FORVM, No. 174-175
Juni
1968

Austromarxistische Fußnoten

Zu Otto Bauers dreißigstem Todestag am 6. Juli 1968

Ist der Zeitpunkt für jene Fußnote gekommen, von der Otto Bauer oft und gern sprach? Das Wort von der „Fußnote der Geschichte“ war seine zwischen Scherz und Selbst-Persiflage schwankende Einschätzung der Rolle, die ihm die Geschichte einst zuweisen werde. In hundert Jahren, sagte Bauer gelegentlich mit einem Unterton von Traurigkeit, besonders in den Jahren der heraufziehenden faschistischen Gefahren, wird ein Geschichtsschreiber der Gesamtentwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts und des Sozialismus unsere, die austromarxistische Rolle in Österreich mit einer Fußnote verzeichnen. In der Darstellung der großen Entwicklung der russischen Revolution und des europäischen Kapitalismus, in hundert Jahren, wenn die Entwicklung zum Sozialismus schon viel weiter fortgeschritten sein wird, werden wir — meinte Bauer — in einer Fußnote erwähnt werden: die österreichischen Sozialdemokraten, die Austromarxisten haben in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts das Richtige versucht, die Kombination von Sozialismus und Freiheit ...

Bauer-Renaissance

Ist die Zeit für die „Fußnote“ bereits gekommen? Dreißig Jahre nach Otto Bauers Tod am Tiefpunkt der Bewegung, blicken wir auf eine Zeit zurück, in der Bauer fast in Vergessenheit zu geraten drohte, und im Kalten Krieg, in der Zeit des Automobil- und Eisschrank-Wohlstandes, in der Periode der scheinbaren Nivellierung der Klassengegensätze, seine Ideen bestenfalls veraltet erschienen. Soweit die Erinnerung an sein Werk und seine — zum größten Teil nicht mehr verbreiteten — Schriften nicht beiseitegeschoben wurde, war er zu einer Figur verblassender Traditionen geworden. Nun beginnt nicht nur die Erinnerung an ihn wieder aufzuleben. Seine wissenschaftlichen Arbeiten, der Schwung des Idealismus, den er zu verbreiten verstand, seine politischen Leistungen, vor allem aber sein weltpolitischer Ausblick fängt nun wieder an, beachtet zu werden. Erleben wir den Beginn einer Bauer-Renaissance? Dreißig Jahre nach seinem Tode wird Otto Bauer wieder eine lebendige Kraft.

Die Welt von heute ist trotz Bauers zum Teil prophetischer Ahnung des Zweiten Weltkrieges — den er nicht mehr erlebte —, trotz seinen zum Teil realistischen Vorstellungen von der Kräftegruppierung nach dem Zweiten Weltkrieg doch eine andere Welt. Es ist billig, nachzuweisen, daß die Entwicklung zum Sozialismus, wie sie Bauer auf Grund marxistischer Analyse als unausweichlich annahm, anders verlaufen ist. Es ist ebenso leicht, darauf zu verweisen, daß Bauer einen revolutionären Abschluß des Zweiten Weltkrieges durch eine Erhebung der deutschen Arbeiter gegen Hitler erwartete. Die Entwicklung der Naturwissenschaften, vor allem der Beginn des Atomzeitalters mit seinen politischen und wirtschaftlichen Wirkungen schufen neue Tatsachen, die Bauer nicht mehr erlebte und die niemand ahnen konnte. Bauer konnte die beherrschende Stellung, die die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in der Welt nach dem Ende des Krieges erreichen würden, nicht vorausahnen, ebenso nicht die Veränderungen in Struktur und zyklischem Ablauf der amerikanischen Wirtschaft nach den grundlegenden Reformen des amerikanischen Kapitalismus während der großen Depression der Dreißigerjahre.

All dies und vieles andere, was zu erleben und zu erforschen Otto Bauer versagt blieb, bestimmte das große und kleine Weltgeschehen ebenso wie die Entwicklung der sozialistischen Parteien und des Bolschewismus. In der Tat, soviel Otto Bauer in seinem letzten großen Werk „Zwischen zwei Weltkriegen?“ über die Zukunft zu sagen wußte — die Welt dreißig Jahre nach Bauers Tod ist eine neue Welt.

Aber gerade ihre komplizierten dialektischen Wendungen haben nun wieder vieles von dem bestätigt, was Bauer vor dreißig und mehr Jahren über den Trend der Welt und der sozialistischen Bewegung dachte. Viele der gegenwärtigen Enttäuschungen, viele der neuen weltpolitischen Tatsachen haben Bauers Gedanken und Ideale und — sosehr sie in den letzten drei Jahrzehnten auch umstritten sein mochten — seine politischen Methoden und seine internationale Politik wiederum verlebendigt.

Marxistischer Idealismus

Für Otto Bauers Politik und für seine Theorie, für den Austromarxismus im allgemeinen, zumindest wie er von Otto Bauer repräsentiert wurde, war nicht nur eine eigenartige Mischung von revolutionären und reformerischen — um nicht zu sagen reformistischen — Gedanken kennzeichnend, sondern auch eine Verbindung des Marxschen Materialismus mit starkem idealistischem Glauben an den Sozialismus.

Die sozialdemokratische Politik von 1918 bis 1934 war durch zähes Festhalten an sozialpolitischen und wirtschaftlichen Fortschritten gekennzeichnet. Keine andere, noch so reformistische Partei seiner Zeit war in der Lage, auf größere praktische Erfolge hinzuweisen, besonders wenn man die Armut und Unstabilität der österreichischen Wirtschaft in dieser Zeit berücksichtigt. Es ist bisher geschichtlich unwiderlegt geblieben, daß dieses beinahe kompromißlose Festhalten an den Alltagserfolgen der Arbeiter und Angestellten mehr als alle anderen Elemente der Politik, für die Bauer die Verantwortung trug, die Abkehr der bürgerlichen Klassen von der Demokratie verursachte.

Aber mit dieser praktischen Politik der Unnachgiebigkeit in sozialen und wirtschaftlichen Fragen verband sich ein idealistischer Schwung, der in Bauers starkem sozialistischem Glauben zum Ausdruck kam. Die eine Seite des „Austromarxismus“ war die Überzeugung von der Vorherrschaft materieller Klasseninteressen, die zum großen Teil die praktische Politik bestimmte. Die andere Seite war aber ein vom historischen Materialismus zum Teil bestärkter, zum Teil wiederum von ihm unabhängiger Glaube an das sozialistische Ideal — oder an Ideale überhaupt.

Wie würde heute Otto Bauers Sprache — der Gegenwart angepaßt — auf junge Menschen wirken! Das ist die große Frage in den letzten Jahren und besonders in den letzten Monaten und Wochen, von der Universität in Berkeley an der Westküste Amerikas bis zur Columbia-Universität und von da nach Paris, Berlin, Prag, Warschau, Wien: Warum geht durch die Jugend aller Länder, der westlichen wie der östlichen, eine solche tiefe Unzufriedenheit, eine scheinbar inhaltslose Rebellion? Es ist die Revolte gegen eine Welt ohne Ideale im Westen wie im Osten, gegen eine Versklavung durch rein materialistische ‚‚Werte“.

Der Bauersche Idealismus, der eine ganze Generation beflügelte und der nicht nur sein persönlicher Idealismus, sondern der Glaube an die Zukunft und an geschichtliche Aufgaben war — das ist das der Gegenwart entschwundene Land, nach dem nicht nur junge Menschen suchen.

Dieser Idealismus kann nicht von heute auf morgen wieder hervorgezaubert werden, nachdem er unter vielen Schichten des verschiedenartigsten Materialismus vergraben blieb, noch dazu in einer Zeit, in der die Verlockung der materiellen Güter so verderbliche Wirkungen hat. Aber gerade in dieser Zeit wirkt Bauers moralischer Appell an die großen Menschheitswerte doppelt stark.

Die Proteste der jungen Menschen, welche konkreten Gründe oder Anhaltspunkte sie haben mögen, entspringen überall denselben tieferen Gründen — der Verachtung für die ältere Generation, die der jungen Generation eine klägliche Welt übergibt.

Integraler Sozialismus

Da Bauers Gedanken um die Arbeiterbewegung kreisten, beschäftigte ihn immer und fast ausschließlich der Gedanke ihrer Einigung. Er dachte an einen Prozeß, der wiederum zu einer Angleichung oder zumindest einer Annäherung der verschiedenen Zweige einer seit Beginn des Ersten Weltkrieges gespaltenen und durch die bolschewistische Revolution zerklüfteten Weltarbeiterbewegung führen könnte. In seinem letzten großen Werk sah er als die große Chance nach dem Zweiten Weltkrieg eine Integrierung der Arbeiterbewegung. [1] Noch im Januar 1938, wenige Wochen vor der Besetzung Österreichs durch die Hitler-Armee, wenige Monate vor seinem Tode, beschäftigte sich Bauer in einem Artikel ‚‚Die internationale Politik und die Politik der Internationalen“ mit den Erfordernissen des Kampfes gegen Hitler und der Aufgabe, die die internationale Arbeiterbewegung in der verzweifelten Lage der Welt habe — die westlichen Demokratien zu einer Kooperation mit der Sowjetunion gegen das Dritte Reich zu zwingen.

Bauer wandte sich in diesem Zusammenhang auch gegen die Vorurteile, die gegen die Sowjetunion bestünden, und gegen die ernsten Argumente, die gerade in dieser Zeit der Stalinschen „Säuberungs-Prozesse“ gegen die Politik der Sowjetunion gebraucht würden:

... Wir müssen uns vor der sehr ernst gewordenen Gefahr hüten, daß der Haß gegen Stalin den internationalen Sozialismus unfähig mache, die Aufgaben zu erfüllen, die der Kampf gegen die Kriegsgefahr uns heute auferlegt und der Krieg gegen die Weltmacht des Faschismus uns morgen auferlegen kann ...

(Der Kampf, Januar 1938, S. 3.)

Zwei Jahre vorher, in der Einleitung zu „Zwischen zwei Weltkriegen?“ hatte Bauer (am 11. Februar 1936) geschrieben:

... Seither (seit 1931, der Veröffentlichung des Buches von Otto Bauer, „Rationalisierung — Fehlrationalisierung“; der Verf.) hat die Geschichte ihre Entscheidung gefällt. Der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion ist vollkommener, als ich es im Jahre 1931 erwartet habe, gelungen. Die Demokratie ist in Mitteleuropa erlegen. Wir müßten blind sein für weltgeschichtliche Tatsachen, wenn diese großen beiden Erlebnisse unsere Ansichten über den Weg zum Sozialismus nicht beeinflußten ...

Pro Sowjetunion

Bauer verstand die geschichtliche Notwendigkeit, die die westlichen Demokratien und die Sowjetunion zu einem Kriegsbündnis gegen Hitler zusammenschloß, und er sah den Gesamt-Fortschritt in der Sowjetunion zu einer Weltmacht voraus. Mag sein, daß er in bezug auf die Sowjetunion und die sich auch unter ihren Intellektuellen immer stärker regenden Bestrebungen um geistige Freiheit zu optimistisch urteilte und die Dauer des geistigen Befreiungsprozesses unterschätzte. Er verläuft in der Tat nicht eindeutig, nicht ununterbrochen und nicht gleichförmig.

Und doch — wenn all dies in Rücksicht gestellt wird, hat Bauer in der großen geschichtlichen Linie nicht, dreißig Jahre nach seinem Tode, recht behalten? Die immer stärker werdenden geistigen Ansprüche auf Freiheit unter den Intellektuellen im kommunistischen Raum, die Liberalisierung in der Tschechoslowakei, die außenpolitische Selbständigkeit Rumäniens — von den nun 20 Jahre alten unabhängigen sozialistischen Tendenzen Jugoslawiens nicht zu reden — sind Beweise dafür, daß in der großen geschichtlichen Perspektive Bauer recht behalten hat.

Was er besonders in seinen letzten Jahren von der Annäherung der verschiedenen Richtungen der Arbeiterbewegung erhoffte, ist nicht eingetreten. Und doch ist die Kluft geringer geworden. Was zu Bauers Lebzeiten in Österreich noch ein Grund zum Ausschluß aus der Partei war, Reisen nach der Sowjetunion und Kontakt mit ihren Arbeiterorganisationen oder ihren Intellektuellen, ist nun seit Jahren eine Selbstverständlichkeit. Auch Reisen in umgekehrter Richtung sind für niemanden in der westlichen Welt ein Gegenstand des Schreckens.

Der Annäherungsprozeß, den Bauer nur für die Arbeiterbewegung erhoffte, ist in Wirklichkeit in einem anderen, viel weiteren Bereich, verwirklicht worden. Amerika und die Sowjetunion sind einander ähnlicher geworden. Die ‚‚Ent-Polarisierung‘‘ vollzog sich aber nicht nur zwischen den beiden Giganten, die einander durch die Balance des Terrors, die ungeheuerlichen Arsenale an Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu einer Politik der Zurückhaltung und Vorsicht zwingen, sondern auch im europäischen Raum. Hier ist zwischen Ost und West so etwas wie ein neues europäisches Bewußtsein entstanden. Die beiden Teile Europas ebenso wie die westliche und die östliche Hemisphäre sind voneinander nicht mehr so verschieden.

Die beiden Wirtschaftssysteme, so entgegengesetzt sie in Einzelheiten sein mögen, stehen einander nicht mehr in unversöhnlichem Gegensatz gegenüber. Dies ist nicht ‚‚der integrale Sozialismus“, der Bauers Vorstellungen in seinen letzten Lebensjahren beherrschte. Aber weltgeschichtlich gesehen, hat Bauer auch hier die Entwicklung vorausgeahnt.

Dabei hat Bauer niemals daran gedacht, die Grundideen des freiheitlichen demokratischen Sozialismus preiszugeben, so sehr er gerade nach dem Zusammenbruch der Demokratie in Mitteleuropa für die Beständigkeit des sowjetischen Systems Verständnis entwickelte. Gerade seine Überzeugung von den ewigen Werten der menschlichen Freiheit erlebt jetzt eine Renaissance.

Sie erstreckt sich nicht nur auf das geistige und politische Gebiet. Was in den von Schwierigkeiten heimgesuchten kommunistischen Wirtschaften versucht wird, um den Produktionsprozeß wieder in Gang zu bringen, greift auf Gedanken zurück, die Bauer in seinen Sozialisierungsplänen entwickelt hat. Mitten in den Revolutionstagen 1918, als Bauer unter den größten Schwierigkeiten die Außenpolitik der neugeborenen österreichischen Republik zu leiten hatte, fand er noch Zeit, mit einigen genialen Federstrichen das Bild einer demokratisch-sozialistischen Wirtschaft zu entwerfen. Aus Artikeln, die er im November und Dezember 1917 in der ‚‚Arbeiter-Zeitung“ veröffentlichte, entstand die Schrift, die in ganz Europa als Entwurf eines demokratischen Wegs zu einer sozialistischen und doch freien Wirtschaft Beachtung fand.

Wirtschaftsdemokratie

Liest man sie heute, so glaubt man die Vorschläge zu lesen, die seit Jahren in Jugoslawien für eine Reorganisierung der Wirtschaft und die Erhöhung ihrer Produktivität und Rationalität angewendet wurden. Sie sind gegenwärtig die Basis des Reformplanes, den man in der Tschechoslowakei anwenden will, um die lähmenden Schäden der staatlich-kommunistischen Wirtschaftsbürokratie auszumerzen. Bauer sagte 1918:

... Wer soll nun die vergesellschaftete Industrie verwalten? Die Regierung? Durchaus nicht! Wenn die Regierung alle möglichen Betriebe beherrschte, dann würde sie dem Volk und der Volksvertretung gegenüber allmächtig; solche Steigerung der Macht der Regierung wäre der Demokratie gefährlich und zugleich würde die Regierung die vergesellschaftete Industrie schlecht verwalten; niemand verwaltet Industriebetriebe schlechter als der Staat. Deshalb haben wir Sozialdemokraten nie die Verstaatlichung, sondern nur die Vergesellschaftung der Industrie gefordert ...

(Otto Bauer: „Der Weg zum Sozialismus“. 12. Auflage. Volksbuchhandlung, Wien 1921).

Wie prophetisch ist Bauers Meinung über die Gefahr der bürokratischen Wirtschaft für die Freiheit! Die Gemeinwirtschaftlichen Anstalten, die Bauer als Staatssekretär für Sozialisierung 1919 als neue Unternehmungsform durchsetzte, sind eine Vorahnung der selbständigen Unternehmungen, die nun, 50 Jahre später, in Jugoslawien wirtschaftliche Erfolge verzeichnen und in der Tschechoslowakei eines der Hauptstücke der Wirtschaftsreform sind. Bauer hat in der Tat den Plan entworfen, der auch auf wirtschaftlichem Gebiet Demokratie und Sozialismus zu vereinigen sucht.

Verwaltung der wirtschaftlich selbständigen und zur Rechnungslegung verpflichteten Unternehmungen durch einen aus Vertretern der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der Konsumenten und — nur zu einem Drittel — des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften zusammengesetzten Vorstand ist eine der Ideen, die Bauer vom englischen Gilden-Sozialismus übernahm und die nun in der Tat ihre Wiedergeburt erleben.

Rassen als Klassen

Aber Gedanken, die Bauer in seinen Schriften und in seiner Politik entwickelte, erleben ihre Renaissance nicht nur in Europa. In weiten Teilen Europas scheint das Klassenbewußtsein erstorben zu sein, weil der wirtschaftliche Aufstieg in der Wohlstandsgesellschaft soziale Unterschiede nivelliert oder ihre politische Auswirkung verringert; es ist unmodern, ja unziemlich geworden, von Klassengegensätzen zu sprechen. Aber wer die Negerbewegung in Amerika verstehen will, wird zu Bauers Klassentheorie zurückkehren müssen. Die Wendung der Negerführer, vor allem der auf friedliche Negerbefreiung bedachten Männer, wie des ermordeten Martin Luther King, zum „Kampf gegen die Armut“ bedeutet, daß nun der Finger auf die wirkliche Wunde gelegt wird, auf das wirtschaftliche und soziale Elend unter den Massen der Neger, die von dem Wirtschaftsaufstieg der amerikanischen Gesellschaft ausgeschlossen sind oder beim Aufstieg weit hinter den Weißen zurückblieben.

In seinem genialen Erstlingswerk ‚‚Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ definierte Bauer nationalen Haß als Klassenhaß und erklärte die nationalen Gegensätze in der österreichisch-ungarischen Monarchie mit den Klassengegensätzen und den durch sie bedingten tiefen sozialen Unterschieden zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen. Die „Konkurrenz“, die die schärfer ausgebeuteten und anfangs noch schlechter organisierten slawischen Arbeiter als Lohndrücker den deutschen Arbeitern bereiteten, war in Bauers Schilderung der Entwicklung der Nationalitäten- und Klassenprobleme der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung des alten Österreich.

Setzt man in Bauers Buch, das 1905 geschrieben und 1907 veröffentlicht wurde, an die Stelle der Bemerkungen über die geschichtslosen slawischen Arbeiter das Wort ‚‚Neger“ — und an Stelle der Bemerkungen über die bevorzugten Deutschen in Österreich das Wort „Weiße“, dann findet man eine Erklärung der sozialen und Rassenunruhen im heutigen Amerika.

Dies gilt auch von anderen Entdeckungen aus Bauers Frühzeit. Das Erwachen der ‚‚geschichtslosen Nationen“ in Südslawien und auf dem Balkan war, weit über den Kreis der Sozialdemokratie, auch unter zünftigen Wissenschaftlern eine viel beachtete Feststellung Bauers. Die geschichtslosen Nationen Zentral- und Südosteuropas und Vorderasiens sind inzwischen zu geschichtlichen Akteuren geworden. In dieser Beziehung mag die Theorie von den geschichtslosen Nationen in Europa veraltet sein. Aber wir leben heute in einer Welt, in der in weitaus weiteren Bereichen, als Bauer es je erträumen mochte, geschichtslose Nationen auf den Schauplatz der Geschichte treten. Wer ihre Probleme verstehen und ihre Schwierigkeiten bewerten will, muß auf die Methoden zurückgreifen, die Bauer vor 60 Jahren in seinen Nationalitätenstudien entwickelte. Sie sind nun ebenfalls in anderen Kontinenten und unter Umständen, die von denen des alten Österreich-Ungarn durchaus verschieden sind, wiederum lebendig geworden. Die Bauersche Renaissance erstreckt sich auch auf die jüngsten Teile der gegenwärtigen Welt.

[1Vgl. Hermann Mörth (†), Traum vom einen Sozialismus, FORVM Oktober/November 1965.

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