FORVM, No. 216/I/II
Dezember
1971

Berlin: Ein Verlag wird ruiniert

Die Geschichte der politischen Zensur (siehe: Albrecht Götz von Olenhusen, Politische Literatur und Politische Justiz, Frankfurter Hefte 6/71) zeigt, daß Zensur von Büchern stets beginnt, seit Dreyfuß, bei Texten, die von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden. In diesem Windschatten handelt die Justiz. Der von Olenhusen geschilderte Fall (wiederum Marighelas Buch, das als vervielfältigter Druck im Februar 1971 verboten wurde, als Rowohlt-Taschenbuch aber seit April frei verkauft wird) belegt auch, daß die Justiz schrittweise vorgeht: zuerst Kleinverlage, dann mittlere und erst danach, nach Öffentlicher Duldung dieser Fälle, auch große Verlage. Wer nicht blind ist, sieht, daß die Justiz im Augenblick bei Schritt zwei ist:

Beschlagnahme des Rotbuches 29 des Verlages Klaus Wagenbach, Berlin: Kollektiv RAF, Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa. Auflage: 7000. 84 Seiten, DM 3,50, am 28. Oktober, aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts Tiergarten vom 26. Oktober. (Amtsgerichtsrat Biedermann).

Der Beschluß inkriminiert das gesamte Buch summarisch auf 27 (!) Zeilen, davon 5 Zeilen Zitat. Längere Zitate wurden offensichtlich unterlassen,

  1. weil zahlreiche Passagen in der Tagespresse bereits zitiert worden waren;
  2. um dem Verlag die Anfechtung des Beschlusses zu erschweren.

Der Verlag wollte mit der Publikation dieses Buches der einseitig kriminalisierenden Berichterstattung begegnen und Hinweise für eine gründliche Diskussion der Theorien dieser Gruppe geben: Wer das Wort „Revolution“ druckt oder auch nur in den Mund nimmt, muß sich gefallen lassen, über seine konkreten Vorstellungen von einer Revolution in Industriestaaten befragt zu werden. Genau diese Fragen stellt das Buch und gehört damit in einzelnen Passagen (z.B. Jugend als Klasse) ohne Zweifel zu den wichtigsten Publikationen der letzten Jahre. Die Antworten, die das Buch gibt, sind sehr schwerwiegend, gewiß, gehen aber in der (besonders inkriminierten) Gewaltfrage weder über Marx, Lenin oder Mao hinaus, noch über das zur gegenwärtigen Situation in Westeuropa Gesagte von Glucksman, Gorz, Russell oder Sartre. Die Staatsanwaltschaft ist oder tut ahnungslos; jedenfalls vertraut sie auf die Unkenntnis darüber, was alles zu dieser Frage in den letzten Jahren erschien, in vielen Verlagen.

Ebenfalls am 28. Oktober weigerte sich die Deutsche Bundespost, 40.000 Exemplare des Wagenbach-Almanachs „Das schwarze Brett“ zu befördern, weil zwei Seiten nach der Postordnung gegen das „Öffentliche Wohl oder die Sittlichkeit“ verstießen. Dies war der ökonomisch schwerwiegendste Angriff. Es handelte sich um die Information der Freunde des Verlages, die diese Zusendung schriftlich verlangt hatten. Der Almanach erscheint einmal im Jahr und informiert über alle neuen (1971: 23) und alten Titel. Erreicht er die Leser nicht, so bleibt ein Großteil der bereits an den Buchhandel gelieferten Exemplare liegen und wird dem Verlag später zurückgesandt.

Der Verlag legte durch Rechtsanwalt Otto Schily Widerspruch ein, dem auch stattgegeben wurde. Der Zweck wirtschaftlicher Schädigungen war dennoch erreicht (Schriftsatz, Anwaltskosten, Zeitaufwand, Börsenblattinformation, Lieferverzögerung).

Schließlich erfolgte die Beschlagnahme des „Roten Kalenders 1972 für Lehrlinge und Schüler“ (Auflage: 65.000. 128 Seiten, DM 2,—) am 8. November, aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts Tiergarten vom 4. November (Oberamtsrichter Filzinger). Am 2. November rief im Verlag der Springer-Inland-Dienst an, um sich zu erkundigen, wann der Kalender erschienen und (wörtlich!) warum er noch nicht verboten sei. Ab Mittag desselben Tages folgten konzentrierte Angriffe der Springer-Presse. Als Staatsanwalt Weber, der am 8. November mit zahlreichen Polizisten den Verlag besetzte, auf diesen Zusammenhang hingewiesen wurde, erklärte er, das sei ihm peinlich, aber er habe das Buch schon am 2. November nachmittags erworben. Als er darauf hingewiesen wurde, daß der Springer-Inland-Dienst am Vormittag desselben Tages bereits angerufen habe, schwieg er und bekam ausdrucksvolle rote Ohren. Der Beschluß beweist außerdem an einer Stelle, daß die Staatsanwaltschäft der Springer-Denunziation gefolgt ist. Man kann der Staatsanwaltschaft nicht das Recht bestreiten, die Tagespresse heranzuziehen, sondern wegen der Interessenlage:

  1. muß sich die Staatsanwaltschaft eine Kritik der Quellen ihrer Strafanträge gefallen lassen, zumal wenn es immer die gleichen sind;
  2. haben alle Quellen der Staatsanwaltschaft in diesem Fall ihre Interessenlage verschwiegen: im „Roten Kalender“ wird der Springer-Konzern mehrfach angegriffen.

Es wurde auch ein Ordner beschlagnahmt, in dem der Verlag Pressestimmen zur Beschlagnahme von Rotbuch 29 gesammelt und eine Sammlung vorher erschienener Auszüge begonnen hatte, als Material für den juristischen Einspruch. Die Beschlagnahme des Materials diente klar der Erschwerung dieses Einspruchs.

Ein Fotograf des „Spiegel“ wurde daran gehindert, im Verlag Aufnahmen zu machen und, als er den Abzug der Polizei auf der Straße fotografieren wollte, nicht nur wiederum daran gehindert, sondern vorsorglich verhaftet und abtransportiert.

Im „Roten Kalender“ wurde ein Katalog inkriminiert: „Was man alles machen kann“, eine Aufforderung, sich organisiert gegen Unterdrückung zu wehren. Die Unterstellungen der Springer-Presse und der Staatsanwaltschaft gegenüber dieser Zusammenstellung (offensichtlich Basis der Anklage) lösen bewußt diesen Zusammenhang. Sie rechnen mit der Unkenntnis über dort aufgeführte Aktionen, die sämtlich schon in Wahrung berechtigter Interessen gemacht wurden und straffrei blieben.

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