FORVM, No. 119
November
1963

Zur Debatte zwischen China und der Sowjetunion

Theoretisch-philosophische Bemerkungen

Vor allem sei der rein theoretische, ja in mancher Hinsicht philosophische Charakter dieser Bemerkungen betont — der aber keineswegs eine Neutralität der Urteilsenthaltung bedeutet.

Die Kontroverse selbst ist ein höchst wichtiges politisches Ereignis, dessen weitere Konsequenzen heute schwer übersehbar sind. Diese Betrachtungen stellen sich aber gar nicht die Aufgabe, Fragen unmittelbar politischer Art zu beantworten, ja Antworten auch nur anzudeuten.

Darin steckt natürlich keine Spur einer Unterschätzung der realen Schritte zur Verwirklichung, ihrer notwendigen Zickzacklinie. Wie jeder, weiß auch der Verfasser dieser Zeilen, wie widerspruchsvoll die Prinzipien des XX. Kongresses der KPdSU sich durchgesetzt haben, auf wie komplizierten Wegen die chinesisch-sowjetischen Gegensätze entstanden und bis zur gegenwärtigen Schärfe gewachsen sind. Naturgemäß kann auch die Zukunft keine andere Struktur haben als die Vergangenheit. Ja, der Verfasser ist — auch als Philosoph — weit entfernt davon, die Bedeutung eines derartigen Auf und Ab in der Realisierung bedeutsamer Tendenzen zu unterschätzen; er weiß mit Lenin, daß die jede Voraussicht übertreffende „Schlauheit“ im Gang der Dinge notwendig zur Konkretheit der Welt gehört, daß bei ihrer Vernachlässigung die Welt selbst in ihrer Bewegtheit unverstanden bleiben müßte.

Die Beschränkung auf das theoretisch Prinzipielle birgt unvermeidlich die Gefahr in sich, an so entscheidenden Beziehungen auch des zentralen Gehalts vorbeizugehen. Es gibt jedoch Lagen — und ich glaube, in einer solchen befinden wir uns auch heute —, in denen eine bewußt-einseitige Beschränkung nützlich ist, wenn man inmitten einer Debatte, die notwendig detaillierte Anklagen und Gegenanklagen häufen wird, das Wesen des Gehalts — früher, als er geschichtlich plastisch hervortreten würde — herausarbeiten will. Die angedeuteten Fehlerquellen müssen daher in Kauf genommen werden.

Betrachtet man die Briefe der beiden Zentralkomitees, so fällt sogleich ein Kontrast im Aufbau und im Ton der Darstellung auf, worin implicite auch der sachliche Gegensatz zum Ausdruck kommt. Der chinesische Brief zeigt die formal geschlossene, pseudotheoretische Weise der Stalinschen Periode. Der sowjetische Brief hat zum Wesen den echt empfundenen Appell an große gemeinsame Erlebnisse der Gegenwart, die heute hunderte Millionen Menschen tief bewegen.

Ich hebe nur die allerwichtigsten hervor. Da ist vor allem, daß die Kommunistische Partei der Sowjetunion mit der auf hochmütigem Beiseiteschieben der Gesetzlichkeit basierten Praxis der Stalin’schen Periode aufgeräumt hat. Wenn dies als Beenden des „Personenkults“ bezeichnet wird, so ist der Ausdruck viel zu bescheiden, um die Breite und Tiefe der Wirklichkeit aufzudecken.

Es handelt sich um die notwendige feste Garantie eines menschlich gelebten Lebens durch den sozialistischen Staat, nachdem selbst ein Minimum an Humanität durch Stalins Regime verächtlich-systematisch annulliert wurde. Nicht nur die für ein sinnvoll gelebtes Leben unerläßliche Sicherheit seiner Basis wurde damit zerstört, nicht nur die dazu ebenso nötige Realität der Lebensperspektive aller Menschen wurde zur haltlosen Illusion, nicht nur jede Tätigkeit der Menschen verlor ihren realisierbaren Sinn, auch die politische Entwicklung, in deren Interesse diese Verfügungen angeblich getroffen wurden, büßte jede echte Kohärenz, jede innere Wahrhaftigkeit ein, entartete in Schrecken und Heuchelei.

Es ist uns hier nicht möglich, die weite und tiefe Wirkung des Befreitseins in den sozialistischen Ländern, in denen diese Abrechnung mit der Stalin’schen Vergangenheit wirklich vollzogen wurde, auch nur andeutend zu beschreiben. Ebenso wenig sind wir hier in der Lage, auf die verhängnisvollen Folgen hinzuweisen, die diese Taten Stalins in der internationalen Arbeiterbewegung, um nur dieses zu erwähnen, ausgelöst haben. Wenn es den Kommunisten heute in einigen kapitalistischen Ländern mit hingebender Arbeit gelingt, in wirtschaftlichen Fragen der Betriebe einen gewissen Einfluß zu erringen, so zerrinnt dieser gleich, sobald von politischen Entscheidungen die Rede ist. Die Abwendung von einem Sozialismus im Stile Stalins ist noch heute — sieben Jahre nach dem XX. Kongreß — eine lebendig wirksame Tendenz. Verlieren geht eben rascher als Wiedergewinnen. Besonders in einem solchen Fall, wo nur ein vollständiger und radikaler Bruch mit den Stalin’ schen Methoden das Vertrauen wiedererringen könnte.

Lenins These ist überholt

Noch tiefer und international aufwühlender ist das zweite Erlebnis im Appell des sowjetischen Zentralkomitees: der Appell an die Erschütterung, die die Möglichkeit des nuklearen Krieges in der ganzen Welt auslöste. Es ist überflüssig, diese Behauptung durch Aufzählung von Tatsachen zu erhärten. Hoffentlich kennen recht viele die erschütternden Briefe von Claude Eatherly, dem Hiroshima-Piloten; sicher ist vielen die heilsame Wendung im Denken Bertrand Russells in dieser Frage bekannt, usw. usw. Wichtiger noch als diese Reaktionen ist, daß der XX. Kongreß als erste reale Macht die Perspektiven eines Lebens ohne Atomkrieg der Welt unterbreitet hat. Es ist aber vielleicht nicht ganz überflüssig, das heute bereits selbstverständlich Scheinende als Paradoxie, wie es beim ersten Aussprechen erschien, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Als Paradoxie vor allem für den internationalen Kommunismus.

Lenin hatte zur Zeit des ersten Weltkriegs den unlösbaren Zusammenhang zwischen Imperialismus und Krieg um die Neuaufteilung der Welt richtig festgestellt. Chruschtschews Rede im Jahr 1956 bricht mit der von der Geschichte nunmehr überholten Lenin’schen These, daß Weltkriege unvermeidlich sind, ebenso schroff, wie Lenin seinerzeit mit der These von Marx gebrochen hat, daß die proletarischen Revolutionen nur in den entwickeltsten Ländern begonnen und nur international erfolgreich sein können.

Lenin vollzog den Bruch mit einer Marx’schen These ebenso auf Grundlage der Marx’schen Methode, wie ein halbes Jahrhundert später Chruschtschew die These Lenins auf Grundlage der Lenin’schen Methode aufgehoben hat. Beidemal handelt es sich um die Anerkennung der historischen Entwicklung, die, was einst richtig war, in ein Falsches, was einst fortschrittlich war, in eine hemmende Kraft für die veränderte Gegenwart verwandelt hat.

Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht bloß um den isoliert betrachteten nuklearen Krieg. Wäre nicht ein Drittel der Welt sozialistisch geworden, wäre der Aufstand der Kolonialvölker nicht zur heute offenbaren Allgemeinheit herangewachsen und hätte den Gedanken der Neuaufteilung der Welt einfach dadurch zur Nichtigkeit verurteilt, so hätte diese neue Wendung nicht eintreten können. Hätten etwa im Jahre 1914 Wilhelm II., Clemenceau und Lloyd George über Atombomben verfügt, so hätten sie höchstwahrscheinlich von ihnen Gebrauch gemacht. So ist aber das Schwinden des nuklearen Albdrucks mit dem XX. Kongreß ein realer Ausweg für die ganze Welt geworden.

Mit Recht beruft sich der sowjetische Brief auf dadurch ausgelöste Gedanken und Gefühle. Nachdem Chruschtschews siebenjährige geschickte Zähigkeit den Beschluß des XX. Kongresses zur allgemeinen Hoffnung der ganzen Welt gemacht hat, verblassen, ja lösen sich vor diesem Appell jene zuweilen geschickt gedrechselten Funktionärsophismen des chinesischen Aufrufs vom „unvermeidlichen“ Weltkrieg als einzigem Weg zum Weltsozialismus in nichts auf.

Marx contra Chinas Sektierer

Werfen wir nun einen Blick auf den sophistisch „einheitlichen“ und „logisch“ deduzierten Inhalt des chinesischen Briefes.

Will man dessen Inhalt kurz ausdrücken und ihn zugleich in die Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung einordnen, so kann man nur sagen: er ist die letzte Zusammenfassung einer seit dem Anfang der Arbeiterbewegung immer wieder — zugleich neu und alt — auftauchenden Tendenz: des Sektierertums.

Sie äußert sich gleich am Anfang in der Depressionszeit nach der Niederlage der Revolution von 1848 als Bewegung von Willich-Schaper im Londoner Kommunistenbund; sie erhält — um die Kontinuität nur an einigen Beispielen zu illustrieren — in der Opposition der „Jungen“ nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes in Deutschland (1889) eine neue Gestalt; sie spielt eine große Rolle in der Frage des Boykotts der III. Duma (1907), in der Debatte um die Unterzeichnung des Brest-Litowsker Friedens (1918) usw. usw. Hier kommt es naturgemäß nicht darauf an, die Geschichte des Sektierertums zu skizzieren; vielmehr benutzen wir diese Erinnerungen bloß dazu, um einige seiner charakteristischesten gemeinsamen Züge kurz herauszustellen.

Vor allem: die Wirklichkeit wird stets ihres Reichtums beraubt, wird auf ein starres Dilemma zwischen sich absolut ausschließenden Extremen reduziert. Dies erscheint überall sowohl theoretisch wie praktisch. Schon 1850 charakterisierte Marx diese fundamentale Mentalität des Sektierertums so: „An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrade der Revolution. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur, um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen!“

Diese „Weltanschauung“ hat höchst wichtige Konsequenzen für Theorie und Psychologie des Sektierertums. Was die Psychologie betrifft, so erscheint in ihrem Zentrum einerseits das abstrakt-falsche Dilemma einer Wahl zwischen allem oder nichts, anderseits der pessimistisch-defaitistische Verzicht auf jedes Handeln, da die Verwirklichung des ins nicht zu verwirklichende Extrem hinaufstilisierten Ideals sowieso ausgeschlossen ist.

Lenin hat in der Diskussion über den Brest-Litowsker Frieden den Standpunkt seiner Gegner, der Anhänger eines „revolutionären Krieges“ gegen das damals noch militärisch starke Deutschland, angesichts einer in voller Auflösung befindlichen russischen Armee als „eine Stimmung des tiefsten, hoffnungslosen Defaitismus, ein Gefühl der völligen Verzweiflung“ geschildert. (Beiläufig bemerkt: wenn die chinesische Stellungnahme in gewissen kleinen Gruppen der westlichen Intelligenz Sympathie auslöst, so wäre es der Mühe wert, näher anzusehen, ob es sich überall wirklich nur um Politik handelt oder auch um jene Einstellung zur Wirklichkeit, die die Grundlage zur Popularität heutiger Schriftsteller vom Typus Beckett zu bilden pflegt. Wir können hier auf diese an sich interessante Frage nicht näher eingehen.)

Dieser Defaitismus, diese pessimistische Verzweiflung hat dann häufig zur Folge, daß die bisherigen Errungenschaften der Bewegung — und seien sie noch so bedeutsam, ja welthistorisch ausschlaggebend — einer Entwertung anheimfallen. So, wenn seinerzeit die sektiererischen Anhänger des völlig irrealen „revolutionären Krieges“ gegen Deutschland bereit waren, dafür die Existenz der eben errungenen ersten Sowjetmacht der Welt aufs Spiel zu setzen.

Wenn wir nun die geistige Struktur dieser Position etwas näher betrachten, so finden wir Prinzipien von einer äußersten, ins Leere umschlagenden Abstraktheit. Es sei hier, um Mißverständnisse zu vermeiden, deutlich gesagt: diese Betrachtungen sind weit entfernt von der Förderung einer rein „realpolitischen“, pragmatisch begründeten politischen Handlungsweise. Verallgemeinerung, Rückführen auf Prinzipien sind für eine weitblickende richtige Praxis unvermeidlich. Allerdings müssen einerseits die Prinzipien in der dynamischen Wirklichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung selbst begründet, also nach Marx’ Worten: „verständige Abstraktionen“ sein, anderseits ist die Erkenntnis der dialektischen Vermittlungen zwischen allgemeinen Prinzipien und konkreten einzelnen Zielsetzungen unerläßlich.

Für das Sektierertum ist gerade das — man könnte sagen: prinzipielle — Ausschalten aller Vermittlungskategorien bezeichnend. Die Verwirklichung der allgemeinen, der letzten Prinzipien ist für das Sektierertum nicht das Ergebnis einer gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung, in welcher ununterbrochen Formwandlungen, Funktionswechsel vor sich gehen, in welcher ständig neue Vermittlungen entstehen und die alten ihre Gültigkeit verlieren, mehr oder weniger wesentliche Modifikationen erleiden, usw. Das Sektierertum verknüpft überall und immer die letzten — und darum notwendig abstrakten — Prinzipien der Bewegung unmittelbar mit den einzelnen Aktionen, will diese aus jenen unmittelbar „ableiten“.

Indem zwischen Prinzip, Strategie und Taktik alle dialektischen Vermittlungen ausgeschaltet werden, entstehen hohle und abstrakte Deduktionen, höchstens, wenn doch an die Wirklichkeit erinnert wird, bloße Analogieschlüsse. Auch die Einzelereignisse verlieren ihren individuellen Charakter sowie ihr unlösbares Verknüpftsein mit den konkreten Umständen, aus denen sie entstanden sind und auf die sie ihrerseits einwirken. Bloß eine abstrakte Ähnlichkeit (oder Gegensätzlichkeit) verbindet eine gegenwärtige Aktionsmöglichkeit mit einer „analogen“ aus der Vergangenheit.

Auch hier liegen die Beispiele auf der flachen Hand. Im Jahr 1905 haben die Bolschewiken die vom Zarismus geplante sogenannte Bulygin’sche Duma mit erfolgreichem aktivem Boykott torpediert; den Massenstreiks und Aufständen gelang es — vorläufig — zu verhindern, daß die zaristische Reaktion sich konsolidiere und die revolutionäre Entwicklung ihren Interessen entsprechend kanalisiere. Im Jahr 1907 hat sich die inzwischen siegreiche Reaktion bereits gefestigt; bei den Wahlen zur III. Duma handelte es sich deshalb für die revolutionäre Bewegung nur um ein legales Propaganda-Organ inmitten der generellen Unterdrückung ihrer Äußerungsmöglichkeiten. Dennoch haben die damaligen Sektierer, gerade mit Berufung auf den Erfolg des Boykotts im Jahr 1905, auch 1907, unter vollständig veränderten Umständen zum Boykott der III. Duma aufgerufen.

Immer wieder handelt es sich darum, daß vor einer Aktion nicht die von Lenin geforderte „konkrete Analyse der konkreten Lage“ erfolgt, sondern die Frage nach dem „Was tun?“ in der Form einer abstrakten Deduktion abstrakter Prinzipien beantwortet wird.

Ich nehme als Beispiel die Diskussion über die Teilnahme am Parlament und an den Parlamentswahlen in der internationalen kommunistischen Bewegung der Zwanzigerjahre, als ich selbst noch auf seiten der Sektierer engagiert war. Wir beriefen uns darauf, daß infolge der Revolution des Jahres 1917, infolge des revolutionär aufgewühlten Zustandes ganz Europas der Parlamentarismus im welthistorischen Sinn überholt sei. Lenin erwiderte:

Der Parlamentarismus hat sich ‚historisch überlebt‘ im welthistorischen Sinne, d.h. die Epoche des bürgerlichen Parlamentarismus ist beendet, die Epoche der Diktatur des Proletariats hat begonnen. Das ist unbestreitbar. Aber der welthistorische Maßstab rechnet nach Jahrzehnten. Zehn oder zwanzig Jahre früher oder später — das ist vom Standpunkt des welthistorischen Maßstabes gleichgültig, ist vom Standpunkt der Weltgeschichte eine Kleinigkeit, die man nicht einmal annähernd berechnen kann. Aber gerade deshalb ist es ein haarsträubender theoretischer Fehler, sich in einer Frage der praktischen Politik auf den welthistorischen Maßstab zu berufen. Hat sich der Parlamentarismus ‚politisch überlebt‘? Das ist eine ganz andere Frage.

Analysiert man solche Positionen erkenntnistheoretisch, so kommt sofort ihr äußerster Subjektivismus zum Vorschein. Zuletzt wird solcherart die sozialistische Prinzipientreue in ein Fichte’sches „Um so schlimmer für die Tatsachen“ verwandelt. Will aber ein derartiger Subjektivismus von solchen revolutionären Parolen zu Aktionen übergehen, so hat dieser erkenntnistheoretische Charakter zur Folge, daß aus den beabsichtigten Parolen revolutionäre Phrasen werden. Auch hierüber hat Lenin zur Zeit der Debatte über den Brester Frieden sehr klar gesprochen:

Man darf die große Losung ‚Wir setzen auf den Sieg des Sozialismus in Europa!‘ nicht zu einer Phrase machen. Das ist eine Wahrheit, wenn man den langen schwierigen Weg zum vollständigen Sieg des Sozialismus nicht außer acht läßt. Das ist eine unbestreitbare philosophisch-historische Wahrheit, wenn man die ganze ‚Aera der sozialistischen Revolution‘ in ihrer Gesamtheit nimmt. Aber jede abstrakte Wahrheit wird zur Phrase, wenn man sie auf jede beliebige konkrete Situation anwendet.

Eine jede bloß historisch-systematische Analyse des Sektierertums wäre jedoch, auf die Gegenwart angewendet, nicht nur unvollständig, sondern auch schief und verzerrt, würde man dabei nicht seine theoretisch und praktisch höchst einflußreiche Erscheinungsweise berücksichtigen, die es unter Stalin erhielt. Da ich wiederholt gerade die Methode Stalins — als Gegensatz zu der von Marx, Engels und Lenin — ausführlich untersucht habe, [*] kann ich mich jetzt verhältnismäßig kurz fassen.

Eine Pyramide aus lauter Stalins

Das entscheidend Neue, das Stalin für die Geschichte des Sektierertums darbietet, ist vor allem sozialen Charakters: während früher die Bewegung aus kleinen, freiwillig vereinten Gruppen, zuweilen sogar Grüppchen bestand, also manche „soziologischen“ Anzeichen der ursprünglichen Sekten (im kirchengeschichtlichen Sinn) an sich trug, wird mit Stalin das Sektierertum zur herrschenden Richtung einer großen Partei, eines mächtigen Landes. Das setzt — was die fast immer oppositionellen Sekten nicht hatten — vor allem einen streng zentralisierten Riesenapparat voraus; wie ich es 1956 nannte: eine Pyramide, die aus nach unten immer kleiner werdenden Stalins besteht.

Durch diesen Apparat verwandelte sich der Subjektivismus der revolutionären Phrase in ein — ebenfalls subjektives, also im oben untersuchten Sinn ebenso phrasenhaftes, aber durch Gewalt durchsetzbares — Dogma. Die revolutionäre Phrase ist zwar, im Rahmen des objektiv Möglichen, allmächtig geworden, hat aber damit ihre subjektivistische Hohlheit nicht verloren.

Das ergibt sich folgerichtig aus dem Strukturwandel der Beziehungen zwischen Theorie und Organisation bei Lenin und bei Stalin. Bei jenem wurden die Prinzipien der Organisation aus der jeweils neuen Analyse neuer Situationen und Tendenzen gewonnen, bei diesem stehen die Prinzipien des Herrschaftsapparates von vornherein fest, die propagandistische Darstellung der Ereignisse dient dazu, die Notwendigkeit des Apparats zu stärken. (Man denke an das vom XX. Kongreß widerlegte Theorem von der notwendigen Verschärfung des Klassenkampfs.)

Dabei spielten — und spielen heute bei den Chinesen — Zitate aus den Klassikern eine große Rolle. Beide Formen des Sektierertums gingen höchst souverän mit den Tatsachen um, gaben aber zugleich den bürokratischesten Willkürakten eine marxistisch-leninistische Überschrift. Ein sehr wichtiger Faktor der Stalin’schen Verzerrung des Marxismus-Leninismus bestand ja gerade darin, daß die marxistische Terminologie aufrechterhalten blieb, nur die Wirklichkeit, auf die sie bezogen wurde, hatte mit ihrer einst echten Bedeutung kaum mehr etwas zu tun. Es genügt, wenn man an gesellschaftliche Kategorien wie Diskussion oder Selbstkritik denkt, um diese Lage klar zu sehen.

Wir sprechen hier natürlich von den höchst wichtigen, auf vielen Gebieten dominierenden subjektivistisch-sektiererischen Momenten der Stalin’schen Politik und Organisation. Denn wäre dies ihr ausschließlicher Inhalt geblieben, hätte Stalins Herrschaft sich unmöglich Jahrzehnte hindurch erhalten können. Hier handelt es sich aber nicht um die historisch gerecht abgewogene Einschätzung dieses Regimes, sondern mir geht es darum, seine sektiererischen Züge zu demonstrieren. Und diese treten auch bei an sich richtigen Verfügungen klar hervor.

Ich führe nur ein Beispiel an, dessen Wesen ich bereits in anderen Zusammenhängen eingehend betrachtet habe. Ich habe seinerzeit ausgeführt, daß ich den Pakt des Jahres 1939 für politisch richtig halte, daß es aber ein schwerer Fehler war, die westlichen kommunistischen Parteien zu verpflichten, im Angriffskrieg Hitlers gegen ihr Vaterland einen imperialistischen Krieg alten Stils und dementsprechend den wirklichen Feind in der eigenen Regierung und nicht in Hitler zu erblicken. Hier haben wir die revolutionäre Phrase, das subjektivistische Dogma in Reinkultur vor uns: das besondere Moment (das Hitler-Regime) verschwindet völlig, das Schema des ersten Weltkriegs verdeckt völlig die Realität des zweiten, die Anwendung des Dogmas widerspricht schroff allen Tatsachen des neuen Krieges, allen Interessen und Empfindungen der vom Dogma dirigierten Massen.

So verzerrt der Stalin’sche Dogmatismus auch Forderungen, die aus an sich richtig erfaßten Prämissen gezogen wurden. Das Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit wird völlig getrübt und wirkt gerade deshalb auch auf das selbstherrliche Subjekt des Dogmas zurück. Der sektiererische Defaitismus, der ein allgemeines Kennzeichen der Stalinschen Methode ist, der defaitistische Unglaube an die selbständige Aktionsfähigkeit der Massen, an die Möglichkeit, etwas von ihnen lernen zu können, schlägt hier um: Stalin glaubt nicht daran, daß die Arbeiter der westlichen Länder dem Sozialismus, der Sowjetunion treu bleiben könnten, auch wenn sie sich gegen die Aggression Hitlers verteidigten.

So entsteht um das einsam gewordene Subjekt des sektiererischen Dogmatismus eine erstickende Atmosphäre des Mißtrauens; die Periode der großen Prozesse kann — wenigstens psychologisch — nur aus einer solchen Atmosphäre verstanden werden. Aber dieses Mißtrauen, das seiner inneren Struktur nach ein überspannter Subjektivismus ist, schlägt, wenn die subjektiven Wünsche sehr stark sind, in eine ebenso subjektivistisch grundlose Leichtgläubigkeit um; so, als Stalin, trotz mehrfachen Warnungen, im Sommer 1941 nicht an den Hitler’schen Angriff gegen die Sowjetunion glauben wollte.

Diese innere Widersprüchlichkeit des zum herrschenden System gewordenen subjektivistischen Sektierertums produziert in seiner Praxis nicht nur diesen Widerspruch, sondern noch eine ganze Reihe ähnlicher Widersprüche. Der schon oft als grundlegend erwähnte Defaitismus läßt z.B. die propagandistische Praxis in einen ärarischen Optimismus umschlagen. Der Grund ist leicht einzusehen. Der dogmatische Subjektivismus der Stalin’schen Methode kann unmöglich — wie bei Marx und Lenin — die Praxis zum Richter der Theorie machen. Die Praxis muß vielmehr unter allen Umständen die subjektivistischen Dogmen bestätigen. Ist dies in der Wirklichkeit nicht dei Fall, so muß der Apparat für den Anschein sorgen. So wird überall, wie ich in bezug auf die Literatur schon vor langer Zeit nachgewiesen habe, die Zielsetzung, die Perspektive als Realität dargestellt. Dies ist einer der wichtigen Gründe für die Stagnation der marxistischen Wissenschaften unter Stalin, für den Verlust an Ansehen, den der sozialistische Realismus selbst in den sozialistischen Ländern erlitten hat.

Unmenschliche Stalin-Zeit

Aus dieser Struktur des Denkens und des Handelns folgt auch die tiefe Inhumanität der Stalin-Zeit. Der Humanismus von Marx — tief verschieden von subjektiven und passiven Humanismen à la Stefan Zweig; ein Humanismus, der Opfer zuläßt, ja unter konkreten Bedingungen auch fordert — drückt sich theoretisch in seinen fundamentalen Analysen der Beziehung von Mensch und Gesellschaft aus, und zwar nicht nur in seinen Jugendschriften, sondern vor allem im Fetischisierungs-Abschnitt des „Kapital“. Diese Analysen zeigen, daß hinter der fetischisiert erscheinenden Oberfläche der ökonomischen Gebilde stets als echte Realität Beziehungen zwischen Menschen stehen, daß der Mensch, der wirkliche, der vergesellschaftlichte Mensch das letzthinnige — freilich keineswegs unbeschränkt mächtige — Subjekt des sozialen Geschehens ist.

Es entspricht dieser Konzeption, daß die Periode des Sozialismus die einer mächtigen inneren Befreiung sein muß. Das Aufheben der klassenkonstituierenden Ausbeutungsformen drängt dahin, dem verantwortlichen menschlichen Handeln das bisher größte reale soziale Gewicht zu verleihen. Damit wird erst, wie Lenin erkannt hat, das ethische Erbe der Menschheitsentwicklung praktisch aktuell. Er sieht voraus, daß

die von der kapitalistischen Sklaverei, von den ungezählten Greueln, Brutalitäten, Widersinnigkeiten, Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung befreiten Menschen sich allmählich gewöhnen werden, die elementarsten, von altersher bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften wiederholten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Unterordnung, ohne besonderen Zwangsapparat, der sich Staat nennt.

Der subjektivistische Dogmatismus der Stalin’schen Periode mit seiner widerspruchsvollen Einheit von Mißtrauen und Leichtgläubigkeit, von verborgenem Defaitismus und zur Schau gestelltem ärarischem Optimismus usw. kann deshalb nicht die bloß rechtlichen Zwangsbedingungen in ethische Selbstverpflichtungen hinüberwachsen lassen. Er wird vielmehr die Tendenz haben, sowohl die gesellschaftlich überlieferte wie die neu entstehende Moral durch die Permanenz bürokratischer Sanktionen in ein Rechtsverhältnis zurückzubilden. (Hier wie überall ist von typisch wirksam gewordenen Grundtendenzen die Rede, die die Stalin’schen Methoden notwendig ins Leben rufen. Daß der sozialistische Charakter des gesellschaftlichen Seins auf ethischen, ästhetischen usw. Gebieten auch Anderes, Entgegengesetztes produziert, ist selbstverständlich. Solche Gegentendenzen wurden aber bestenfalls geduldet. Wenn sie ans Tageslicht gelangten, geschah dies zumeist in einer halblegalen Partisanenform.)

Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die Anhänglichkeit der chinesischen Kommunisten an die Stalinsche Methode und deren historische Entstehung darzustellen. Uns genügt die Tatsache, daß nach der kurzen Episode der Hundert Blumen, die blühen sollten, der Stalin’sche Geist des Sektierertums sich in allen Dokumenten der chinesischen Kommunisten mit steigender Eindeutigkeit äußert. Der „Große Sprung“ war bereits ganz nach diesem Muster geplant und durchgeführt; auf sein notwendiges Scheitern folgte nur eine Radikalisierung derselben Methode. Nicht zufälligerweise schließt sich die Stellungnahme zur zentralen Frage der Zeit, zu Krieg und Frieden, wo sie nicht eine offene Bejahung des Atomkrieges im Namen einer aktualisierten revolutionären Phrase ist, an die Rede Stalins vor dem XIX. Kongreß an. Nach ein paar Vorbehalten in der Richtung, daß unter Umständen gewisse einzelne Kriege vermeidbar sein könnten, folgt eine dem Wesen nach vorbehaltlose Bejahung der Unvermeidlichkeit der Weltkriege, solange der Imperialismus besteht; nur der Sieg des Sozialismus im Weltmaßstabe gegen den Kapitalismus könne die Weltkriege zuverlässig verhindern. Die Stellungnahme des chinesischen Briefes läßt deshalb an Radikalismus der revolutionären Phrase Stalin weit hinter sich.

Man kann nicht oft genug wiederholen: der sowjetische Appell an die große Wendung, die im Leben der Völker seit dem XX. Kongreß stattfand, das Aufhören der Furcht vor Gesetzlosigkeit, die Aussicht, dem Atomtod der Menschheit zu entgehen, besitzen auf die Dauer eine stärkere Wirkungsmacht als die revolutionären Phrasen von noch so routinierten chinesischen Funktionären. Eine wirklich vernichtende theoretische Niederlage kann allerdings dieses modernste Sektierertum nur dann erleiden, wenn nicht nur seine praktischen Folgerungen vom Leben, sondern auch seine Prämissen und Deduktionsmethoden von der marxistischen Theorie restlos widerlegt werden.

Daß diese theoretisch abschließende Attacke heute noch fehlt, liegt an der noch nicht wirklich und völlig überwundenen theoretischen Erbschaft Stalins. Solange die von Stalin zum Stillstand, zur Rückbildung gebrachte Entwicklung von Ökonomie, Philosophie usw. nicht wirklich wiederum in Bewegung gerät, solange man zwar ein deutliches, sicheres Gefühl für die entscheidenden Lebensprobleme der Gegenwart hat, aber etwa die heutigen ökonomischen Tatsachen und Zusammenhänge noch immer mit vierzigjährigen Zitaten zu „klären“ sucht, statt auf der Grundlage der von den Stalin’schen Verzerrungen gereinigten Marx-Lenin’schen Methode eine unbefangene Erforschung der spezifischen Züge der Gegenwart zu verwirklichen, solange wird dieser Zwiespalt bestehen bleiben.

Praktisch spitzen sich die Gegensätze auf die Frage der Koexistenz zu.

Im lebendigen Gefühl sehr breiter Schichten aus beiden Lagern ist eine sehr deutliche Hinneigung zum Zustand der Koexistenz wahrnehmbar. Damit verbunden ist aber stets die Empfindung einer inneren Unheimlichkeit der aus ihr entstehenden Folgen. Sie wird naturgemäß von den extremistisch gesinnten Gegnern der Koexistenz in beiden Lagern geschürt. So kann man in der westlichen Presse immer wieder lesen: die Vorschläge der Sowjets zur Koexistenz seien solange unaufrichtig, solange die Kommunisten nicht auf ihr Endziel, auf die Errichtung eines Sozialismus im Weltmaßstabe verzichteten. Und anderseits werfen die Chinesen den sowjetischen Politikern vor, diese behaupteten, sie hätten in einzelnen Fragen eine gesund-nüchterne Auffassung der Lage bei westlichen Politikern gefunden, die sowjetischen Politiker hielten also diese westlichen Politiker nicht für blind-fanatische Verschwörer, die Tag und Nacht ununterbrochen, mit allen Mitteln, den unmittelbaren Sturz der sozialistischen Staaten vorbereiteten.

nächster Teil: Zur Debatte zwischen China und der (...)

Chinesisches

Zuerst sollst Du die Wachsamkeit jener Völker, deren Länder Du besitzen willst, einschläfern, und zwar dadurch, daß Du das Gerücht verbreitest, in Deinem Lager gehe alles drunter und drüber.

SunTse, um 550 v. Chr.

Ich wußte natürlich, daß Rußland ein weit ausgebreitetes Land sei. Aber ich mußte dahin reisen, um ganz zu wissen, wie groß und stark es ist, wie viel fester und geschlossener als das britische Reich mit seinen Inseln und Besitzungen, die zerstreut sind wie Hühner auf dem Hof. China ähnelt Rußland sehr in dieser Hinsicht. Wenn Rußland uns nicht immer in unseren eigenen Angelegenheiten bevormunden wollte, welch einen gewaltigen Bund könnten wir miteinander schließen!

Li Hung Tschang, 1901

[*Z.B. Georg Lukács: Privatbrief über Stalinismus (FORVM X, 115-116 und 117).

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