FORVM, No. 339-341
Mai
1982

Alle Macht für Otto Bauer!

Rede über Sozialdemokratie heute

Alfred Dallinger, Sozialminister der Republik Österreich, Obmann der Gewerkschaft der Privatangestellten, gehört zu den wenigen Grundsatzdenkern des österreichischen Sozialismus, die Otto Bauer und die marxistische Tradition noch nicht vergessen haben.

Über Wirtschaftsdemokratie, Arbeitszeitverkürzung, Sozialisierung und noch etliches andere dachte er kürzlich vor großteils jungen Sozialisten öffentlich nach — vor dem 3. Internationalen Otto-Bauer-Symposium in Wien.*

Alfred Dallinger: Besinnung auf die Gründerväter

Jede sozialdemokratische und gewerkschaftliche Politik ist auf eine demokratische Veränderung in Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet. Demokratie ist für uns nicht nur eine Staatsform, sie ist eine Lebensform, die alle Lebensbereiche des einzelnen durchdringen soll.

Diese Aussage, die für die Teilnehmer an diesem Seminar zweifellos Allgemeingut ist, stelle ich dennoch bewußt an den Beginn meiner Ausführungen, weil sie verdeutlicht, welches Ziel für uns im Vordergrund steht. Denn ein Bereich der gesamtgesellschaftlichen Demokratie — meiner Meinung nach der wichtigste — ist die Demokratisierung der Arbeitswelt und der Gesamtwirtschaft. Gerade in diesem Bereich ist Demokratie am schwierigsten zu verwirklichen, zeigt sich doch hier die wirtschaftlich stärkere Position des Unternehmers am deutlichsten. Die Wirtschaftsdemokratie findet ihren Ausdruck in der demokratischen Rahmenplanung, der Kontrolle wirtschaftlicher Macht und der Mitbestimmung auf allen Ebenen des Wirtschaftsgeschehens.

1918: Reform unter Druck

Ich möchte hier einen kurzen Rückblick auf die Geschichte einflechten. Historisch kann man die Sozialisierungsdebatte der 1. Republik und die Durchführung der Verstaatlichung nach 1945 als Schritt in Richtung Wirtschaftsdemokratie sehen. Die Nachkriegszeit der 1. Republik 1918—1934 unterscheidet sich aber wesentlich von der Situation nach 1945.

Die Zeit nach 1918 zeichnet sich durch eine chronische Wirtschaftsmisere aus. Die Situation in Österreich war geprägt von der revolutionären Stimmung. Die eine kurzfristige Machtdominanz der Sozialdemokratie mit sich brachte. Und dennoch — oder gerade deswegen — kamen die größten sozialpolitischen Errungenschaften vor allem im Jahr 1919 zustande. Die damaligen Reformen beweisen, daß es in einer Zeit großer wirtschaftlicher Probleme möglich war, eine fortschrittliche, ja zukunftsweisende Sozialpolitik zu machen.

Die Macht der Arbeiterbewegung als neue und verändernde Kraft und die Angst, die das Bürgertum davor hatte, rückte manches in ein anderes Licht und bewirkte, daß beispielsweise die Kunjunktursituation nicht ausschlaggebend für die Reformen war. Heute werden sehr oft die wirtschaftlichen Sachzwänge in den Vordergrund gestellt und damit die Weiterführung einer Reformpolitik beeinträchtigt.

Die Reformmaßnahmen dieser Zeit deckten dringendste Bedürfnisse, und das scheint mir wesentlich für unsere momentane Situation: Reformplan gab es keinen. Die damalige Sozialisierungskommission wirkte vor allem in Richtung eines Betriebsrätegesetzes. Im Vordergrund stand das Interesse, einen Stab von Vertrauensmännern bzw. Betriebsräten heranzuziehen, der fähig sein sollte, die sozialisierte Industrie zu leiten und zu verwalten.

Sozialisierung 1946: Staat genügt nicht

Die Sozialisierung in Form der Enteignung privaten Kapitals wurde mehr und mehr als Endpunkt einer längeren Entwicklung angesehen. Die meisten Sozialdemokraten lehnten es ab, die Sozialisierung der Produktionsmittel in Form der »Verstaatlichung« durchzuführen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich durch andere Kriterien aus. Einerseits gibt es seither eine stabile parlamentarische Demokratie. Die revolutionäre Aufbruchstimmung der Zeit nach dem 1. Weltkrieg war ebensowenig vorhanden wie ein aggressiver Antikapitalismus.

Unter dem faschistischen Deutschen Reich wurde die österreichische Industrie reorganisiert und umstrukturiert. Übrig blieben nach 1945 »herrenlose« Unternehmungen und ein schwaches österreichisches Kapital. 1946 kam es zu einer Verstaatlichung von 70 Betrieben. Das waren bedeutend weniger, als der ursprüngliche Verstaatlichungsantrag der Sozialisten vorsah. Verstaatlicht wurden fast die gesamte Grundstoffindustrie, die Elektrizitätswirtschaft und die drei größten österreichischen Banken.

Über die Form, wie diese Betriebe verwaltet werden sollten, machte man sich weniger Gedanken bzw. verschob dies auf einen späteren Zeitpunkt. Das 1947 verabschiedete neue Betriebsrätegesetz sah wohl begrenzte Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte vor, in der Praxis funktionierte die Betriebsführung der verstaatlichten Industrie und der Banken jedoch nach den Prinzipien der Privatwirtschaft.

Es kam daher zu einer begrenzten Durchsetzung einer »Wirtschaftsdemokratie«, obwohl im Unterschied zur 1. Republik die Verstaatlichung rasch und ohne lange Diskussion vollzogen wurde. Anton Proksch schrieb 1946: »Wir Sozialisten haben immer wieder betont, daß wir Gegner jeder Art von Verstaatlichung sind, die nur dazu führt, daß der Staat Besitzer der Betriebe wird. Wir Sozialisten stellen uns unter Sozialismus vor, daß im verstaatlichten Teil der Wirtschaft Leitungen maßgebend sind, die aus Vertretern des Staates, der in den Betrieben Arbeitenden und der Konsumenten und Weiterverarbeiter bestehen ... Die Wirtschaftsdemokratie muß endlich auch in Österreich verwirklicht werden.«

»Begrenzte Wirtschaftsdemokratie«

Systemveränderung fand nicht statt

Zusammenfassend kann man feststellen, daß von den Verstaatlichungsmaßnahmen keine entscheidenden systemverändernden Impulse ausgegangen sind. Denn die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist nicht schon dadurch realisiert, daß sozialdemokratische Manager in den Vorständen der Betriebe sitzen. Dazu bedarf es mehr, nämlich der konsequenten Vertretung und Durchsetzung der Interessen und Ziele der Arbeiterklasse.

Aber selbst wenn die Sozialisierung der Produktionsmittel in der Vergangenheit nicht immer mit der uns Sozialisten nötig erscheinenden Nutzung der Verfügungsmöglichkeiten über die Produktionsmittel Hand in Hand ging, so soll dadurch die Bedeutung der Verstaatlichten auf anderen Gebieten nicht herabgesetzt werden: sie lieferte immer wieder einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Vollbeschäftigung, da sie nicht so sehr dem Druck kurzfristiger betriebswirtschaftlicher Rentabilitätskriterien ausgeliefert ist.

Eine nennenswerte Weiterentwicklung auf dem Gebiet der Wirtschaftsplanung bzw. einen Ausbau der innerbetrieblichen Mitbestimmung gab es allerdings in der Vergangenheit nicht.

Nach diesem Rückblick auf die historische Entwicklung der Wirtschaftsdemokratie in Österreich will ich unmittelbar auf die gegenwärtige wirtschaftliche Situation kommen. Welche Prämissen sind vorgegeben, was haben wir von der Zukunft zu erwarten?

Aus den verschiedensten Gründen — konjunkturellen, strukturellen und ökologischen — wird vermutlich das Wirtschaftswachstum in den meisten Industrieländern und damit auch in Österreich nur mehr relatıv geringe Zuwachsraten erreichen. Gerade die kleineren Industrieländer sind es, die sich von der internationalen wirtschaftlichen Entwicklung nicht abkoppeln können. Dies beweisen die Exportorientierung, hohe Zinsen und steigende Energiepreise.

Als Folge des niedrigen Wirtschaftswachstums, durch das zunehmende Auseinanderklaffen von Produktivität und Produktion hat in den meisten Industriestaaten die Arbeitslosigkeit stark zugenommen. Auch in Österreich werden sich die Krisenphänomene und insbesondere die Beschäftigungsprobleme weiter verschärfen.

SP an der Grenze

Die Wirtschaftspolitik der SPÖ konnte bisher im Vergleich zu anderen Industriestaaten beachtliche, weltweit anerkannte Erfolge aufweisen, die Arbeitslosigkeit konnte niedrig gehalten werden, nicht zuletzt deshalb, weil Vollbeschäftigung immer das oberste Primat der österreichischen Wirtschaftspolitik der sozialistischen Bundesregierung in den 70er Jahren war. Deficit-spending, eine starke Investitionsförderung und eine maßvolle Einkommenspolitik der Gewerkschaften waren und sind die wirtschaftspolitischen Instrumentarien.

Der erwartete Wirtschaftsaufschwung blieb aus. Ein weiteres Budgetdefizit stößt an Grenzen, die Investitionsförderung half auch jenen Betrieben zu überleben, die nicht mehr lebensfähig sind, die Inlandsnachfrage ist vor allem aufgrund der niedrigen Realeinkommen rückläufig. In dieser Situation ist daher ein grundsätzliches Überdenken der Wirtschaftspolitik notwendig, da die gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Instrumente die anstehenden Probleme nur kurzfristig lösen können. Die Situation hat sich geändert, und: wir müssen die Zeichen der Zeit verstehen und der Herausforderung begegnen, wir müssen agieren, damit es nicht eines Tages selbst zum Reagieren zu spät ist.

Mehr denn je stellt sich die Frage, in welche Richtung die wirtschaftliche und damit die gesellschaftliche Entwicklung gehen soll. Ein Besinnen auf die Inhalte der Politik der Maßnahmen wird immer dringlicher. Ich meine damit ein Besinnen auf die Werte des Lebens, wie es die Jugend in ihren Bestrebungen gegen ein sinnloses Wachstum aufzeigt. Ich bin mir aber darüber im klaren — und dies möchte ich auch meinen jungen Freunden mit auf den Weg geben —, daß ein Umdenken auch eine entsprechende Meinungsbildung und daher Zeit erfordert, neue Ideen zu erproben und zu verwirklichen, Reformen, die nichts kosten, gibt es nicht.

Damit bin ich bei den Perspektiven für die Zukunft angelangt. Meine wirtschaftspolitischen Vorstellungen für die Zukunft konzentrieren sich auf drei Bereiche:

  • Mitbestimmung
  • Arbeitszeitverkürzung
  • demokratische Rahmenplanung.

Was die Sozialpartnerschaft nicht kann

Mitbestimmung auf allen Ebenen ist der Weg, der letzten Endes zu unserem Ziel, der Realisierung der Wirtschaftsdemokratie führen soll. Die Gewerkschaften verstehen unter Mitbestimmung, daß diejenigen, die von wirtschaftlichen Entscheidungen betroffen sind, auch am Zustandekommen dieser Entscheidungen teilhaben müssen. Die Mitbestimmung umfaßt drei Ebenen: 1. die überbetriebliche Mitbestimmung, 2. die betriebliche und 3. die Mitbestimmung des einzelnen am Arbeitsplatz.

Innerhalb des österreichischen Gewerkschaftsbundes hat — bedingt durch die Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit und während des Krieges und durch die gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Gewerkschaft infolge der Mitarbeit am wirtschaftlichen Wiederaufbau Österreichs — vor allem die überbetriebliche Mitbestimmung einen hohen Stellenwert. Die überbetriebliche Mitbestimmung kommt in der Form der österreichischen Sozialpartnerschaft zum Ausdruck.

Zentrales Anliegen der Sozial- oder Wirtschaftspartner ist die Sicherung des Wirtschaftswachstums als Grundlage für steigenden Lebensstandard und Vollbeschäftigung. Das Wirtschaftswachstum kann aber — darüber muß man sich im klaren sein — von den Arbeitnehmern nicht direkt beeinflußt werden.

Man kann daher im Rahmen der Sozialpartnerschaft eher von einem Mitverantworten als von einem Mitbestimmen sprechen (Beispiel: Betriebsräte als Verantwortliche für »Freisetzungen«, als Geldbeschaffer usw.!). Durch das System der Sozialpartnerschaft werden die Grundregeln der Gesellschaft, die herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung akzeptiert und lediglich ihre Auswirkungen gemildert.

Bei allen Vorteilen, die die Sozialpartnerschaft auch den Arbeitnehmern gebracht hat, darf sie für die Gewerkschaft nicht zur Ideologie werden, sondern muß immer wieder anhand konkreter Ergebnisse auf ihre Brauchbarkeit und Tauglichkeit zur Problemlösung geprüft werden. Denn je härter die Verteilungskämpfe werden, desto deutlicher zeichnen sich die natürlichen Grenzen einer solchen Kompromißpolitik ab: Die Methode der Sozialpartnerschaft kann dort kein Ergebnis bringen, wo die grundsätzliche Unvereinbarkeit der Standpunkte nicht mehr an der Oberfläche durch Abstriche von den berechtigten Forderungen der Arbeiterklasse übertüncht werden kann, sondern wo diese Unvereinbarkeit so tief im Grundsätzlichen wurzelt, daß die Gegensätze zweier konträrer Ideologien nicht mehr im Wege des ansonsten üblichen Kompromisses überbrückt werden können.

Das ist natürlich durchaus legitim, muß daher für beide Seiten akzeptabel sein und ist letztlich auch gut so: denn jede Bewegung lebt und stirbt mit der Glaubwürdigkeit, mit der sie die Grundsätze ihrer Ideologie praktiziert und realisiert. Ich konzediere das der Ideologie des Kapitalismus ebenso, wie ich es meinerseits für die Ideologie des Sozialismus in Anspruch nehme, und ich bitte, mich hier wörtlich und vollständig zu zitieren, ehe ich morgen in der bürgerlichen Öffentlichkeit wieder einmal undifferenziert als Totengräber der Sozialpartnerschaft verteufelt werde!

Selbstverwaltung tot?

Mitbestimmung bringt noch keine Änderung der Verfügungsgewalt über das Eigentum in Form von Kontrolle und Einflußnahme. Heute mehr denn je stellt sich die Frage nach Mitbestimmung in allen Formen bis zur Selbstverwaltung. Den Gefahren des »Produzentenkapitalismus«, eines Betriebsegoismus, der entstehen kann, kann man dabei durch die politische Vergesellschaftung und durch die Schaffung einer lebendigen Öffentlichkeit begegnen.

Selbstverwaltungsmodelle sind ein neues Organisationsprinzip, bei dem die Belegschaftsmitglieder kollektiv zu Eigentümern werden. Sie sind auch etwas anderes als die Verstaatlichte, wo der Eigentümer der Staat ist.

Die Genossenschaftsbewegung ist als Arbeiterbewegung tot, vielleicht erlebt sie in dieser Form jetzt wieder eine Renaissance. Das neue Wirtschaftsprogramm der SPÖ fordert: »Möglichkeiten zur Fortführung eines Betriebes durch die betroffenen Arbeitnehmer sind zu prüfen.«

Die technologische Entwicklung, die Forderung nach einer »Humanisierung der Arbeitswelt« bedingen die stärkere Konzentration auf die Mitbestimmung des einzelnen Arbeitnehmers. Gerade in diesem Zusammenhang ist Otto Bauers klare Formulierung auf dem Parteitag im Jahr 1930 heute ebenso aktuell wie damals: »War die Rationalisierung die Antwort des Kapitals auf den Achtstundentag, so mußte die weitergehende Verkürzung der Arbeitszeit die Antwort der Arbeiterklasse auf die Rationalisierung sein!«

OECD: 30 Millionen Arbeitslose

Damals wie heute sehen sich die arbeitenden Menschen weltweit mit einer von ihnen scheinbar unbeeinflußbaren Krise und Stagnation konfrontiert und wieder werden tagtäglich Tausende Lohnabhängige zum Opfer dieses gnadenlosen Mechanismus — bald 30 Millionen arbeitslose Menschen im Bereich der OECD, bereits 10 Millionen im Gebiet der EG, das ist die Ausgangsbasis für die gerade jetzt einsetzenden ersten Schritte in das kommende Zeitalter der Mikroprozessorentechnologie, deren tiefgreifende und umwälzende Beeinflussung der Arbeitswelt die Situation der arbeitenden Menschen in einer Weise verändern wird, die wir heute noch nicht einmal annähernd abschätzen können.

Eines können wir aber schon jetzt mit Sicherheit vorhersehen: wenn wir nicht rechtzeitige und wirkungsvolle Maßnahmen setzen, werden die arbeitstechnischen Vorteile der neuen Produktionsmittel und -methoden sicher nicht den arbeitenden Menschen zugute kommen, sondern wir werden — wenn wir nichts dagegen tun — uns in der Situation wiederfinden, in der gigantischer technischer Fortschritt zur Wegrationalisierung der menschlichen Arbeitskraft im extremen Ausmaß führen wird.

Wir Sozialisten sind aufgrund der historischen Erfahrung der Überzeugung, daß diese uns heftiger denn je bedrohende Situation keine unvermeidliche und unabwendbare schicksalhafte Fügung darstellt, in die wir uns blind ergeben müssen, sondern glauben, daß wir derartige Gefahren durch konsequente Realisierung einer sozialistischen Politik durchaus in ihren Auswirkungen mildern und letztlich einmal überhaupt abwenden können.

Spuren des Marxschen Denkens: Alfred Dallinger mit Arbeitern (März 1981)

Rettung durch Arbeitszeitverkürzung

Eine der wirkungsvollsten Maßnahmen dabei scheint mir die Arbeitszeitverkürzung. Diese — im übrigen von Beschlüssen des ÖGB getragene — Forderung ist wohl die konkreteste und zur Zeit am leichtesten verwirklichbare, wenn man auch aufgrund heftiger Polemiken in den Medien eigentlich daran zweifeln müßte.

Arbeitszeitverkürzung ist der verdiente Anteil der Arbeitnehmer am Produktivitätsfortschritt. Auch der beschäftigungspolitische Effekt ist unbestreitbar. Das beweisen vor allem die Gegner der Arbeitszeitverkürzung selbst, die meinen, Arbeitszeitverkürzung habe keinen beschäftigungspolitischen Effekt, und gleichzeitig betonen, daß wir uns diese in der momentanen schwierigen Situation nicht leisten können.

Das wichtigste Argument gegen eine solche Behauptung ist: Arbeitszeitverkürzung, die nicht zu Neueinstellungen bzw. zur Verhinderung von Freisetzungen führt, also keine Beschäftigungseffekt hat, kostet nichts.

Bereits 1918 stellte Ferdinand Hanusch im Zuge der Verwirklichung des Achtstundentages fest: »Es geht aber in einer Zeit wie die jetzige ist, nicht an, daß auf der einen Seite zehntausend Menschen länger als acht Stunden, zehn und elf Stunden, arbeiten, während andererseits viele Zehntausende Menschen vollständig arbeitslos sind und nicht den nötigen Erwerb zu finden vermögen. Die achtstündige Arbeitszeit ist in diesem Falle keine prinzipielle Frage, sondern sie ist nur eine Notstandsmaßregel und wird natürlich auch nur als solche betrachtet werden können.«

Dieses Zitat stellt den engen Bezug zwischen damals und heute eindrucksvoll her. Damals wie heute haben die Unternehmer doppelzüngig vor Nutzlosigkeit und gleichzeitig vor Kosten gewarnt.

In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, daß auch der Achtstundentag Grundlage für die vielfältige Arbeiterkultur der 1. Republik war. Das gilt auch für die gegenwärtige Situation: um eine lebendige Öffentlichkeit zu schaffen und dem einzelnen Menschen die Möglichkeit zu geben, am gesellschaftlichen Leben regen Anteil nehmen zu können, bedarf es verschiedener Bedingungen. Mehr Freizeit, mehr Zeit zum Erholen, aber auch mehr Zeit für kulturelle, politische und gesamtgesellschaftliche Interessen sind ein weiterer Aspekt für die Realisierung der Arbeitszeitverkürzung.

Wachstum nicht bedingungslos

Als dritten Punkt komme ich zum Begriff »demokratische Rahmenplanung«. Vorausschicken möchte ich, daß die zentralen Lenkungssysteme in Österreich traditionell stark entwickelt sind. Auch dabei wird man aber nach Alternativen suchen müssen. Das bedeutet: qualitatives Wachstum statt quantitativem Wachstum, das bedeutet, daß Umweltbelastungen und Energievergeudung stärker entgegengewirkt werden muß.

Auch die Entwicklung der Technologie ist aus einer anderen Warte zu betrachten, weil sich ihre Funktionen gewandelt haben. Übernahmen ursprüglich die Werkzeuge die Funktion des Organersatzes und dienten sie der Arbeitserleichterung des Menschen und wurden sie als Teil einer rationellen Gestaltung der Arbeit und der Arbeitsorganisation als Möglichkeit anerkannt, um sich von mühevoller Arbeit zu entlasten, so ist von diesen Usprüngen heute nur mehr wenig zu bemerken. Technik dient heute als Herrschaftsmittel, Menschen werden durch sie von der Arbeit ausgeschlossen.

Neben dem Überdenken der Wirtschaftspolitik sind daher auch neue Wege zu beschreiten, wie die einer Neuverteilung der Arbeit, aber auch die der Neuorganisation der Arbeit. Gezielte Wirtschaftsförderung ist dafür eines der Mittel, Arbeitszeitverkürzung ein anderes, Mitbestimmung ein ebenso wesentliches.

Was sind die Perspektiven für eine Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben? Eines ist klar: es wurden bis jetzt noch wenig Alternativen zum Gewinnprinzip entwickelt, ein neues Wertsystem wäre vonnöten. Es gibt einen akuten Mangel an konkreten sozialistischen Reformvorstellungen, vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftsdemokratie.

Dies führt jetzt auch zu einem Mangel in der täglichen Wirtschaftspolitik. Wir müssen uns auf die Vorstellungen, in welche Richtung wir gehen sollen, besinnen. Es muß daher eine offensive wirtschaftspolitische Strategie entwickelt werden. Im Mittelpunkt wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aktivitäten muß der Mensch stehen. Der Wert des Menschen, nicht seine »Verwertung« ist wesentlich.

Von den Pionieren lernen

Die Wirtschaft steht nicht, wie immer wieder behauptet wird, im Dienste des Menschen. In unserer Gesellschaft wird produziert um der Produktion willen, erzeugt wird das, was am meisten Gewinn verspricht und nicht das, was die Menschen am dringendsten brauchen. Bedürfnisse werden geweckt, nicht befriedigt. Die Absatzmärkte, sowohl in den industrialisierten als auch in den unterentwickelt gehaltenen Ländern, sind weitgehend zwischen den den Weltmarkt beherrschenden multinationalen Unternehmen aufgeteilt, Werbung und sonstige Manipulation kann zwar vorübergehend die Illusion neuer, noch unbefriedigter Bedürfnisse wecken, doch im großen und ganzen hat der heute als Wertmaßstab herangezogene Teil der Menschheit ein Vielfaches dessen, was er zu seiner Existenz benötigt — und ebenso ein Vielfaches dessen, was seine weitere Existenz gefährdet.

Wir halten heute bei einem 40fachen Overkill, und dennoch wird heute wieder weltweit mit dem zynischen Argument einer Arbeitsplatzsicherung für weitere Aufrüstung geworben. »Jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit!« sagte Otto Bauer in seinen Thesen zur Kriegsfrage, und: »Nie wieder Krieg!« forderte er — denken wir daran und unterstützen wir alle Kräfte, die aus ehrlicher sozialistischer und humaner Überzeugung für ein Ende dieser Entwicklung eintreten.

Da die Arbeitswelt für die Persönlichkeit des Menschen entscheidend ist, muß ihr besonderes Augenmerk geschenkt werden. Arbeit ist aber in unserer Gesellschaft auch die Grundlage für die Existenz schlechthin. Wir müssen herausfinden, ob wir uns leisten können, in Form von Arbeitslosigkeit »frei von Arbeit« zu sein.

Ich bin dennoch nicht so pessimistisch, wie es nach diesen Ausführungen den Anschein haben mag. Die Vergangenheit lehrt, daß die Geschichte der Arbeiterbewegung ein stetiger Aufbauprozeß ist. Nicht bloß einmal hat die Arbeiterbewegung die Zukunft in ihren Ideen vorweggenommen, wie die fortwirkende Kraft der Gedanken Otto Bauers beweist.

Die Forderungen, von denen ich gesprochen habe, das Besinnen auf die eigentlichen Werte des Lebens, das Rückbesinnen auf die Forderungen der Pioniere der Sozialdemokratie werden uns die Kraft geben, die Schwierigkeiten der Zukunft zu meistern. Denn: »Sind die Vorstellungen erst einmal revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand!«

*) Veranstaltet wurde es vom 4. bis 7. März 1982 von der sozialistischen Jugendinternationale (IUSY) in den Räumen der Karl-Renner-Instituts. Thema war die internationale Krise in Ost wie West und die Antwort der westeuropäischen Linken darauf. Teilnehmer waren u. a. italienische Kommunisten wie Pietro Ingrao (PCI-Leitung) und Bruno Trentin (Chef der italienischen Metallarbeitergewerkschaft), französische Regierungssozialisten, spanische Eurokommunisten, Labour-Linke wie Ken Coates (Russell Foundation), linke deutsche Sozialdemokraten von der Stamokap-Fraktion mit dem Bremer Professor Detlev Albers an der Spitze sowie die Sozialistische Jugend Österreichs als Gastgeber.

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