MOZ, Nummer 43
Juli
1989
Ungarn:

Zwischen Euphorie und Hysterie

Die Vorbereitungen zur österreichisch-ungarischen Weltausstellung sind auch in Budapest voll im Gang. Die einen hoffen, auf den europäischen Zug aufspringen zu können. Die anderen befürchten den Staatsbankrott.

Politische Metaphern haben das Schicksal, von den Journalisten gnadenlos ausgebeutet zu werden. So fiel Gorbatschows „europäisches Haus“ einer perfekten Ausschlachtung zum Opfer. Es wurde bereits hundertmal über seine Zimmer, Türen und Fenster gesprochen, streng wurde danach gefragt, ob die Einwohner Mieter oder Eigentümer seien und ob sie einen Schlüssel hätten, womit sie jederzeit aus ihren Wohnungen weggehen beziehungsweise dorthin zurückkehren könnten. Allem Anschein nach läßt sich aus diesem Symbol bei besten Willen nichts mehr herauspressen.

Nun macht in der ungarischen Publizistik ein neues Schlagwort die Runde. Es heißt, die letzte Chance für das Land sei, auf den europäischen Zug zu springen.

Ungarn und der europäische Zug

Auf den ersten Blick scheint es klar zu sein, was hier gemeint ist. Ungarn müßte sich dem westlichen ökonomischen und politischen Trend anschließen, wenn es nicht untergehen will — eine engere Bindung an die EG, radikale ökonomische Reformen unter Einbeziehung des ausländischen Kapitals, Konvertierung des Forints wären die ersten Schritte in diese Richtung.

Ziemlich wahrscheinlich schwebte den Erfindern der Metapher des europäischen Zuges nicht irgendein Bummelzug vor, sondern das Intercity-Netz, etwa der Zug mit dem stolzen Namen „Leonardo da Vinci“, der zwischen Deutschland und Italien unterwegs ist. Dieses Wunder modernen Bahnverkehrs mit Kurs-, Schlaf-, Liegewagen, Zugrestaurant, Zugtelefon, Quick-Pick-Büfett und sonstigen, noch ungeahnten Bequemlichkeiten verkörpert all das, wonach sich der einzelne Ostbürger sehnt. Richtig einschätzen kann diese Sehnsüchte nur jemand, der bereits einmal in einem rumänischen Wagen des Balt-Orient-Expresses von Bukarest bis Wien gereist ist.

Und trotzdem: wie plastisch auch immer der Vergleich unserer erwünschten Zukunft mit der Hauptverkehrsader Europas sei, in der Zugmetapher steckt etwas Surrealistisches.

Um innerhalb der Symbolik zu bleiben: Sollte dieses Aufspringen an einem der Bahnhöfe geschehen oder unterwegs in einem Augenblick, in dem der Zug seine Fahrt verlangsamt? Haben wir bereits das Ticket mit dem entsprechenden Zuschlag in der Tasche oder müssen wir noch zu der Kasse? Verfügen wir über das Reisegeld oder muß es erst geborgt werden, und wenn ja, bei wem? Beim Lokführer? Beim Schaffner? Oder bei einigen der Reisenden? Was soll mit unseren Habseligkeiten geschehen, sollten sie als Reisegepäck aufgeben oder die ganze Zeit mitgetragen werden? Dutzende ähnliche Fragen ließen sich noch stellen ...

Viele westliche Beobachter, insbesondere aus dem linken politischen Spektrum, warnen Ungarn vor einer engeren Verflechtung mit dem EG-Europa. Sie vergessen dabei, daß dies nicht einfach unser Traum oder unsere Hoffnung ist, sondern auch ein ökonomischer Zwang. Das grandiose Ausmaß der Verschuldung bei westlichen Banken sowie die eindeutige Pleite der zentralisierten sozialistischen Planwirtschaft führte dazu, daß das Land über keine anderen Möglichkeiten verfügt außer der, seinen Markt zu öffnen. Die Sowjetunion gewährt uns die langersehnte Unabhängigkeit auf eine ganz schäbige und brutale Art, in dem sie uns ökonomisch unserem eigenen Schicksal überläßt. Es heißt, die Ungarn (und die Polen) sollten ihre neugewonnene Freiheit und Demokratie gefälligst selber finanzieren.

Natürlich fehlt es dabei nicht an politischen Hintergedanken: zynische Spekulationen — wie die von Profesor Bogomolow über die etwaige Tolerierung einer ungarischen Neutralität seitens der UdSSR — sind darauf ausgerichtet, Gegenleistungen aus Westeuropa herauszulocken.

Außerdem hat die Sowjetunion, selbst wenn sie ihre lästigen Verbündeten zum Teil losgeworden ist, noch immer genug eigene Schwierigkeiten. Die stabilitätsgefährdenden Faktoren verlagern sich von Warschau oder Budapest nach Berg-Karabach und Tallinn-Riga-Vilnius. Daß Technologie-Transfer und Joint Ventures in Ungarn und Polen letztendlich auch dem Großen Bruder zugute kommen, ist keine Neuigkeit: diese Einsichten hatten bereits die Breschnew’sche Politik mitgeprägt.

Das Problem der ungarischen Nemeth-Regierung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wie kann man durch eine nicht stärkere Anlehnung an westliche Finanzquellen die Bankrotterklärung der Wirtschaft hinauszögern? Der Zeitfaktor spielt hier die hauptsächliche Rolle, denn jede Verschlechterung der aktuellen ökonomischen und damit sozialen Lage enthält eine direkte Bedrohung durch politische Unruhen, und zwar nicht seitens der neugegründeten Oppositionsparteien, sondern seitens der nichtpolitisierenden Bevölkerungsteile, die sich gegen ihre mögliche Verelendung zur Wehr setzen könnten. Das ist die unausgesprochene Angst, die die sichtbare politische Szene im Lande zwischen Euphorie und Hysterie schweben läßt.

Die Budapester Weltausstellung

Die öffentliche Debatte konzentriert sich nun auf einen Problemkreis, in dem alle EG-Träume und Ängste zum Ausdruck kommen. Das Thema lautet: Weltausstellung Wien-Budapest 1995. Die Gegner und Befürworter dieses Projektes entsprechen nicht direkt dem sonstigen politischen Spektrum. Ebenso, wie es im Regierungslager Meinungen gibt, die die Weltausstellung für ein riskantes, um nicht zu sagen gefährliches Abenteuer halten, so gibt es unter den Oppositionellen viele, die das Projekt bejahen. Die Für- und Widerargumente sind recht unterschiedlich. Das Riesenprojekt wird für gut gehalten, weil angeblich

  • das westliche Kapital nach Ungarn gelockt wird und damit die Wirtschaft endlich ankurbelt,
  • das zu diesem Zweck investierte Kapital auch nachher im Lande bleibt,
  • dadurch die Zugehörigkeit Ungarns an Europa nochmals betont wird,
  • während der Vorbereitung einer solchen Ausstellung niemand eine stalinistische Restauration riskieren würde,
  • so etwas überhaupt schön ist und dem internationalen Prestige des Landes dient.

Die Skeptiker und Gegner dagegen behaupten, daß

  • die Weltausstellung keinen wesentlichen Kapitalzufluß nach Ungarn bringen wird, denn die diesbezügliche Infrastruktur fehlt,
  • die Konzentration der Investitionen auf dieses Projekt die Vernachlässigung von lebenswichtigen Bereichen in rückständigen Teilen des Landes nach sich zieht,
  • die weitere Einbindung des Landes in das westliche Wirtschaftssystem einer Restauration des Kapitalismus gleichkäme,
  • die Weltausstellung nur schiefgehen kann, weil sie von dieser Regierung mitgetragen wird.

Es gibt auch Meinungen zwischen den Fronten. So behaupten zum Beispiel manche Umweltschützer, sie würden die Weltausstellung dann unterstützen, wenn die Regierung auf das kostspielige Wasserkraftwerksprojekt Nagymaros verzichtet. Ob das tatsächlich eine Bejahung ist oder nur eine taktische Lösung, soll dahingestellt bleiben.

Die Regierung benimmt sich übrigens in der Frage Weltausstellung gespenstisch ähnlich wie früher im Fall Nagymaros. Einerseits wird versprochen, daß diesmal „demokratisch“ verfahren wird, das heißt: Referendum abhalten, Experten fragen, die Öffentlichkeit informieren. Andererseits mobilisiert sie bereits alles, um ein minimal notwendiges Investitionskapital aufzutreiben.

Die Weltausstellung ist insofern symbolisch für Ungarns geplante Westbindungen, weil sie ebenfalls nur eine scheinbar offene Frage ist. Die „einmalige Chance“, wie es manche Reformökonomen nennen, Ungarn ganz fest in die internationale Marktwirtschaft einzubinden, hängt nämlich nicht nur davon ab, ob wir eifrig genug Portugal nach Salazar oder Spanien nach Franco nachahmen, ob die Scheren, die den eisernen Vorhang aufschneiden, schnell genug arbeiten; die Frage ist noch, ob der Westen (und speziell die EG) gewillt ist, eine nicht zuletzt mit Hilfe seiner Kredite ramponierte ehemalige Planwirtschaft zu übernehmen, und wenn ja — um welchen Preis. Manche sprechen diesbezüglich über eine Wiederbelebung des Marshall-Plans, der damals von Osteuropa abgelehnt wurde. Nur: die ökonomischen Kriegsfolgen waren von ganz anderer Natur und ganz anderem Ausmaß als die Zerstörungen in den letzten friedlichen Jahrzehnten.

Daß die sowjetische Regierung kein Wohltätigkeitsverein war und ist, das haben wir immer schon geahnt. Ähnliches können wir auch bei dem gutmütigen Monster Bundesrepublik — unserem Hauptgeschäftspartner — voraussetzen. Rein moralisch gesehen müßte die Sowjetunion dazu beitragen, die mit Hilfe ihres Wirtschaftsmodells kaputtgebauten osteuropäischen Länder zu sanieren. Aber auch gegenüber dem Westen müßten wir unsere Bettlerposition aufgeben und zumindest so klare Forderungen stellen, wie dies manche lateinamerikanische Länder tun. Schließlich müßte der jahrzehntelange rhetorische Kampf für die „versklavten Nationen“ nicht bloß ideologische Früchte ernten.

Sonst bleibt Ungarn und ganz Osteuropa — um die Metapher vom europäischen Zug fortzuspinnen — auf der Strecke. Oder wir müssen jahrzehntelang noch auf jenem traurigen Bahnhof ausharren, wo alles nur gehofft, aber nichts erwartet wird.

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