FORVM, No. 157
Januar
1967

Zum Werk

Heimito von Doderer ist vor der Vollendung seines großangelegten Projekts „Roman No. 7“ gestorben. Seine Devise, der Romanschriftsteller habe zugunsten der Objektivität und Totalität seiner Figurenwelt „sich selbst unvollendet stehn zu lassen“, erhält damit eine schmerzliche Parallele. Was das Hauptwerk werden sollte, ein Roman aus vier Romanen, eine Chronik dieses Jahrhunderts und zugleich eine sinfonische Komposition nach dem Vorbild Beethovens, bleibt unvollendet. Wir haben uns mit einem Werk zu begnügen, das der Autor nur als Vorstufe zum Hauptwerk gelten ließ.

Womit wir uns zu begnügen haben, ist gleichwohl nicht eben wenig: eine stattliche Anzahl von Romanen, unter denen zwei — „Die Strudlhofstiege“ (1951) und „Die Dämonen“ (1956) — jeder für sich ein Lebenswerk ausmachen, Erzählungen und Essays, ferner Tagebuchaufzeichnungen, die zum Eigenartigsten in der neueren Literatur gehören; insgesamt ein Werk von heute noch in keiner Weise auszumessender Spannweite. Es ist kompositorisch bis ins kleinste Detail ausgeklügelt, auf dem Reißbrett skizziert, und in seiner endgültigen Gestalt doch von einer wuchernden Fülle des Lebens. Es gibt sich den Anschein unbefangener Erzählung, Plauderei, Abschweifung ins Hundert- und Tausendste, und folgt doch nicht nur dem vorentworfenen Plan, sondern ist zugleich Ergebnis einer auf das subtilste durchgrübelten praktischen Philosophie. Es wendet sich in die Vergangenheit zurück, rekapituliert den Wiener Alltag abseits der politischen Geschichte vom Ausgang des vorigen Jahrhunderts bis in die Zwanzigerjahre, und zeigt doch in immer neuen Variationen die bis heute unvermindert aktuelle Ideologisierung des Einzelnen und der Gesellschaft. Es porträtiert Vertreter aller Gesellschaftsschichten und erweist sie am Ende doch jeweils als Träger eines einmaligen individuellen Schicksals. Es hält auf chronistische Treue, gibt sich realistisch und objektiv, und schließt dennoch Groteske, Satire, Phantastik nicht aus.

Das Frühwerk — einschließlich noch der 1931 begonnenen „Dämonen“ — lebt von einem Problem, das zugleich das Lebensproblem Heimito von Doderers war: die Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirklichkeit, die Befestigung seines Standes in ihr, die „Menschwerdung“. Ein Thema, das seinen expressionistischen Ursprung nicht verleugnet und in einem epigonal-expressionistischen kleinen Roman erstmalig Gestalt gewinnt („Die Bresche“, 1924), das unter dem Titel „Ein Mord, den jeder begeht“ (1938) die unverwechselbar Doderer’sche Ausprägung erhält, in den „Erleuchteten Fenstern“ als „Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal“ (1951) humoristisch und zeitsatirisch abgewandelt wird und in den „Dämonen“ den verbindlichen Maßstab für eine Vielzahl von Figuren abgibt.

Das Spätwerk — beginnend mit der „Strudlhofstiege“ — wirft allen theoretischen Ballast ab, versenkt auch das Problem der Menschwerdung zurück in den Lebensgrund, aus dem es herausgetreten war, hebt es auf in einer komplexen Komposition, die die „Regie des Lebens“ vertritt. Grundstruktur wird der „dialektische Mechanismus des Lebens“; das Wechselspiel zwischen Innen und Außen — vor allem in den „Dämonen“; die Wechselbeziehung zwischen den Menschen, ihnen selbst oft verborgen, im Verborgenen aber allemal wirksam und schicksalbestimmend — vor allem in den „Wasserfällen von Slunj“ (1963); das selbsttätige Wirken der Dinge — in den realistischen Romanen sowohl wie im grotesken Materiale der „Merowinger“ (1962); und immer wieder die geheime Kommunikation der in sich ruhenden Dinge; der schweigendsprechende Genius loci; die Aura, die Dinge und Menschen umhüllt und ihr Lebenselement ausmacht.

Im Jahre 1946 notierte Doderer unter dem Stichwort „Objekts-Offenheit“ im Tagebuch: „Ich möchte nur ein Buch schreiben, das ich — selbst gerne lesen würde. Ein Buch, das mich befangen würde. Das mir leuchtende Punkte in der Welt zeigte und nicht nur das problematische Dunkel in der Brust des Autors.“ Wer erkennt, daß Heimito von Doderer den Weg zu diesem Buch mit der „Strudlhofstiege“ erst begann und ihn nach dem ersten Teil von „Roman No. 7“, den „Wasserfällen von Slunj“, schon abbrechen mußte, vermag die Schwere des Verlustes zu ermessen, den die Literatur durch seinen Hingang erlitten hat.

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