FORVM, No. 240
Dezember
1973

Zelle im Staatskörper

Theorie der Gefängnisarchitektur

1 Kinderschreck

Der Gefängnisbau ist nicht ein zufällig zur Knastmisere hinzukommendes Ärgernis, sondern architektonischer Ausdruck des gesellschaftlichen Strafkomplexes.

An der Gefängnisarchitektur läßt sich das jeweilige Verhältnis der Gesellschaft zur „Kriminalität“ ablesen. Die Innenarchitektur ist eine zementierte Unterdrückungsmaßnahme gegen den Gefangenen. Die räumliche Umgebung nimmt vorweg, unterstützt und ergänzt die Zwangsmaßnahmen, die in Verwaltungsanordnungen festgelegt sind. Deutlicher als jede Vorschrift drückt sie die Strafziele aus.

Wir finden heute im wesentlichen zwei Arten von Gefängnisbauten vor: Gefängnisbauten aus der Zeit des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts und Gefängnisneubauten der letzten Jahre. Das Bild des Knasts in der Öffentlichkeit ist vor allem durch die alten Bauten bestimmt. Sie sind wie die meisten Herrschaftsbauten der damaligen Zeit Produkte der sogenannten „Stimmungs- oder Bildungsarchitektur“, die eine architektonische Identität von Baustruktur, Wahrnehmung und sozialer Bedeutung anstrebte. So sollten Gefängnisbauten „einen düsteren, unheildrohenden Eindruck auf die Außenstehenden bzw. den Insassen machen“.

Die Außenansicht verrät das Verhältnis von Bürgern und Ausgestoßenen. Wer draußen steht, wendet sich mit Schrecken ab. Die Häßlichkeit der Architektur, ihre Monumentalität und Düsterkeit ist Sinnbild des „Bösen“ und zugleich Abschreckung. Das Gefängnis mahnt die Anständigen, anständig zu bleiben, und trennt zugleich strikt von dem, was man das „‚Böse“ nennt. Ein englischer Architekt forderte dementsprechend, daß bei aller Verschönerung und Humanisierung der Innenräume die Außenansicht düster und schrecklich sein müsse.

Der ältere Gefängnisbau isoliert zwar die Gefangenen, beließ aber den Komplex Verbrechen und Strafe im sozialen Lebensbereich der Stadt. Der monolithische Schreckensbau korrespondiert mit den Kollektivbegriffen von „Verbrechen“, „Strafe“ und „Abschreckung“. Eine Differenzierung läßt die Architektur nicht zu. Die alles umfassende Mauer bestimmt „Strafe“ als abgegrenzten und in sich geschlossenen gesellschaftlichen Bereich. Die Architektur gibt keinen Hinweis darauf, daß in diesen Gebäuden Menschen mit ganz und gar verschiedenen Schicksalen und Bedürfnissen wohnen. Da diese Gefängnisarchitektur eben unmenschlich ist, folgt daraus, daß auch diejenigen, die drinnen sind — bzw. sein sollen —, keine „Menschen“ seien. Sie sind nur „Verbrecher“. Die Architektur schließt jeden Einblick in die inneren Verhältnisse aus. Damit bleibt der Knast als Strafmythos erhalten. Ein Einblick in das Innere könnte gesellschaftliche Vorurteile differenzieren bzw. aufheben.

Gefängnisbauten wurden zumeist in den Stadtteilen errichtet, wo ohnehin die potentielle Knastbevölkerung lebt: in Vorstädten und Arbeitervierteln. Das Gefängnis als Erziehungsfaktor: Der mahnende Zeigefinger der Mutter weist auf das düstere Gebäude: Dort sitzen die bösen Buben — und wenn du nicht brav bist ... In jeder Stadt ist der Name des Gefängnisses oder auch der Irrenanstalt (meist der Orts- oder Straßenname) ein Symbol der Drohung, das alle Kinder kennen. Allein die Nennung des Namens droht Ausstoßung und Diskriminierung an und mahnt zum Wohlverhalten.

2 Geometrie & Bürokratie

Die Gefängnisneubauten der heutigen Zeit liegen meist außerhalb der Städte. Der Baustil ist im Prinzip jener funktionale, der auch Verwaltungsbauten, Krankenhäuser, Schulen und Siedlungen charakterisiert. Selbst der Mauer wird bisweilen mittels künstlerischer Verzierung der Gefängnischarakter (für den Außenstehenden) genommen. Die Gefängnisse sind dem Wahrnehmungsbereich der übrigen Bevölkerung entzogen. Damit wird aber sogar noch die Trennung der „Guten“ von den „Bösen“ bzw. der „Gesunden“ von den „Kranken“ vertieft.

In dem Maße, wie Strafvollzug zu einer Verwaltungsaufgabe unter anderen wird und Behandlungscharakter erhält, tritt der Abschreckungscharakter der Architektur zurück. Informationen über Strafvollzug liefern die verschiedenen Kommunikationsmedien. Eine unmittelbare Anschauung ist nicht mehr notwendig. Das Vergeltungs- und Abschreckungsinteresse hat sich gerade in letzter Zeit vom Strafvollzug auf die Verfolgung verlagert. Wenn die Strafverfolgungsmaßnahmen Affekte wie Rache und Aggressivität an sich binden, kann der Strafvollzug das Pendant dieser Affekte fördern: das Schuldgefühl, das sich in karitativer Fürsorge äußert. So werden sich entsprechend der Strafvollzugsreform auch architektonische Institutionen wie Irrenhäuser und Gefängnisse aneinander angleichen. Beide werden am besten in grünen Wäldern vor den Blicken neugieriger Menschen versteckt.

Gefängnisse sind Zweckbauten. Die klassische Bauweise der Gefängnisse in Deutschland ist der sogenannte Strahlenbau, der in einfacher oder auch verdoppelter Form anzutreffen ist. Die Bauanlage ist unter dem Gesichtspunkt der optimalen Kontrollierbarkeit konstruiert. Von der Zentrale im Mittelpunkt sind sämtliche Flügel und Stockwerke zu übersehen, da auch die Zwischendecken in den Treppenhäusern fehlen. Der Bau ist lediglich ein Agglomerat von nebeneinander und übereinander liegenden Zellen. Die Zugänge sind auf schmalstem Raum angelangt. Das heißt, die Bauten erfüllen lediglich den Zweck der Kontrollierbarkeit und der platzsparenden Aufbewahrung. Moderne Hühner- und Viehfarmen werden ähnlich konstruiert.

Die Konzentrik, die Symmetrie und vertikale und horizontale Anordnung entsprechen der zentralistischen Struktur von Bürokratien. Das Bauprinzip der „‚Aneinanderreihung gleichartiger Elemente“ entspricht und spiegelt Verdinglichung und Vereinzelung von Individuen, die lediglich als quantifizierbare Mengen existieren.

3 Emotionshohlspiegel

Die Gefängnisneubauten sind monofunktional. Die Zwecke der Aufsicht, Übersicht, Kontrolle, Hygiene und Raumaufteilung sind lediglich Ausdruck von Verwaltungsinteressen — sie negieren sämtliche Bedürfnisse der Gefangenen. Dementsprechend finden die Bedürfnisse der Gefangenen keine räumliche Entsprechung. Die Umwelt läßt keinen emotionalen Bezug zu. Damit entfällt aber ein wesentliches Moment subjektiven Selbstgefühls und sozialer Orientierung. Die kahlen Gänge mit spiegelblankem Kunststoffbelag und die Monotonie aus Glas, Metall und grauem Stahlbeton sind eine fremdartige und feindselige Umwelt. Die Energie, die sich nicht nach außen wenden kann, richtet sich destruktiv nach innen. Apathie und Depression sind die Folgen — oder aber ungezielte Aggressivität gegenüber der gesamten Umwelt. In diesen Räumen kann man eben nur verkümmern oder sie durch Vandalismus wenigstens destruktiv verändern. Die immer gleiche Ansicht einer leblos-langweiligen Struktur (senkrecht — waagrecht, rechtwinklig, rechteckig, symmetrisch) läßt Phantasie verkümmern. Eine Architektur, die keine Orientierung und keinen subjektiven emotionalen Bezug erlaubt, verwirrt, desorientiert und flößt Furcht ein. Der Gefangene flüchtet aus der Fremdheit des Traktes in die Überschaubarkeit seiner Zelle. Die Zelle, ein Bauteil von extremster motorischer Beschränktheit, wird somit zur Zuflucht und zum Bezirk von Privatheit. Der schroffen, unpersönlichen Gestaltung der Welt des Gefängnisses entspricht dann die Gestaltung der Zelle. Hier tobt sich der frustrierte Selbstgestaltungsdrang in seiner entfremdeten Form aus: Die Wände werden mit Kitschpostkarten und Blumen geschmückt, Häkeldeckchen liegen auf dem Tisch, Gummibäume stehen vor dem Gitter, und Flugzeugmodelle schweben unter der Neonröhre. Der Gefangene schafft sich in der Zelle ein gemütliches Zuhause.

4 Ursprung Klosterzelle

Die Einzelzelle, heute als modernste vollzugstechnische Errungenschaft des Strafvollzugs gerühmt, hat uns im 17. Jahrhundert die Kirche beschert. Bis dahin waren Gefangene, Männlein und Weiblein, in großen Räumen gemeinsam untergebracht. Sie ist Ausdruck der christlichen Ideologie: der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch, der „in sich geht“, kommt wieder in Einklang mit der göttlichen Ordnung. Die Zelle zerstört jede Kommunikation, verhindert fast jede motorische und damit psychische Entfaltung. Der Gefängnisschritt — sieben Schritte vor und sieben zurück — ist der animalische Versuch, die Bewegungsfreiheit wiederzugewinnen. Er ist gewissermaßen auch eine Versinnlichung des moralischen „In-sich-Gehens“.

Auch optisch ist der Gefangene von der Außenwelt abgeschnitten. Die Fenster haben Sichtblenden oder sind so hoch angebracht, daß man nur mit großer Mühe hinaussehen kann. Der Zellengrundriß ist so gestaltet, daß der gesamte Raum durch den „Spion“ in der Tür beobachtet werden kann. Der Gefangene selbst kann nichts sehen, ist aber jederzeit sichtbar.

Der bauliche Ausdruck der Hausstrafe ist die Arrest- und Beruhigungszelle. In den alten Gefängnissen hat sich hierbei das Kerkerprinzip erhalten. Die Hausstrafe — gewissermaßen eine Strafe in der Strafe — muß dem Gefangenen, um ihn überhaupt zusätzlich bestrafen zu können, die wenigen Zugeständnisse, die man seit dem Mittelalter an die Menschlichkeit gemacht hat, wieder nehmen. Die Arrestzelle in den älteren Gefängnissen ist ein dunkler feuchter Raum, meist im Kellergeschoß, in dem der Gefangene in einem 2 x 2 x 1,80 m großen Gitterkäfig untergebracht ist. Es gibt kein Bett, keinen Tisch — nichts. Lediglich einige Holzplanken auf dem Betonboden, die man euphemistisch Pritsche nennt, dienen zum Schlafen. Hier kommt mit dem Rückgriff auf die Kerkerarchitektur wieder das alte Strafprinzip des frühen Mittelalters zur Geltung. Bestimmte Personen wurden eingesperrt, um sie — oder ihre Angehörigen — zu bestimmten Leistungen zu erpressen oder sie zu liquidieren. Absichtlich wurde die Gefangenschaft so unmenschlich wie möglich gestaltet.

Die Arrest- und Beruhigungszellen in Gefängnisbauten sind „modernisiert“. Statt Finsternis, Feuchtigkeit, Mauern und Gitter wird die Arrestzelle auf reine Funktionalität reduziert. Außer hellen, aber unverputzten Wänden und einem glatten gekachelten Boden findet der Gefangene nichts vor. Selbst der Lokus besteht nur aus einem einfachen Loch im Fußboden. Die Lampe ist versenkt, die „Fenster“ bestehen aus einer schmalen Reihe von Glasziegeln. Eine Hartfaserplatte dient als Schlafplatz. Der Gefangene soll keinen Anhaltspunkt haben, keine Perspektive, aus der Gegenstände zu „erfassen“ sind. Selbst die Lichtschalter sind außerhalb der Zelle angebracht. Wer aber nichts Gegenständliches erfassen kann, kann auch nichts bewußtseinsmäßig „erfassen“, das heißt, er verblödet. Die Arrestzelle vermittelt die Strafe als totalen Reizentzug. Die Arrestzelle manifestiert die Architektur des nackten Terrors.

Aus Knast Report, Makol Verlag 1972 (Beiträge von Reinhard Wetter, Frank Böckelmann, Holger Trülzsch, Günther Maschke).

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