Grundrisse, Nummer 30
Juni
2009
Murat Uyurkulak:

Zorn

aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Zürich: Türkische Bibliothek/Unionsverlag, 2008, 19,90 Euro

Minimol

Die Revolution war einst eine Wahrscheinlichkeit, und sie war schön.

Mit diesem Satz beginnt Murat Uyurkulaks sprachgewaltiger Erstlingsroman, der 2002 in der Türkei unter dem Titel Tol – einem kurdischen Wort für Rache, Wut, Zorn – erschienen ist. Auf der letzten Seite des Buches findet sich dieser Satz in leicht veränderter, weniger vergangenheitsbezogener Form wieder.

„Wie schön ist die Revolution, wenn sie eine Wahrscheinlichkeit ist“, dachte ich.

Dazwischen liegen über zwanzig Jahre, dazwischen liegt ein historisches Datum, das in der Türkei jeder/m ein Begriff ist: der 12. September 1980, der Tag des dritten Militärputsches in der Geschichte der Republik Türkei. Der 12. September 1980 stellt DIE Zäsur in der jüngeren türkischen Geschichte dar. Kaum ein Artikel zur Türkei – sei es zu Wirtschaftspolitik, Frauenbewegung, Widerstand in den Gecekondus – kommt ohne den Verweis darauf aus ... so auch in der vorliegenden Schwerpunktnummer der Grundrisse zur Türkei.

Dem Militär und der türkischen Rechten ist der Roman höchstwahrscheinlich ein Dorn im Auge, jene, die die offiziellen Parteigeschichtsschreibungen der linken Organisationen der 1970er und 1980er Jahre hochhalten, dürften jedoch auch nicht besonders glücklich damit sein. Zorn ist ein Stück wortgewaltiger Literatur, in dem die militante revolutionäre Linke im Mittelpunkt steht. Die Protagonisten sind jedoch keine disziplinierten Kader – ordentlicher, schön gefärbter, sozialistischer Realismus wird nicht geboten. Die Handlung ist bevölkert von versoffenen, verzweifelt gescheiterten, verrückt gewordenen Revolutionären. Heroisches Personal, jedoch auf eine kaputte Art – Desperados. Auf nahezu jeder Seite wird Alkohol in rauen Mengen getrunken. Dennoch: die eher anarchisch als militärisch-diszipliniert gezeichneten Charaktere sind durchaus liebenswert. Das Buch ist durchzogen von jenem Humor, der aus der Katastrophe erwächst. Das Ausmaß dessen, was der Militärputsch bedeutet hat und immer noch bedeutet, wird spürbar, der tiefe Staat [1] sichtbar.

Formal sehr dicht umgesetzt – bruchstückhaft, zerstückelt und durchaus auch ins Surreale abhebend – werden uns die Auswirkungen des Putsches, der Militärdiktatur übersetzt. Gerade die Lücken sprechen von den Traumata durch Folter, Gefängnis, Vergewaltigung, Verrat, Illegalisierung, Verfolgung und Mord ... und auch von der Sinn- und Orientierungslosigkeit des erzwungen unpolitischen Lebens danach. Nicht zuletzt geht es um die Wichtigkeit des Zeugnisablegens, des Schreibens, des Aufbewahrens und Weitergebens von Geschichte(n). Der türkischen Linken wird ein literarisches Denkmal gesetzt – ein Denkmal jedoch, das bereits eingestürzt ist, ein aus Trümmern zusammensetztes Denkmal für eine Linke, die den Untergang 1980 nicht kommen sah und sich noch (erst) zur Jahrtausendwende fragt (fragen kann), was sie denn falsch gemacht hat.

Die sind so anders, ich kann es dir gar nicht beschreiben. (Seite 311)

Besonders berührend gegen Ende des Romans die Entfremdung zwischen den alten Genossen und einer neuen Generation von Linken – die Orientierungslosigkeit der alten Linken nach dem gescheiterten bewaffneten Kampf, das Verrücktwerden an der Niederlage und am nicht Rache nehmen können für die dahin Gemetzelten, das die Welt nicht mehr verstehen, das in der Vergangenheit leben. Ganz verloren ist die verlorene Generation jedoch dennoch nicht. Den ganzen Plot hindurch baut sich größer und schneller werdend eine neue revolutionäre Welle auf. Am Schluss wird der Grat zum Revolutionskitsch überschritten, aber was heißt das schon? Ausblicke, die Hoffnung geben, geraten leicht kitschig ... das Rationale allein hat keine Perspektive, das Zynische und das Ewig-Besserwisserische schon gar nicht.

Ich verstehe nicht, was ihr gegen die Sache mit Diyarbakir habt. Was soll das heißen, die machen ihr Ding und wir das unsere? Es gibt nur ein Ding. (Seite 323)

Uyurkulak ist türkischer Türke, der Titel seines Romans kurdisch. Dies beeinhaltet neben der von ihm gegebenen Begründung, dass ihm das kurdische Wort Tol kraftvoller, eindeutiger, stärker und weniger vertraut erscheine, auch ein politisches Statement. Bei einer Lesung in Wien im Herbst 2008, die anlässlich des Erscheinens seines Romans auf Deutsch stattfand, beantwortete der Autor die Frage nach der seiner Meinung nach momentan drängendsten politischen Frage in der Türkei damit, dass die Linke endlich von ihrem Nationalismus weg kommen und eine klare Position zur KurdInnenfrage formulieren müsse.

Am Morgen rüttelte mich jemand wach. Der Rüttler rief ungeduldig: „Steh auf, Dichter, überall sind Leute auf der Straße, es gibt eine Revolution!“ „Dann soll Asya nicht aus dem Haus gehen“, sagte ich im Halbschlaf. Ich stand auf und verließ das Zimmer. (Seite 87)

Bald nach seinem Erscheinen 2002 entpuppte sich der Roman als Ereignis und machte den Schriftsteller Murat Uyurkulak quasi über Nacht in der Türkei bekannt. Zwei Gründe werden dafür im Nachwort angegeben. Tabubruch eins: die Geschichte der Türkei wird aus der Perspektive der revolutionären Linken geschrieben. Tabubruch zwei: Sexualität wird unverblümt dargestellt. Was zweiteres betrifft, so mag es wohl sein, dass die direkte Darstellung von Sexualität in der Türkei einer Sensation gleich kommt, das entzieht sich meinem Beurteilungsvermögen. Die Einbettung des männlichen Blicks auf Sexualität jedoch in eine Darstellung der militanten Linken, in der Frauen nahezu ausschließlich als Geliebte, Sterbende oder Monstren vorkommen und über keinerlei SprecherInnenposition verfügen, ist hart an der Grenze des Erträglichen und mitnichten etwas Neues. Spätestens beim doch sehr abgeschmackten Bild des Landes Türkei als Jungfrau erschien mir die Anstrengung, mich zum Weiterlesen zu überreden, schier unüberwindlich. Bei der Lesung in Wien von einer Frau aus dem Publikum darauf angesprochen, ob es in seinem Roman denn keine Frauenfiguren gebe, warum Frauen nur als Geliebte vorkämen, meinte Uyurkulak lapidar, er wisse um das Problem, könne aber nicht anders, da er Frauen nicht anders kenne. Das ist insofern erstaunlich, als Uyurkulak Jahrgang 1972 ist und somit mit der in den 1980er Jahren entstandenen türkischen Frauenbewegung aufgewachsen sein muss, die die einzige breite soziale Bewegung in der Zeit nach dem Militärputsch war und ihre Anfänge unter anderem aus der Auseinandersetzung der linken Frauen mit den patriachalen Strukturen in den eigenen Organisationen bezog (siehe die Artikel von ... und von ... in diesen Grundrissen). Es ist also keine unbeabsichtigte Nachlässigkeit, sondern dem Besprechungsgegenstand geschuldet, wenn in dieser Buchbesprechung die männliche Sprachform statt der gewohnten Binnen-I-Form dominiert.

Ich liebe Zorn dennoch, denn die Figuren des Buches sind mir merkwürdig vertraut, sie erinnern mich an junge türkische Linke in den 1980ern im inneren Exil an der türkischen Mittelmeerküste – wo der Alkohol in Strömen floss –, deren Fröhlichkeit etwas Verzweifeltes an sich hatte; sie erinnern mich an türkische Genossen im europäischen Exil, die am bewaffneten Kampf festhielten und dabei immer mehr in Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenenen Fraktionen der türkischen Linken selbst verstrickt waren; sie erinnern mich an türkische GenossInnen, die Verwandte, FreundInnen, Geliebte verloren haben, nach Jahren des Gefängnisses die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr wieder erkannten und noch heute Schwierigkeiten haben, einen Fuß auf den Boden der Realität zu kriegen; sie erinnern mich an türkische GenossInnen, die dem (religiösen) Wahn anheim gefallen sind; an GenossInnen, die mitansehen müssen, wie ehemalige Genossen zunächst Unternehmer und dann immer stärker Teil mafiöser Strukturen wurden; sie erinnern mich an alternde türkische Genossen, die sich in der Zusammenarbeit mit einer neuen Generation von linken Frauen und Männern immer noch als Revolutionsführer fühlen und nicht verstehen können, warum sie aufgrund ihres autoritären Verhalten aus linken Zusammenhängen rausfliegen ... und das gelegentliche Gefühl, von der Wirklichkeit überholt worden zu sein, ist mir selbst nicht fremd.

[1„Tiefer Staat“ ist ein in der Türkei gebräuchlicher Ausdruck für die hinter den offiziellen staatlichen Apparaten im Verborgenen liegenden Machtstrukturen, für die undurchschaubare und geheime Zusammenarbeit von Militär, Polizei, faschistischen Organisationen, Parteifunktionären, Unternehmerverbänden, Teilen von Regierungen und Verwaltungsapparaten, Geheimdiensten und Mafia.

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