FORVM, No. 148-149
April
1966

Besuch bei Frau Djilas

Milovan Djilas mit seiner Frau Stephanie und seinem Sohn Alexis;
1957, zwischen zwei Gefängnisstrafen.
Der Authentizität halber wurde der nachfolgende, in deutscher Sprache niedergeschriebene Bericht in seinem originalen, zur schwedischen Muttersprache des Autors hinneigenden Zustand fast unverändert belassen.

Seit etwa neun Jahren habe ich Kontakte mit Milovan Djilas und seiner Frau Stephanie. In dieser Hinsicht unterscheide ich mich nicht von anderen Auslandskorrespondenten. Ich verfolgte die Ereignisse in Jugoslawien seit Kriegsende, als Vertreter des schwedischen Rundfunks und später auch des Fernsehens, mit dem Sitz in Rom. Ich habe den Bruch zwischen Tito und dem Kominform aus der Nähe beobachtet, desgleichen die spätere Versöhnung mit dem Sowjetblock.

Das erste Mal begegnete ich Milovan Djilas, nachdem ich in Budapest den Aufstand des Jahres 1956 erlebt hatte. Wir sprachen natürlicherweise darüber; es fiel mir auf, daß er den Kommunismus, schon damals, als eine sterbende Ideologie betrachtete — mit mehr oder weniger Lebenskraft in den verschiedenen Ostblockländern, aber überall im selben Prozeß der inneren Verwesung begriffen.

Da er damals schon eine Gefängnisstrafe hinter sich hatte, für das Buch „Die neue Klasse“, und da er neuerlich eine Gefängnisstrafe riskierte für das, was er danach geschrieben hatte, fragte ich ihn, ob es nicht besser wäre, wenn er größere Möglichkeiten hätte, frei zu sprechen, indem er das Land verlasse; desgleichen fragte ich ihn, ob er nicht ins Auge fasse, notfalls wenigstens Zuflucht in einer westlichen Botschaft zu suchen. Er schüttelte energisch den Kopf und sagte: „Mein Platz ist hier und nicht im Ausland. Ein Flüchtling verliert den Kontakt mit der Wirklichkeit seines Volkes. Und man irrt sich, wenn man glaubt, daß man mir den Mund schließen könne durch Drohung mit Gewalt ...“

Ein paar Monate später saß er wieder im Gefängnis von Mitrovica, nicht weit von Belgrad. Dort hat er bisher acht Jahre verbracht, für seine Bücher; fünf weitere Jahre sind noch übrig. Bei jedem Aufenthalt in Belgrad besuche ich seither seine Frau in ihrer kleinen Wohnung im Zentrum der Stadt. Ihre Einsamkeit und Isolierung ist furchtbar. Als ihr Mann das erstemal verurteilt wurde, forderte die Partei von ihr — sie hatte damals einen Vertrauensposten beim Zentralkomitee —, daß sie sich von ihm scheiden lassen solle. Da sie sich entrüstet weigerte, gab man ihr zu verstehen, daß sie in diesem Fall die Konsequenzen tragen müsse.

Die erste Konsequenz war ein gegen sie gerichteter Skandalprozeß, in dem sie sich nur dank einem unerwartet soliden Alibi erfolgreich verteidigen konnte.

Danach lebte sie nur für ihren kleinen Sohn Alexis, der damals erst ein paar Jahre alt war. Alles wurde leer um sie; die einzigen Lichtpunkte sind seitdem die Mitteilungen des amerikanischen Verlegers ihres Mannes, daß dessen Bücher in immer mehr Sprachen übersetzt werden; der monatliche, zensurierte Brief aus dem Gefängnis — mehr Briefe sind nicht erlaubt und jeder darf nur aus einem Blatt bestehen; und der halbstündige monatliche Besuch im Gefängnis. Mutter und Sohn kommen mit Dingen beladen, von denen sie wissen, daß der Gefangene den Wunsch danach hat, und von denen sie hoffen, daß es ihm vielleicht erlaubt wird, seinen Wunsch zu verwirklichen. Leider passiert nur ein kleiner Teil dieser Dinge die Kontrolle. Einmal im Winter, als es dreißig Grad Kälte hatte und sie fürchteten, daß ihm Hände und Füße erfrieren würden — das Gefängnis ist nicht geheizt —, brachte sie ihm ein Paar pelzgefütterter Stiefel, die aber ohne Erklärung zurückgesandt wurden. Ein anderes Mal hatte er den Wunsch ausgedrückt, einen Gipsabguß von der kleinen Hand seines Sohnes in der Zelle zu haben. Sie brachten den Abguß, aber er wurde ohne Erklärung zurückgesandt. Wahrscheinlich befürchtete man, daß in der Gipshand irgendeine unkontrollierte Botschaft verborgen sein konnte.

Auch die Gespräche, die Stephanie Djilas mit ihrem Mann führt, werden genau kontrolliert. Sie dürfen am selben Tisch sitzen, er an dem einen Ende, sie und der kleine Alexis am anderen, aber mit zwei Beamten der Sicherheitspolizei (UDBA) zwischen ihnen. Sie dürfen einander nicht berühren, auch nicht die Hand drücken, aus Furcht, daß Botschaften hinein- oder herausgeschmuggelt werden könnten.

Am Anfang der ersten Haftperiode saß Djilas in einer Isolierzelle, wo die Verhältnisse derartig waren, daß seine Frau befürchtete, er würde in kurzer Zeit zugrundegehen. In reiner Verzweiflung sandte sie damals einen Brief an Nehru, um ihn zu bitten, bei Tito zu intervenieren. Sie wagte nicht einmal zu hoffen, daß der Brief anlangen würde. Er langte jedoch an, ein indischer Diplomat besuchte sie, und die Haftbedingungen wurden für Djilas insofern verbessert, als er mit anderen Gefangenen zusammen sein durfte. Diese anderen Gefangenen sind durchwegs gewöhnliche Verbrecher; einige von ihnen haben offenbar die Aufgabe, ihn zu bespitzeln. Aber ihre Gesellschaft ist immer noch besser als die Isolierzelle.

Bücher auf Toilettepapier

Unter diesen Bedingungen schreibt Djilas seine Bücher im Gefängnis. Er teilt seinen Tag nach einem in allen Einzelheiten feststehenden Schema ein, welches er pünktlich befolgt. Er verfügt über Bücher, darf alle jugoslawischen Zeitungen lesen und ist deshalb insbesondere über das im Bilde, was sich im Ostblock vollzieht. Aber er hat kein Schreibpapier und stellt es sich deshalb selbst her, indem er Toilettepapier in kleine gleichseitige Vierecke schneidet und dies dann mit Scotch Tape zusammenklebt. Darauf schreibt er mit einem altertümlichen Füllfederhalter, der große Kleckse macht. Manchmal ist es so kalt in seiner Zelle, daß er mit Handschuhen schreiben muß. Einige Male war es so kalt, daß er nicht einmal mit Handschuhen schreiben konnte. Die Finger waren derartig von Kältegeschwüren bedeckt, daß er die Füllfeder nicht halten konnte; er mußte eine Pause von einigen Wochen machen, in welchen er sich auf Lesen konzentrierte.

So groß ist die Energie dieses jetzt 55jährigen montenegrinischen Kämpfers, daß er unter solchen Umständen nicht nur mehrere Bücher schrieb, sondern auch, hauptsächlich um seinen Stil in guter Form zu halten und sich etwas Abwechslung zu verschaffen, Miltons „Paradise Lost“ ins Serbische übersetzte.

Voriges Jahr zeigte das jugoslawische Fernsehen ein langes und umständliches Programm zur Erinnerung an den Befreiungskampf, wobei Originalaufnahmen und Filme dieser Epoche benutzt wurden. Im ganzen Land fiel auf, daß Djilas, der doch damals eine der Hauptfiguren neben Tito war, konsequent weggeschnitten wurde, als ob er niemals existiert hätte, auch wenn die Bilder dadurch schief wurden oder schwerverständliche Lücken entstanden; Djilas war ja damals so bedeutend, daß er sich fast immer in der Mitte oder im Vordergrund des Bildes befand.

Als ich diesmal nach Jugoslawien zurückkehrte, war Frau Djilas bereit, in einem Fernsehprogramm etwas über die Bücher zu sagen, die ihr Mann im Gefängnis geschrieben hat und die er für die wichtigsten seines Lebens ansieht; sie dürfen aber nicht aus dem Gefängnis gebracht werden und werden jeweils sicherheitshalber von der Polizei beschlagnahmt, sobald das Manuskript fertig ist. Er hat jedoch das Recht, solche Manuskripte kurzfristig zurückzubekommen für Änderungen oder Bearbeitungen. Ferner wollte sie etwas sagen, das für sie große Bedeutung zu haben scheint: ihr Mann sei im letzten Jahr dreimal vergiftet worden, anscheinend durch Lebensmittel, von denen er aß. Es ist ihr gelungen, zu erreichen, daß er jetzt seine Nahrung aus dem Krankenhaus des Gefängnisses bekommt, aber dies scheint sie doch nicht zu beruhigen. Der Gefängnisarzt, der ihn untersucht hat, meint, daß er an einem Magengeschwür leidet. Stephanie Djilas ist seit einigen Jahren durch eine Nierenerkrankung arbeitsunfähig.

Ehe ich diesmal Kameramann, Filmkamera, Tonbandgerät und Scheinwerfer nach Jugoslawien brachte — auch um einige andere Programme zu machen —, habe ich mich im jugoslawischen Informationsministerium genau erkundigt, welche Genehmigungen notwendig sind, um zu filmen. Die Antwort war: Jugoslawien ist ein freies Land; es sind keine Genehmigungen notwendig, um im Freien zu filmen. Sollte ich aber in jugoslawischen Unternehmungen, z.B. Fabriken oder auch Schulen, filmen wollen, genüge es, dies dem Ministerium mitzuteilen, damit telephonisch ein bestimmter Termin festgelegt werden könne; dies sei eine bloße Formalität. Es schien, als ob man unterstreichen wollte, daß in dieser Hinsicht Jugoslawien sogar großzügiger sei als viele Länder im Westen.

Für die Aufnahme mit Frau Djilas und ihrem Sohn Alexis, der jetzt bereits 13 Jahre alt ist, verbrachte ich einen ganzen Tag von Morgen bis Abend in ihrer kleinen Wohnung, zusammen mit meinem italienischen Kameramann. Um nicht unnötigerweise die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, arbeiteten wir bei geschlossenen Vorhängen mit Scheinwerfern. Frau Djilas hatte uns zuvor eine Wohnung auf der anderen Seite der Straße gezeigt, von der aus die Polizei sie zu beobachten pflegte. Vor Kamera und Mikrophon erzählte sie dann, daß jene zwei Bücher, die Djilas nun im Gefängnis geschrieben hat, die Arbeitstitel „Verlorene Schlachten“ und „Welten und Brücken“ tragen. Das zweite Buch betrachtet Djilas als sein wichtigstes Werk, wichtiger noch als „Die neue Klasse“ und „Gespräche mit Stalin“. Alles darüber konnte er ihr nicht sagen wegen der Anwesenheit der Polizeibeamten während ihrer Gespräche. Aber sie weiß, daß es eine Art von ideologischem Bekenntnis in Form eines Romans ist. Djilas greift dabei sehr weit in die Vergangenheit zurück, um zu zeigen, daß diese Vergangenheit die Bedingung der Gegenwart ist; er zeigt darin weiters, daß diese Gegenwart sich schnell verändert, und zwar in direktem Gegensatz zur marxistischen Ideologie, die er als völlig veraltet ansieht. Schauplatz der Handlung ist seine Heimat Montenegro, die er über alles liebt.

Das Werk enthält auch eine Polemik gegen die Agrarreform in Jugoslawien, die, wie bekannt, auf halbem Wege steckengeblieben ist und niemals die endgültige Kollektivisierungsphase erreicht hat. Der ehemalige Großgrundbesitz wurde aufgelöst zugunsten einer Masse von Kleinwirtschaften, die aber unrentabel sind — genau wie in anderen Ländern, wo solcher Kleinbesitz existiert. Der Privatbesitz hat in Jugoslawien auf dem Lande überlebt, und die Voraussagungen Lenins haben sich als richtig erwiesen: wenn man den Kapitalismus in Form der Kleinwirtschaft auf dem Lande überleben läßt, wird man ihn nie besiegen; er wird immer wieder neuen Kapitalismus erzeugen. Das Dilemma ist jetzt, daß man weder vorwärts in Richtung auf eine wirkliche Kollektivisierung gehen kann, denn dies würde ohne Zweifel eine Bauernrevolution auslösen, noch auch rückwärts in Richtung auf größere und industriell bewirtschaftete Privatbetriebe, die als einzige rentabel sind, wie sich dies z.B. in den skandinavischen Ländern gezeigt hat. Diese Lösung wäre ideologisch zu demütigend für eine kommunistische Regierung. Gerade dieses sonderbare Verhältnis ist der Hintergrund der sehr schweren Wirtschaftskrise in Jugoslawien und der Massenauswanderung nach dem kapitalistischen Westen.

Der 13jährige Alexis Djilas ist ein braver Junge, der nur eine Ambition zu haben scheint, nämlich jene, seines Vaters würdig zu sein. In der Schule hat er die besten Zeugnisse. Sein Vater, den er fast immer nur im Gefängnis gesehen hat, erscheint ihm als eine unwirkliche Gestalt, eine Vision eher als eine Wirklichkeit. Obwohl er das Unrecht, das seinem Vater geschehen ist, mit der ganzen Leidenschaft der Jugend fühlt, interessiert er sich überhaupt nicht für Politik. Der Marxismus-Leninismus, der in der Schule unterrichtet wird, ist ihm nur ein besonders langweiliger Lehrstoff; „für mich ist es nur ein Teil der Geschichte“, fügt er hinzu.

„Sicherheitspolizei!“

Als wir, todmüde, am Abend die Wohnung der Frau Djilas in Richtung auf das große Hotel Metropol verließen, wurden wir in einer dunklen Straße von zwei Wagen langsam überholt, die dann am Bürgersteig vor uns stehenblieben. Aus dem ersten Wagen stiegen fünf Mann mit den Händen in den Taschen. Wir wurden wortlos und im Nu auf allen Seiten von ihnen umstellt; einer von ihnen sagte in gutem Englisch: „Sicherheitspolizei! Kommen Sie mit, wir müssen mit Ihnen sprechen!“ Ich konnte sehen, daß auch die drei Insassen in dem zweiten Wagen bereit waren, notfalls einzugreifen. Um die Stimmung aufzulockern, schlug ich vor, das Gespräch in der Bar des Hotels zu führen, wenn es schon notwendig war. Meine Einladung wurde aber nicht geschätzt. Sehr ernst wurde die Aufforderung, mitzukommen, wiederholt und zugleich rückten die schweigenden Polizisten näher an uns heran.

Es blieb nichts anderes übrig als mitzukommen.

Im Hauptquartier der Sicherheitspolizei (UDBA) fanden wir, obwohl es später Samstagabend war, ein imponierendes Aufgebot von Polizeibeamten, die augenscheinlich auf uns gewartet hatten. Mehrere von ihnen schienen höhere Beamte zu sein und wurden von den übrigen mit größtem Respekt behandelt. Ich wurde sofort von meinem Mitarbeiter getrennt, und man begann, uns separat genau zu verhören; von Zeit zu Zeit wurden offenbar die Resultate der getrennten Verhöre untereinander verglichen. Man fragte mich, warum ich nach Jugoslawien gekommen wäre, was ich bereits gefilmt hätte usw. Ich antwortete wahrheitsgemäß, worauf man mir erwiderte, ich hätte keine schriftliche Genehmigung des Innenministeriums, zu filmen. Die mich verhörenden Beamten zeigten sich erstaunt, als ich ihnen sagte, man hätte mir im Informationsministerium nicht mitgeteilt, daß eine derartige Genehmigung notwendig sei. Schließlich wurde mir mein schwedischer Paß abgenommen, desgleichen meine Rolleiflex, eine Tasche mit Dokumenten und den Tonbändern.

Es war nach Mitternacht, als wir wieder entlassen und ins Hotel gebracht wurden, wo wir sogleich feststellen konnten, daß man inzwischen unsere Zimmer gründlich durchsucht hatte. Am nächsten Morgen mußten wir unsere ganze Ausrüstung aus der Wohnung der Frau Djilas ins Polizeihauptquartier bringen. Frau Djilas zeigte sich nicht überrascht von dem, was geschehen war, ja, es schien, als ob sie erleichtert wäre. „Meine Wohnung ist ja eine Dépendance des Gefängnisses von Mitrovica“, sagte sie. „Aber die Welt muß wissen, was mit meinem Mann passiert; gerade Ihr seid mein Schutz, mein einziger Schutz“, fügte sie hinzu. Als wir wegfuhren, begleitete sie uns demonstrativ bis auf die Straße und nahm mit der allergrößten Herzlichkeit Abschied von uns. Beobachter — es waren sicher mehrere da, und sehr aufmerksame — mußten den Eindruck haben, wir wären engste Freunde der Familie Djilas. Und so fühlten wir uns auch.

Im Polizeihauptquartier wurden wir wiederum stundenlang verhört, wobei man unsere Ausrüstung bis in die allerkleinsten Einzelheiten untersuchte. Schließlich wurden unsere Aussagen auf serbisch schriftlich zusammengefaßt; nachdem man mir den Text übersetzt hatte — ich konnte dies durch meine Russischkenntnisse ungefähr kontrollieren —, wurde ich aufgefordert, das Schriftstück zu unterschreiben. Als ich mich weigerte, wurde mir gesagt, ich könne eine der drei Kopien behalten; daraufhin unterschrieb ich.

Nachdem man uns drei Stunden festgehalten hatte, kam endlich eine Nachricht, auf die alle zu warten schienen; man sprach von einem „Beschluß unserer obersten Behörden“. Es war ein schriftlicher Ausweisungsbefehl, der unterdessen auch in meinen Paß eingetragen worden war, welchen man mir nunmehr zurückgab. Die Ausweisung gab mir genau 17 Stunden Zeit, das Land zu verlassen. Sämtliche Filmrollen, die wir bei Frau Djilas belichtet hatten, wurden beschlagnahmt, desgleichen die Tonbänder. Schließlich verweigerte man mir noch die versprochene Kopie meiner Aussagen.

Als ich gegen den willkürlichen Eingriff in die Informationsfreiheit protestierte und sagte, daß dies das verdiente Echo in der Welt haben würde, wurde mir sehr höflich geantwortet, ich möge dankbar sein, nicht unverzüglich ins Gefängnis gesetzt zu werden.

Während der 17 Stunden, die mir blieben, erkundigte ich mich diskret bei wohlunterrichteten Jugoslawen, die ich gut kenne, was hinter diesen erstaunlichen Maßnahmen stecken könnte. Es wurde mir erwidert, daß die Ursache unzweifelhaft die folgende sein mußte: Die Sicherheitspolizei hatte den Verdacht, daß wir bei Frau Djilas Mikrofilme von Manuskripten ihres Mannes, welche irgendwie aus dem Gefängnis geschmuggelt worden waren, hergestellt hatten, um sie auf diese Weise ins Ausland zu bringen.

In Jugoslawien hat der Machtkampf um die Nachfolge des 74jährigen Tito schon begonnen. Die derzeitige Krise, die nicht nur wirtschaftlich bedingt ist, sondern auch ideologisch und moralisch, hat das Volk erschüttert. Tito hat immer weniger Prestige; die Tausende von Arbeitslosen, die das Land verlassen und in den kapitalistischen Westen gehen, finden es schändlich, daß er in Luxus lebt wie ein Magnat der habsburgischen Monarchie. Eine französische Wochenzeitung, die ihn „den teuersten Diktator der Welt“ nannte, wurde lange Zeit in Jugoslawien verboten. Titos „Kronprinzen“ sind Kardelji und Rankovic, welche einander so wütend bekämpfen, daß in Belgrad zahllose Witze darüber in Umlauf sind. Daß Djilas ein möglicher dritter Kandidat, eine Art von „dark horse“ sein könnte, wird im allgemeinen nicht für wahrscheinlich gehalten, wenigstens derzeit nicht. Aber sein Prestige steigt; er ist der Mann, der es wagt, die Wahrheit zu sagen, was immer es ihn kostet. Er hat moralisch unzweifelhaft eine immer stärkere Stellung, je mehr das Volk von der „neuen Klasse“ enttäuscht wird. Er ist „sauber“.

Der Kaiser ist nackt

Ich habe in der letzten Zeit in Jugoslawien mehrmals gehört, wie Djilas mit dem kleinen Jungen im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern verglichen wurde. Alle bewunderten die schönen Kleider des Kaisers, nur nicht der kleine Junge auf dem Arm seiner Mutter. Er rief laut, daß der Kaiser nackt sei.

Es ist in den letzten Jahren sicherlich zu einer erheblichen Liberalisierung des Landes gekommen. Die Freiheit ist in mancherlei Hinsicht erstaunlich, und die Leute schimpfen, wie man es vor zehn Jahren nicht hätte träumen können. Ja, es hat den Anschein, als ob die Regierung direkt dazu aufforderte, damit man sich auf diese Weise austoben könne. Man kann heute Jugoslawen sagen hören, daß sie sich fühlen, als ob sie lange Zeit einen sehr strengen Vormund gehabt hätten; auf einmal sagt nun der Vormund, daß sie jetzt groß genug sind, um unabhängig zu sein und selbst die Verantwortung zu übernehmen. Aber diese Unabhängigkeit hat einen bitteren Geschmack; sie finden, daß ihr Erbteil zum größten Teil aus Schulden besteht ...

Die zahllosen politischen Witze, die heute in Jugoslawien wie in den anderen Volksdemokratien umlaufen, sind für den, der aus dem Westen kommt, bisweilen schwer zu verstehen; aber manche haben offenkundig eine tiefe symbolische Bedeutung. Einer davon ist der folgende: Anderswo gilt, daß die Revolution ihre eigenen Kinder frißt. In Jugoslawien fressen die Kinder der Revolution die Revolution.

Aber der tiefste Witz ist vielleicht jener von den zwei versiegelten Briefen, die Stalin hinterlassen habe. Auf dem einen stand: „Zu Öffnen, wenn die Partei Schwierigkeiten hat.“ Als man ihn öffnete, stand darin: „Schiebt alle Schuld auf mich!“ Auf dem anderen Brief stand: „Zu öffnen, wenn die Partei sehr große Schwierigkeiten hat.“ Als man auch diesen öffnete, stand darin: „Tut dasselbe, was ich getan habe!“

Das ist das Dilemma der Volksdemokratien. Geht es schlecht, ist es leicht, die Schuld auf den Personenkult und auf Stalin zu schieben. Ist die Gefahr wirklich groß, bleibt der „neuen Klasse“ nichts anderes übrig als wie Stalin zu handeln.

Wofür der Fall Djilas ein annäherndes Beispiel ist.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)