-Diskurs den Anstoß gegeben haben. Leute, deren Kapitalismuskritik sich im ewigen Gelaber über die ‚Warenförmigkeit der kapitalistischen Produktion‘ erschöpft und die konkreten Klassenverhältnisse längst nicht mehr zur Kenntnis nimmt“ (Werner Pirker, ATTAC in „Zeit“lupe, in: Junge Welt, 25.10.2003).

Es ist wirklich ein Witz: Gerade Pirker, der durch seinen kruden Antizionismus und völkischen Antiimperialismus den Antideutschen eine Steilvorlage nach der anderen geliefert und sein Scherflein zur Querfront-Strategie der Neonazis beigetragen hatte, bildet sich nun ein, mit ein paar billigen „klassenkämpferischen“ Bemerkungen aus dem Schneider zu sein. Es ist genau wie bei Radke: Man hat keine Lust, die eigenen Widersprüche aufzuarbeiten. Da wird gemauert nach dem Motto: Bloß nichts zugeben! Stattdessen macht man sich eilfertig gegen die ebenso ungeliebte wie unverstandene Wertkritik mausig, um zahnlos obsolete alte Gewissheiten wiederzukäuen und die auf der historischen Tagesordnung stehende kategoriale Kritik der „auf dem Wert beruhenden Produktionsweise“ (Marx) als „Gelaber über Warenförmigkeit“ meint abschütteln zu können.

Die Rückkehr der Dinos

Das szene-übergreifende Phänomen ist eindeutig: Wir haben es mit der allgemeinen linksradikalen Tendenz einer Regression zum unaufgearbeiteten positivistischen Arbeiterbewegungs- und Vulgärmarxismus zu tun. Da glaubt man zu wissen, was man hat, auch wenn die daraus folgende Interpretation der Welt lächerlich kontrafaktisch ist. Es ist ein Arbeiterbewegungsmarxismus ohne Arbeiterbewegung, und da wird mit Sicherheit auch keine mehr kommen. Fast eineinhalb Dezennien nach dem Epochenbruch trampeln die intellektuellen Dinosaurier wieder durch die Gegend, als wäre nichts gewesen. Dieselben Leute, die 14 Jahre lang nicht fähig waren, auch nur eine einzige Zeile an kritischer Reflexion zum unwiderruflichen Ende der traditionellen Arbeiterbewegung und zum Zusammenbruch von Staatssozialismus und nationalen Befreiungsbewegungen zustande zu bringen, möchten plötzlich wieder Morgenluft wittern, obwohl dafür nicht der geringste Anlass besteht und es nur die Luft der eigenen Gruft ist, die man wittert.

Die hartgesottensten Ignoranten des nostalgischen Dino-Revivals sind allen Ernstes dabei, sogar der Mumie des Leninismus taufrisches Leben zu bescheinigen. Dazu gehört auch die unbegründete Verachtung für die Themen der neuen sozialen Bewegungen seit den 80er Jahren. Die gesamte Reflexionsebene von Geschlechterverhältnis und Zerstörung der Lebensgrundlagen durch abstrakte Arbeit soll wieder durchgestrichen bzw. auf AugustBebel-Niveau heruntergefahren werden.
Zurück zur theoretischen Dino-Version der Kapitalismuskritik: Das heißt auch anachronistischer Proletkult und Hurra-Produktivismus samt vollbärtiger positivistischer „Wissenschaftlichkeit“, Lederjacken-Machos und patriarchalem Gewerkschaftsmief wie einst im Mai der männerbündischen Sozialdemokratie; vermutlich inklusive Clara-Zetkin-Mutterschaftsideologie in der fürs Gemütliche zuständigen Frauenorganisation.

Wer nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist, muss intellektuell ins 19. Jahrhundert zurückfallen und die Lenin-Kautsky-Kontroverse für Zukunftsmusik halten. Das war doch noch was: richtige Zeiten für „richtige Männer“ mit Schirmmützen und „richtige Frauen“ mit Gretlfrisuren, „richtige Fabriken“ mit echten Dampfmaschinen und „richtige Proleten“ mit schwieligen Fäusten, und natürlich die „richtigen Klassenkämpfer“ mit Parteiabzeichen am Revers des guten Sonntagsanzugs nicht zu vergessen. Die Schlote dieser glorreichen Zeiten sollen wieder rauchen. In der zyklischen Zeit von ewigen Arbeiter- und Bauernrevolutionen warten die Helden von Klassenkampf, rotem Oktober und „sozialistischer Nation“ auf ihre mythische Wiederkehr; oder gibt es da eine kleine Verwechslung mit der Kaisersage von Friedrich Barbarossa und seiner Gespensterarmee?

Es ist eine „proletarische“ begriffliche Hemdsärmeligkeit ohne Fleisch und Blut, aus der die Knochenhand winkt. Und dieser theoretische Fossilismus geht gut zusammen mit der Ostalgie in den Provinzen des ehemaligen Stechschritt-Sozialismus, wo die ewig Gestrigen immer noch soziale Emanzipation mit preußischen Tugenden plus Elektrifizierung des seelischen Haushalts verwechseln. Die theoretische Mumie des Leninismus wird aber auch von desorientierten Wessi-Linken nicht in Ruhe gelassen, die derart verwirrt sind, dass sie im Alten Testament des Arbeiterbewegungsmarxismus nach Offenbarungen suchen. Autonome und Antifa-Gruppen, die nicht zur Fernbomber-Schule der kritischen Killer-Adorniten übergelaufen sind, so ist zu hören, halten nun Bibelstunde mit Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Damit sind sie von der linksradikalen Kinderkrankheit unmittelbar in das höchste Stadium der dogmatischen Senilität eingetreten. Genausogut könnten sie heute die Schriften von Walter Rathenau studieren oder das „grüne Buch“ von Ghaddafi schulen. Von der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts wären sie dadurch nicht weiter entfernt.

Was da herumspukt, sind keine Originale, sondern Zwergdinos als Überbleibsel einer glorreichen Vergangenheit, die dem Gegenstand ihrer Ikonographie nicht das Wasser reichen können. Denn Lenin und die tatsächlichen Koryphäen der Vergangenheit waren zu ihrer Zeit alles andere als Nachplapperer verflossener Bewegungs- und Revolutionsherrlichkeiten, sondern Umstürzler der Theorie. Und heute ist der wertkritische Umsturz angesagt, nicht die theoretische Nostalgie.

Glauben die diversen Wiedergänger des Arbeiterbewegungsmarxismus wirklich, sie könnten einer sozialen Agglomeration von Dauerarbeitslosen, alleinerziehenden Sozialhilfeempfängerinnen, Ich-AGs, Scheinselbständigen, Elendsunternehmern, Leiharbeitern, Arbeiteraristokraten in der Rüstungsindustrie, Sozialbürokraten der Krisenverwaltung usw. noch einmal ein „zugerechnetes proletarisches Klassenbewusstsein“ verpassen? Glauben sie wirklich, sie könnten den sozialen Widerstand noch einmal unter dem Label des „Klassenkampfs“ abrufen? Glauben sie wirklich, sie könnten einen betriebswirtschaftlich globalisierten Kapitalismus noch einmal in die Begrifflichkeit nationaler Imperialismen einbannen? Glauben sie wirklich, sie könnten in einer Welt von struktureller Überakkumulation, Schuldenkrisen und globalisiertem fiktiven Kapital noch einmal den „vorenthaltenen Mehrwert“ für die „alle Werte schaffende Klasse“ einklagen, was als Option sowieso immer schon eher Lassalle als Marx war? Glauben sie wirklich, sie könnten nach dem Zusammenbruch der „nachholenden Modernisierung“ noch einmal als sozialistisches Ziel eine „geplante Warenproduktion“ qua „Arbeiterstaat“ formulieren? Wenn die zur wertkritischen Erneuerung von Kapitalismuskritik unfähige Restlinke begriffslos „Klassenkampf“ kräht, trägt sie nichts zur Weiterentwicklung der Ansätze sozialer Bewegung bei.

Die laufende Regression der in Wahrheit längst nicht mehr radikalen Linken kann nicht einmal mehr nach der oft bemühten Marxschen Sentenz als Farce nach der Tragödie bezeichnet werden. Denn die Farce hatten wir ja schon. Als die Neue Linke anlässlich der Septemberstreiks in der Automobilindustrie 1969 die „Wiederentdeckung der Arbeiterklasse“ feierte, war das bereits ein grobes historisches Missverständnis. Heute gibt es keinerlei reale gesellschaftliche Erscheinung, die zu einem Revival arbeiterbewegungsmarxistischer Statements einladen würde. Es handelt sich um das rein ideologische Bedürfnis einer in der Vergangenheit stecken gebliebenen Restlinken, um nichts als das Zersetzungsprodukt eines sich auflösenden historischen Ideengebäudes.

Im engen Kreis des eigentlichen ideologischen Linksradikalismus lässt sich die regressive Konjunktur teilweise auch als Reflex auf das Desaster der Antideutschen erklären. In einer größeren gesellschaftlichen Dimension lösen sich durch die völlige ideologische Aushöhlung der Sozialdemokratie und die Krise der Gewerkschaften deren linke Ränder ab, während Bewegungs-Organisationen wie Attac ihrem verkürzten Antikapitalismus mit vulgärmarxistischen Bruchstücken Nahrung geben. Wolkig gruppiert sich ein diffuses ideologisches Feld aus keynesianischer Nostalgie, Lafontaine-Sozialdemokratie, Traditionsmarxismus und organisatorischer Frustration im Gefolge von Hartz und Agenda 2010. Auf die neue Situation soll mit alten Rezepten im Rahmen von Wertform und Arbeitsontologie geantwortet werden. Aber das Einsammeln von traurigen Resten ergibt keine Zukunftsperspektive. Auch die Summe von Endmoränen macht kein neues Gebirge.

Die arbeiterbewegungsmarxistische Nostalgie ist wie die antideutsche Ideologie innerhalb der Linken eine affırmative Reaktion des Wertsubjekts auf seine historische Krise. Dass es zwischen diesen beiden ideologischen Erscheinungen schon länger eine gewisse untergründige Konvergenz gibt, zeigte etwa der Münchner SPOG-Kongress im Frühjahr 2003 oder das Programm der Roten Ruhr Uni. Je heftiger die soziale Krise das eigene Leben praktisch erfasst, desto wütender muss die innere historische Schranke des warenproduzierenden Systems und seiner Sozialkategorien geleugnet werden. Sogar eine Propagandasekte wie die ehemalige MG (Gegenstandpunkt), der Struktur nach übrigens der bahamotischen antideutschen Sekte nicht unähnlich, die den positivistischen arbeitsontologischen Marxismus bis auf das Skelett einer klassensoziologisch verkürzten Kritik der politischen Ökonomie reduziert hat, erhält anscheinend wieder Zulauf.

Um keinen Deut besser ist der Versuch einer postmodernen Aufpeppung desselben unüberwundenen Arbeiterbewegungsmarxismus, wie sie mit dem hohlen Scheinbegriff der „Multitude“ von Hardt/Negri kreiert wurde. Es sind dieselben theoretisch reaktionären Sehnsüchte, die regressiven Stimmungen und Bedürfnisse einer heimatlos gewordenen Restlinken, die sich in der postmodernen Version eher verklausuliert äußern und dadurch höchstens unfreiwillig komisch werden; etwa wenn die Berliner Gruppe Kritik und Praxis (KP) „den Einstieg in den Klassenkampf“ folgendermaßen propagiert: „Klassenkampf ohne eine Klasse, die ihren Antikapitalismus machtvoll vertritt — geht das? ... Wie lässt sich ein Verständnis von Klassenkampf denken, das nicht auf die historische Mission der Arbeiterklasse setzt, sondern allgemeine linke Politik-Optionen (!) formuliert?“ (Veranstaltungsaufruf, Oktober 2003, dokumentiert bei x-berg). Gottesdienst ohne Gott, Schweinebraten ohne Schwein, Denken ohne Gedanken — geht das? Eine veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit lässt sich nicht mit Bauernschläue umdefinieren. Die postmoderne Begriffsverschiebung ist nur lächerlich.

Aufbruch zur demokratischen Seichtigkeit des Scheins

Ob so oder so: Die meisten linken Regressionskünstler haben ihr Herz für „Class war“, „Proletariat“, „Multitude“, „soziale Frage“ usw. nicht deshalb entdeckt, weil da reale soziale Bewegungen und theoretische Reflexion zusammenkommen würden. Vor allem den antideutschen Bankrotteuren liegt sowieso nicht ernsthaft etwas an sozialem Widerstand, den sie bis gestern rundweg denunziert haben und teilweise sogar im Prozess der Regression immer noch weiter denunzieren. Ganz ähnlich wie die postmodernen Verdrängungskünstler sind sie mit ideologischer Rückendeckung durch ihre bisherigen Vordenker eigentlich prototypische Ich-AGs. Vielmehr ist ihnen bloß der Boden ihrer unaufgearbeiteten Ideologie unter den Füßen zu heiß geworden, weil sie sich zunehmend isoliert sehen.

Symptomatisch für den unausgewiesenen Schwenk ist die thematische Entwicklung der softcore-antideutschen Wochenzeitung Jungle World alias Kinder-Welt, die noch vor kaum einem halben Jahr redaktionell voll auf Kriegskurs lag und mit Vertretern proamerikanischer völkischer Kurdenparteien durch die BRD tingelte, um jetzt ganz unschuldsvoll eine ähnliche Tingeltour mit Veranstaltungen „zum Abbau des Sozialstaats“ zu veranstalten unter dem Motto: „work hard, die young“. Aber diese Wende ist völlig unglaubwürdig, weil von keinerlei kritischem Diskurs über die eigene Ausrichtung seit dem 11. September begleitet, die völlig inkompatibel mit ernsthafter Sozialkritik ist. Deren Praktiker wurden ja bisher in der Kinder-Welt nach antideutschem Muster auch reichlich denunziatorisch abgekanzelt.

War da mal ein kleinerer imperialer Weltordnungskrieg? Hat man dabei mit miesestem Hurra-Journalismus propagandistisch sekundiert? Aber wer wird denn sein Gedächtnis länger als sechs Monate belasten ... „Hart gearbeitet“ hatte man daran, der Linken den Krieg als „Befreiung“ zu verkaufen; „jung zu sterben“ droht das Blatt, weil ihm nicht zuletzt deswegen die Abonnenten davongelaufen sind. Die angeblich wiederentdeckte „soziale Frage“ ist vor allem die des eigenen Überlebens als Kinder-Welt, und entsprechend lustlos wird das Thema als gesellschaftliches inhaltlich bearbeitet. Man möchte sich bloß in der Hoffnung auf Abos den sozialen Bewegungspraktikern ein wenig anbiedern und schaltet deshalb die hurrawestliche Mordideologie des „Befreiungsimperialismus“ auf Sparflamme, obwohl kein Jota zurückgenommen wurde.

Es ist nur folgerichtig, dass die derart instrumentalisierte „soziale Frage“ nicht im Horizont von Krisentheorie, Kritik des warenproduzierenden Systems und Kampf gegen die abstrakte Arbeit wahrgenommen, sondern unter den Hut der verdorbensten obsoleten Bürgerbegrifflichkeit gebracht wird, nämlich der „Demokratie“. Mit der ausgelutschtesten aller altlinken Phrasen, dem völlig sinnlos gewordenen Mantra der „Demokratisierung“, soll der Aufbruch zu neuen Ufern gewagt werden. Ausgeblendet wird die Form-Konstitution der Subjekte, die da „Demokratie wagen“ sollen; verdrängt die Tatsache, dass der sozialen „Willensbildung“ immer schon die Konkurrenz auf der Basis von Arbeitszwang, Marktvermittlung und Realabstraktion des Geldes vorausgesetzt ist und eben diese Voraussetzung zu durchbrechen und abzuschaffen wäre. Verleugnet wird die inzwischen jedem Kind geläufige Obsoletheit des Politikbegriffs, der nichts als die andere Seite der „abstrakten Allgemeinheit“ (Marx) negativer wertförmiger Vergesellschaftung bezeichnet.

Das Programm der Abschaffung soll noch einmal durch das Programm der demokratischen politischen Moderation ersetzt werden, um die künftigen sozialen Bewegungen von vornherein in den Begriffshorizont des warenproduzierenden Systems einzubannen. Was aber für den Arbeiterbewegungsmarxismus noch im Sinne der immanenten „Anerkennung“ der Lohnarbeiter als Wertsubjekte historisch tragfähig war (wenn auch ganz und gar nicht im Sinne eines systemtranszendierenden „Kommunismus“), ist heute schlicht gegenstandslos geworden. Alle popmoderne Tünche ist vergeblich: Die ewige linke Selbstvergatterung auf die bürgerliche Welt blamiert sich an der Krise dieser Welt. Wer mit seiner Kritik die kategoriale Konstitution des Kapitalismus nicht erreicht, erreicht gar nichts mehr. Was soll denn da noch „‚demokratisiert“ werden? Der Arbeitsmarkt? Die Existenzweise als Humankapital? Die transnationalen Wertschöpfungsketten? Die Finanzmärkte? Der IWF? Das Pentagon? Die deutsche Außenpolitik? Das Zuchthaus? Der Schlachthof? Die zweite Natur? Die erste? Dann ‚„demokratisiert“ mal schön ...

In diesem Sinne gab es Anfang November 2003 nun wieder mal einen von der Kinder-Welt mitgetragenen Kongress von so genannten „Radikaldemokraten“, der unter dem Titel „Indeterminate!“ den völlig irreführenden Namen eines „Kommunismuskongresses“ beanspruchte. War schon der SPOG-Kongress eine verlogene Angelegenheit, weil der „verkürzte Antikapitalismus“ der Antiglobalisierungsbewegung mit Statements eines selber ganz und gar verkürzten Traditionsmarxismus (und mit der bellizistischen antideutschen Ideologie als stillem Hintergrund) kritisiert werden sollte, so markiert nun dieser Kongress den Herbst der intellektuell auf den demokratischen Hund gekommenen Kritik überhaupt. Die Kinder-Welt möchte offenbar als Super-Illu der dummdemokratischen Phrase überleben, und dieses verdiente Schicksal sei ihr gegönnt. Nachdem die „Demokratisierung“ des Irak so wunderbar geklappt hat, schreitet man nun „radikalisierend“ fort zur „Demokratisierung der Demokratie“. Hat da jemand gelacht? Oder muss uns das Lachen im Hals stecken bleiben?

Dass das „kritische“ Denken in den kategorialen Rahmen der als unüberschreitbar halluzinierten bürgerlichen Welt hineingezwängt werden soll, sagen die von der Kinder-Welt dokumentierten Vorbereitungspapiere dieses jämmerlichsten aller „Kommunismus“-Kongresse mit wünschenswerter Deutlichkeit: „Außerhalb des demokratischen Horizonts ist eine emanzipatorische Alternative zum Status quo nicht mehr formulierbar ... der demokratische Horizont ist, wie jeder Horizont, unüberschreitbar (!) ... Die westlichen Demokratien füllen den demokratischen Horizont keineswegs aus. Sie sind nichts als ein partikulares Projekt (!), das ihn in ihrem Sinne eingefärbt und hegemonisiert hat ... Es geht um die Hegemonisierung des demokratischen Horizonts, nicht um seine Überschreitung (!). Das impliziert eine Strategieänderung: Ziel ist nun die Ausdehnung des demokratischen Horizonts und die Einforderung und Radikalisierung der Prinzipien der demokratischen Revolution (!). Aus dieser Sicht könnte man sagen: es braucht keinen pathetischen Ruf nach ‚Revolution‘ des demokratischen Horizonts, denn die Revolution hat bereits stattgefunden (!). Der Horizont gründet (!) auf ihr, er ist die Revolution ...“ (Oliver Marchart, Der Tag, an dem die Sonne scheint, in: Jungle World 42/2003).

Da haben wir explizit und unverklausuliert, was letztlich auch die antideutsche Ideologie ausmacht: statt Bruch mit dem Kapitalverhältnis die Idealisierung der bürgerlichen Verkehrsform. Es geht nicht über den Arbeiterbewegungsmarxismus hinaus, sondern hinter ihn zurück. Mit der bürgerlichen Revolution von 1789 wird wieder einmal die Geschichte gesellschaftlicher Formationen für beendet erklärt; von da an gibt’s nur noch „Ausgestaltung“ im immergleichen „Horizont“, die ja in den letzten 200 Jahren so überaus erbaulich war. Und in Deutschland wurde dieser „unüberschreitbare Horizont“ 1848 von den Paulskirchen-Spießbürgern erreicht, die schon von Marx verspottet wurden. Auf der Basis der „Erklärung der Menschenrechte“ von bürgerlichen Konkurrenzsubjekten soll „ein (umkämpftes) universelles Recht auf Politik (!)“ eine „unbegrenzte Sphäre der Politisierung“ (Marchart, a.a.O.) eröffnen. Geht’s noch ein bisschen niedlicher? Und so etwas setzt die Kinder-Welt ihren restlichen Lesern als letzten Schrei der „Debatte“ vor. Hatte man die Globalisierungskritiker gestern noch pauschal als Antisemiten und Nazis denunziert, so schnüffelt man heute aus Gründen der Publikumsräson am ideologischen Schwanz der Bewegung. Aber vielleicht besteht darin die natürliche Entwicklung des antideutschen Syndroms.

Diese „radikaldemokratische“ Avantgarde der Regression, die den Boden kapitalistischer Ontologie noch einmal nach einem emanzipatorischen Überraschungsei absuchen möchte, ist so „indeterminiert“, dass sich mit mathematischer Präzision jeder Furz voraussagen ließ, den sie auf diesem Kongress von sich geben würde. „Freiheit und Gleichheit sind die fundamentalen Bezugspunkte innerhalb des normativen Koordinatensystem linker Politik ... Es ist sinnenklar (!), dass die gesellschaftliche Verwirklichung der Demokratie die Überwindung kapitalistischer Produktionsweisen impliziert ... Es ist nur gerecht, dass Gerechtigkeit gilt ...“ usw. Da schmunzelt sogar Habermas. Solche Sätze der Frankfurter Basisgruppe DemoPunk (in: Jungle World Nr. 43/2003) muss man nicht mehr kommentieren. Jede bessere Oma weiß inzwischen, dass Demokratie nichts anderes ist als die entwickeltste Form kapitalistischer Staatlichkeit, in der nach Kant und Bentham jeder sein eigener Sklaventreiber sein darf. Eine „neue große Geste“ zu „projektieren“ (wenn man schon derart geschwollen negristisch daherreden muss) wäre es, die radikale Kritik der demokratischen Verkehrsform und ihrer Ideologie auf die Tagesordnung zu setzen. Aber diese Leute, die davon schwafeln, dass sie „die Geschichte gefährden“ wollen, gefährden mit ihrem auf der demokratischen Seichtigkeit „gründenden Horizont“, der „die Revolution ist“, einzig und allein die deutsche Sprache; und das ist es nicht zuletzt, was in der Kinder-Welt vom antideutschen Impuls übrig bleibt. Was sich da „inszeniert“ als „Vereinbarung souveräner, intentionaler und rationaler Freier und Gleicher“ (Basisgruppe DemoPunk, a.a.O.), ist die Faschingsausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung. War eine solche Kennzeichnung vor einem Jahr gegenüber der Kinder-Welt noch polemische Überspitzung, so ist sie inzwischen als Realsatire wahr geworden. Das „universelle Recht auf Politik“ ist nicht mehr überbietbar; auch wenn man bei der Kinder-Welt in dieser Hinsicht vorsichtig sein muss. Vielleicht ist das Blatt gerettet, wenn nur jeder zehnte Sozialkundelehrer im demokratischen Horizont sein Aboformular ausfüllt; und wenn mir nur jeder hundertste Chinese einen Cent schickt, spendiere ich der gesamten Kinder-Welt-Redaktion die Umschulung zu einem anständigen Beruf, z.B. als Parkplatzwächter.

Obwohl man gar nichts mehr auf der Pfanne hat und längst zum Zentralorgan der organisierten linken Langeweile mutiert ist, wird so getan, als ginge es jetzt erst richtig los: „Ohne Gurus, aber mit Theoretikern und Praktikern der sozialen Revolte“ (Editorial Nr. 43/2003). Wie die aussehen, davon legen die Beiträge zu jenem absurden „Kommunismuskongress“ ein illustres Zeugnis ab. Aber man hat noch mehr zu bieten. Anlässlich der glorreichen Ablösung von den „Gurus der 90er Jahre“ hat die Kinder-Welt im Sinne des theoretischen Generationswechsels ein völlig unbekanntes junges Talent namens Wolfgang Fritz Haug entdeckt, das mit einem einschlägigen Beitrag zur „Demokratisierungsdebatte‘“ debütieren durfte. Dieser Theoretiker der demokratischen Pantoffelrevolte ist so taufrisch, dass er schon vor mehr als 30 Jahren seinen Schülern erklären konnte, warum es im hyperrealen Sozialismus weiterhin Wertform und abstrakte Arbeit geben muss, indem nämlich der gesellschaftliche Fetischismus so überaus hilfreich komplexitätsreduzierend ist. Wer von der DKP über den Eurokommunismus bis zur demokratischen Postmoderne an Bezugsfeldern alles durchgemacht hat, kann schon mal bei der Kinder-Welt als Endstation landen. Und die bei ihm. Was für eine gefährlich revoltistische Liaison in der demokratischen Horizontale. Da bleibt den herrschenden Mächten nur das Zittern: „Das Abonnieren der Jungle World kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod des Kapitalismus führen“ (Großanzeige in Nr. 43/2003). Wenn man „Hirn“ statt „Kapitalismus“ einsetzt, ergibt es einen Sinn.

Die Wolpertinger kommen!

Das Gesamtprojekt der linken Regression, in dem die Szene der antideutschen Insolvenz nur eine Nebenrolle spielt, erscheint bei W. F. Haug schon seit längerem unter dem Label eines „pluralen Marxismus“. Das darf freilich nicht verwechselt werden mit einer offenen Debatte um Geschichte und Zukunft der Rezeption und Weiterentwicklung Marxscher Theorie. Der Haugsche „plurale Marxismus“ war nie plural genug, um den wertkritischen Ansatz ernsthaft reflektieren zu wollen. Das ist auch leicht erklärlich. Denn diese „Pluralität“ stellt nichts anderes dar als ein intellektuelles Reservat sämtlicher abgetakelter Marxismen der Vergangenheit im gemeinsamen Kontext des Arbeiterbewegungsmarxismus, in das auch die buntschillernde postmoderne Version Eingang gefunden hat. Wie Henry Ford sagte, dass sein Modell T in jeder Farbe geliefert werden könne, wenn sie nur schwarz sei, und wie die Ware vom radioaktiven Müll bis zur Gentomate jede Gestalt annehmen darf, wenn sie nur als Wertabstraktion einen Preis realisieren kann, so nimmt der „plurale Marxismus“ alle Theorien auf, wenn sie nur die falsche Ontologie des modernen warenproduzierenden Systems nicht verlassen. Die völlige Inkompatibilität mit der genau diese Ontologie transzendierenden konsequenten Wertkritik versteht sich von selbst.

Zu ihrer realen Zeit waren diese Marxismen keineswegs „plural“ versammelbar, sondern fochten erbitterte Kämpfe aus; nicht allein, weil sie vielleicht dogmatisch verhärtet gewesen wären, sondern weil es sich um reale Konfliktfragen im Kontext der noch aufsteigenden historischen Entwicklung der „auf dem Wert beruhenden“ Weltgesellschaft handelte. Heute sind sie allein deshalb kompatibel, weil sie gemeinsam gegenstandslos geworden sind. Das einst weltbewegende Schisma zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus (Bolschewismus) etwa ist längst regressiv befriedet. Aber auch ein Gegensatz geringerer Dimensionierung wie der zwischen antideutscher Ideologie und DDR- oder DKP-Marxismus scheint sich in einer Zeitschrift wie Konkret abzuschleifen. Was sich da aus den Küchenabfällen, Abwässern und Essensresten der ideologischen Vergangenheit zusammenbraut, ist die Virtualität einer Art „SPD-ML“ (Franz Schandl); ungefähr so zukunftsgrün wie der Inhalt einer von Maden wimmelnden Biomülltonne.

Gemeinsam huldigt man der Politikillusion, weil man nicht realisieren kann, dass die Fetischform des Werts keineswegs ein „wirtschaftlicher Faktor“ ist, dem das autonome und emanzipatorisch besetzbare „außerökonomische“ Feld der Politik gegenüberstehen würde (sodass Wertkritik als angeblicher „Ökonomismus“ abzuwehren wäre), sondern die übergreifende Subjektkonstitution darstellt, die in sich gespaltene negative Identität von homo politicus und homo öconomicus. Die Politikform ist nur die andere Seite der Wertform und enthält daher keinerlei systemtranszendierende Potenz. Deshalb muss unter den Bedingungen des Ausbrennens der Wertlogik soziale Emanzipation neu bestimmt werden, nicht mehr wie in der Vergangenheit als Kampf um „Anerkennung“ in der Subjektform des Verwertungsprozesses. Genau darum will sich der „plurale Marxismus“ herummogeln, um stattdessen auf dem Boden der nicht einmal begrifflich in Frage gestellten Wertvergesellschaftung immer wieder zur „Demokratisierungs“-Phrase und zu äußerlichen Reparaturkonzepten wie dem des „zivilgesellschaftlichen“ Diskurses zurückzutrotten, die allesamt längst jämmerlich gescheitert sind (etwa in Gestalt der NGO-„Politik“).

Die postmodernen Theoreme sind in diesem Zusammenhang nicht etwa deshalb zu kritisieren, weil sie überhaupt die Subjektform und ihre aufklärerische Legitimation kritisiert haben, sondern weil sie dies bei weitem nicht konsequent genug taten.
Das Resultat ist eine völlige Regression auch bei großen Teilen der postmodernen Linken, wie sie in jenen peinlichen Kongresspapieren zum Ausdruck kommt und die Kompatibilität mit dem „pluralen Marxismus“ älterer Provenienz herstellt. Der soll auf diese Weise mit „Topics“ wie dem der „Geschlechterverhältnisse“ (Frankfurter Basisgruppe DemoPunk, Internet-Kongressaufruf) modernisiert werden, die jedoch wie schon seit den 80er Jahren im Haugschen Argument auf dieselbe bürgerliche Ontologie und ihre idealisierenden ideologischen Beschränkungen festgenagelt bleiben wie alle traditionellen „Topics“. Die „Politikkonzepte der 70er Jahre“ werden nur deshalb als „anachronistisch“ bezeichnet (Basisgruppe DemoPunk, a.a.O.), um den alten demokratischen Idealismus popmodern anzumalen und der neoliberalen „Post-Politik“ keine emanzipatorische Anti-Politik jenseits des demokratischen Formzwangs entgegenzusetzen, sondern „mit neuer Kreativität bei der Suche nach globalen Lösungen“ die Politikillusion zu erneuern.

Das alles ist inhaltlich nichts Neues, aber wir haben es mit einem neuen fraktions- und gruppenübergreifenden Regressionsschub der Linken zu tun, deren scheinalternative Warenseele sich angesichts verschärfter sozialer Repression und neuer Bewegungsansätze noch einmal zu inkarnieren sucht, um ihre antiquierten Begriffe und Programme den sozialen Praktikern als frische Geistesnahrung zu verkaufen. Die Pluralität der Gegenstandslosen bringt dabei eine Spezies zum Vorschein, die eine Modifikation unserer beliebten Tiermetapher erfordert. Die Zwergdinos werden im Jurassic Park zur Minderheit, im Kommen sind die Wolpertinger.

Der Wolpertinger ist ein nördlich der Donau wenig bekanntes Fabeltier, erfunden von dem bayerischen Heimatschriftsteller Ludwig Ganghofer; und auf Ganghofer-Niveau ist die radikale Linke ja mittlerweile angelangt. Es handelt sich um eine echte Chimäre, nach Aussagen ihres Schöpfers um eine „Hirschbockbirkfuchsauergams“, wie gemalt als Symbolfigur für zeitgenössisches Borderlinertum. Dass Walter Moers, der Erfinder des „kleinen Arschlochs“ , neuerdings auf den Wolpertinger gekommen ist, macht dessen Zeitgeist-Signifikanz in allen gesellschaftlichen Bereichen deutlich, also auch in den linken Szene-Biotopen. Während der Dino den unverfälschten fossilistischen Arbeiterbewegungsmarxismus repräsentiert, steht der Wolpertinger für die chimärische Einheit in der pluralen Vielfalt der vorwertkritischen, aufklärungsideologisch-demokratischen Marxismen. Die Kinder-Welt beispielsweise ist zum vollwertigen Wolpertinger gereift. Eine antideutsche Denunziations- und Bellizismus-Schnauze war als erstes da, es glänzte das Ganzkörperfell bürgerlicher Aufklärungsphilosophie, ein schillernder postmoderner Schweif ließ nicht auf sich warten, jetzt sind prachtvolle demokratische Eselsohren herausgewachsen, das edle Haupt ziert eine nostalgische proletarische Gretlfrisur, und aus Gründen der geschlechtlichen Ambivalenz kommt obendrauf noch ein klassenkämpferisches Schirmmützchen. Könnte das mal jemand zeichnen?

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es hätte durchaus eine sinnvolle Debatte verschiedener Positionen gerade auch in der Jungle World organisiert werden können: zur Globalisierung, zum Antisemitismus usw., am Material und nicht ideologisch fixiert. Das Verhältnis von Wert-, Abspaltungs- und Arbeitskritik zur traditionsmarxistischen Klassentheorie, die ja nicht mit einem Fingerschnippen zu erledigen ist, hätte thematisiert werden können ohne Ab- und Ausgrenzungswahn. Es wäre möglich gewesen, die postmodernen Ansätze zur Aufklärungs- und Subjektkritik auf den Prüfstand zu stellen; es hätte die Vermittlungsfähigkeit von Foucaultscher Begrifflichkeit mit einer weiterentwickelten marxistischen Ideologiekritik getestet werden können oder die Einbeziehung von Foucaults materialen Untersuchungen zur historischen Disziplinierung in eine erweiterte Kritik der kapitalistischen Kategorien.

Diese Chance zu einer produktiven Debatte mit literarischer Polemik, aber ohne denunziatorische Energie, wurde leichtfertig vertan; allen voran von der Jungle World, deren Problem nicht war, dass sie kein Richtungsorgan sein wollte, sondern im Gegenteil, dass sie spätestens nach dem 11. September redaktionell ein solches wurde, nämlich ein im weiteren Sinne antideutsch-bellizistisches. Das Spektrum der offenen thematischen Fragen in der radikalen Linken wurde zugeschüttet durch den identitär prowestlichen und denunziatorischen Duktus. Die demokratische Biedermeierei ist nur die Fortsetzung derselben Tendenz mit anderen Mitteln. Es wird noch manchen Wolpertinger-Kongress geben, bis die Szene endlich an ihrem eigenen Begriffsmüll erstickt ist.

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