FORVM, No. 119
November
1963

Blamage des Geistes (1933)

Anmerkung des Verfassers: Der im folgenden abgedruckte Vortrag wurde vor genau dreißig Jahren — ganz genau: am 3. November 1933 — im Arbeiterbildungsverein Wien IX (Sensengasse) gehalten. Das Manuskript war mir 1938, nebst vielem andern, abhanden gekommen und ist vor kurzem durch einen nicht weiter relevanten Zufall wieder in meinen Besitz gelangt. Wahrscheinlich überschätze ich diesen Zufall und damit die Wichtigkeit des Fundes. Aber ich glaube nicht, daß die Wichtigkeit des Anlasses überschätzt werden kann. Er ist zum Teil noch immer und zum Teil schon wieder gegeben, zum Teil mit geänderten Vorzeichen, zum Teil mit den gleichen. Was mich zum Abdruck des Textes ermutigt, ist also nicht nur das historische Interesse, das er (ohne mein Verdienst) vielleicht beanspruchen darf, sondern mehr noch die sozusagen historische Kontinuität. Für die geistig-literarische Situation im Jahr der Machtergreifung des Nationalsozialismus gibt es heute zahlreiche Dokumente, die ungleich gültiger sind, als die damals entstandene Spiegelung in den Augen eines 25jährigen es sein konnte. Aber daß von dieser Spiegelung sehr vieles aufrechtgeblieben ist und daß ich von ihrem Ausdruck nur sehr weniges zurücknehmen müßte (und nichts davon mit Scham), verursacht mir eine kleine, wenn auch nicht unbedingt freudige Genugtuung persönlicher Art. Ob sie in sachlicher Hinsicht gerechtfertigt ist, wird der Leser zu entscheiden haben.

Der Leser ist ferner gebeten, sich nach Möglichkeit die Umstände zu vergegenwärtigen, unter denen dieser Vortrag gehalten wurde. Das österreichische Parlament war damals bereits aufgelöst und die Regierung Dollfuß behalf sich mit einem „kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz“. Darauf bezieht sich die Anspielung gleich zu Beginn des Vortrags (er fand, wie alle Veranstaltungen dieser Art, in Anwesenheit eines zensurbefugten Regierungsvertreters statt). Andere im Text enthaltene Anspielungen bedürfen, wie ich hoffe, keiner Erklärung. Irrige Deutungen, das Verhalten des einen oder andern deutschen Schriftstellers betreffend, sind unverändert stehengeblieben; sie waren damals noch nicht als Irrtümer erkennbar (und manche von ihnen sind es bis heute nicht). Selbstverständlich erfolgten auch sonst keine Korrekturen, außer den minimalen stilistischen, wie sie bei der Drucklegung von Vortragstexten unvermeidlich sind.

Der Vortrag wurde Ende 1933 in Preßburg und Anfang 1934 in Brünn wiederholt und jeweils um einige Passagen vermehrt; sie sind im nachfolgenden durch kleineren Druck [hier: durch graue Unterlegung] gekennzeichnet.

Wann eine „Blamage“ vorliegt, läßt sich klar und ziemlich eindeutig sagen. Blamieren kann sich ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen, eine Körperschaft, eine Regierung. Blamiert werden kann, im weiteren Sinn, alles von Menschen Geschaffene. Ein Lehrsatz etwa, oder eine Verordnung, kurz alles, was zum Behuf eines bestimmten Erweises in die Welt gesetzt wurde und diesen Erweis — sei es an einmaligem Anlaß, sei es kontinuierlich — nicht zu erbringen vermag. Je größer die Diskrepanz zwischen dem zu Erbringenden und dem in der Tat Erbrachten, desto größer die Blamage. Die sogenannte „vollendete“ Blamage liegt vor, wenn überhaupt nichts, nicht einmal die Berechtigung zum Antritt des Erweises erbracht werden kann. Beispielsweise bei einem Prüfling, welcher die ihm vorgelegten Fragen nicht bloß nicht zu beantworten weiß, sondern sie offenkundig nicht versteht. Beispielsweise bei einer Regierung, welche mit den ihr zum Zweck des Regierens anheimgegebenen Grundsätzen offenkundig nicht umzugehen imstande ist und auf kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetze zurückgreift. Die vollendete Blamage ist die Unfähigkeit den Voraussetzungen gegenüber.

Als diese Voraussetzungen werden wir, für unser heutiges Thema, den „Geist“ betrachten. Aber so leicht es war, den Begriff der „Blamage“ zu umreißen, so schwer wird es fallen, eine einigermaßen bündige Definition für „Geist“ zu finden.

Nun — wir wollen uns um diese Definition nicht allzu lang bemühen. Sie könnte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein, die aber wahrhaftig zu inaktuell ist, als daß wir ihr heute sonderlich großen Raum zugestehen würden. Es hat wenig Sinn, sich mit grundsätzlichen Begriffen herumzuschlagen, wo es nicht um „Grundsatz“ noch „Begriff“ geht, sondern um die Einheit schlechthin, mit ihrem ganzen Drum und Dran, mit allen Vorstellungen, die sich ihr verbinden. Wir empfinden deutlich genug, daß und wie sehr alles, was wir uns als „Geist“ und „Geistigkeit“ vorzustellen gewohnt sind, diesen unseren Vorstellungen im heutigen Deutschland nicht entspricht. Wir spüren, was Geist ist, so genau aus seinem Nichtvorhandensein oder aus den Manifestationen seines Gegenteils, daß jeder Versuch, in solchem Zusammenhang noch „Definitionen“ zu erklügeln, nur Verwirrung brächte statt Klarheit; daß überflüssige Komplikationen entstünden durch den — in geruhigeren Zeiten gar nicht unberechtigten — Ordnungsruf: dies und das sei doch keine Frage des Geistes, sondern eine Frage etwa der Kunst, der Kompetenz, des Charakters. Mit derlei Einwendungen können wir uns nicht abgeben. Wir sind vielmehr gezwungen, ebenso rücksichtslos wie sein politischer Verfechter ein Totalitätsprinzip anzuwenden, welches keine Vielstaaterei und keine Parteienwirtschaft duldet. Und wir fühlen uns zu dieser Gleichschaltung um so eher berechtigt, als sie ja, wie sich eben in Deutschland gezeigt hat, auf sämtlichen Gebieten des Geistes ohneweiters durchführbar ist.

Sonach wird uns, für heute, als „Geist“ all das festzustehen haben, woher ein gewaltloser Widerstand gegen Hitler hätte kommen können und woher er nicht kam.

Wir sind damit einer Art von Definition sehr nahe gerückt, deren Verläßlichkeit sich schon in den Zehn Geboten bewährt hat (welche so heißen, obgleich sie ja größerenteils Verbote sind): der negativen Definition. Aber wie verlockend es auch sein mag, lapidar zu formulieren: „Geist ist, was es heute in Deutschland nicht gibt“ — so einfach dürfen wir’s uns doch wieder nicht machen.

Denn es gibt ihn, und es gibt sein Drum und Dran, das wir vorhin miteinbezogen haben. Es wird weiter Philosophie getrieben in Deutschland, nicht bloß Wehrwissenschaft und Rassenkunde, sondern ernstzunehmende und ernstgenommene. Die Kunstproduktion hat keine Unterbrechung erlitten, und es wäre albern, behaupten zu wollen, daß Richard Strauss oder Stefan George an Künstlertum eingebüßt haben, weil sie für den Nationalsozialismus Partei nahmen oder der Nationalsozialismus für sie. Zwar wäre denkbar — und ein paar Augenblicke lang wollen wir, indem wir sie aussprechen, uns solcher Märchenvision hingeben —, daß am Tage nach Hitlers Machtantritt alles geistige und künstlerische Schaffen in Deutschland aufgehört hätte, schaudernd aus eigenem Willen oder dahingestorben wie eine Landschaft nach Hagelschlag und Aschenregen ... Doch das ist nicht geschehen. Und man kann nicht einmal sagen: leider. Wir sollen und müssen uns im Gegenteil mit der Möglichkeit befreunden, daß auch im heutigen Deutschland Werte geschaffen werden, und wir dürfen ihnen nicht blindlings jede Aussicht auf Bestand absprechen bloß deshalb, weil es eben das heutige Deutschland ist, in welchem sie entstehen. Die Frage, ob auf diese Werte nicht doch verzichtet werden sollte um den Preis einer derart sinnfälligen Demonstration, wie das Erlöschen aller geistigen Produktivität in Deutschland sie darstellen würde — eine solche Frage ist erstens gefährlich: weil wir die Werte, mit deren Entstehung gerechnet werden muß, nicht kennen und so bald nicht kennen werden. Sie ist zweitens überflüssig: weil diese Werte ja auch dem Nationalsozialismus unbekannt sind und keine Gefahr besteht, daß er sie für sich beschlagnahmt (ganz abgesehen davon, daß sie hierzu vermutlich nicht geeignet wären). Und sie ist schließlich illusorisch: weil sie die soeben als „Märchenvision“ bezeichnete Unmöglichkeit zur Voraussetzung hat, daß ein automatisches Aufhören alles geistigen und künstlerischen Schaffens sich in der Tat ereignen könnte. Es kann sich aber nicht ereignen. An einem bestimmten Punkt tritt der Schaffensprozeß in das Stadium des Absoluten, er muß weitergehen, es ist sein Segen und sein Fluch, daß er das muß — und es wird sich immer wieder nur darum handeln, ob auch sein Ergebnis ein so absolutes ist, daß es jedweder Abhängigkeit sich entzieht.

Bei einem (sehr geringen) Teil des also fortgesetzten geistigen Schaffens in Deutschland wollen wir das, wie gesagt, immerhin für möglich halten. Dieser Teil bleibt aus unseren Betrachtungen ausgeschaltet. Es ist wichtig, das mit aller Klarheit festzustellen, sowohl die Ausschaltung, wie auch daß es etwas gibt, das ausgeschaltet werden muß. Denn einer der aufhauerischen deutschen Proteste gilt ja der angeblichen Arroganz, mit der dem heutigen Deutschland jede Fähigkeit, innerhalb seiner Grenzen Wertvolles entstehen zu lassen, glattweg und nur deshalb abgesprochen wird, weil die bisher als fähig Anerkannten sich größtenteils außerhalb seiner Grenzen befinden. Zwar wurde dergleichen nie und nirgends behauptet, aber bekanntlich genügt der schrumpfgermanischen Rabulistik schon etwas nicht Behauptetes, um das Erwünschte als behauptet hinzustellen. Darum die klare Feststellung. Wir werden die Musik der „Arabella“, weil sie bei ihrer Uraufführung an Ohren klang, deren musikalische Empfänglichkeit im übrigen bis knapp zum Horst-Wessel-Lied reicht, weil sie von Händen beklatscht wurde, die im übrigen den Revolver entsichern, wenn das Wort „Kultur“ fällt — wir werden diese Musik deshalb nicht für schlechter halten. Aber was Hanns Johst und Walter Bloem schreiben, bleibt dann erst recht und vollends ein Bockmist.

Es war vorhin die Rede von einem „absoluten Schaffensergebnis“, das jenseits aller Abhängigkeiten besteht. Wir kommen vielleicht auf den richtigen Weg, wenn wir präzisieren, daß die Schaffensergebnisse der Johst und Bloem in diese Kategorie nicht gehören, und die Johst und Bloem selbst nicht zu den „absolut“ Schaffenden. Das heißt: Schaffen und Schaffensergebnisse einer bestimmten Gruppe von Schriftstellern haben sich seit jeher und bewußt in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben, waren ohne diese Abhängigkeit gar nie denkbar. Denn als was wäre so ein Walter Bloem schon zur Geltung gelangt, wenn er nicht einmal die Charakteristik eines „nationalen“ Schriftstellers für sich hätte in Anspruch nehmen können, und das mit Recht? Hier kann von einer geistigen Blamage nicht die Rede sein, sondern höchstens von einer Diskreditierung des Geistes — die aber schon in der bloßen Existenz und Aktivität der Bloem und Johst beschlossen liegt und kein Novum darstellt. Das Novum besteht lediglich darin, daß jene Kreise, die den Bloem oder den Johst für einen Dichter halten, heute in Deutschland die tonangebenden sind.

Konnten Johst und Bloem den Geist nicht blamieren, weil sie ihn niemals repräsentiert haben, so muß desto behutsamerer Maßstab an eine Kategorie von Schriftstellern gelegt werden, denen man über alle weltanschaulichen Gegensätze hinweg doch immer ein gewisses Niveau zuzubilligen bereit war und deren Qualität durch unser Bedauern über seine nationalistische Tendenz nicht herabgemindert wurde. Mit diesen Schriftstellern hat es eine besondere Bewandtnis. Zweifellos sind sie geistige Menschen. Aber ihr Geist ist — und das kann beinahe optisch und lokal verstanden werden — umnachtet. Um sie ist Nacht, sie leben in Deutschland. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, haben sie eine Nacht von solcher Intensität gar nicht gewollt. Sie wollten das Dämmerige, und die Lyrik verschwimmender Konturen ließ sie der Gefahr eines Todessturzes in unsichtbare Abgründe nicht achten. Nun die Dämmerung zur vollkommenen Finsternis geworden ist, wissen sie nicht ein noch aus. Sie haben sich verirrt, und soweit sie überhaupt noch in der Lage sind, sich Rechenschaft abzulegen, meinen sie, daß der Unterschied bloß ein quantitativer, ein vorübergehender wäre, und aus der Nacht würde bald wieder Abend werden. Um dieses Abends willen nehmen sie die Nacht hin. Sie ist ja nur ein Auswuchs und das Ganze nicht so tragisch. Daß es eine Polarnacht sein könnte, daß ein Morgen und ein Tag sie ablösen muß, kommt ihnen nicht in den benebelten Sinn. Sie sind überzeugt, daß alles so auf dem rechten Wege sei, und sind es mit der ganzen bedingungslosen Ehrlichkeit, die dem Deutschen sprichwörtlich innewohnt und gegen die sich von außen her nichts beweisen läßt, denn die ist selbst schon ein Teil des Mythos, an den sie glaubt. Viele von uns werden dieses Phänomen aus persönlicher Wahrnehmung kennengelernt haben: etwa in der Diskussion mit irgendeinem, an dessen Umgängigkeit und Vernunft sich seit seinem Bekenntnis zum Nationalsozialismus anscheinend nichts geändert hat, der anscheinend derselbe Mensch geblieben ist und anscheinend mit der gleichen Technik, die er früher vielleicht gegen Hitler angewendet haben mag, nun für ihn argumentiert. Doch ist das eben nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich. Und an diesem Punkt wird der andre nicht etwa einsehen, daß er sich verrannt hat, sondern er wird urplötzlich eine Behauptung aufstellen, deren erschreckend voraussetzungsloser Kontrast den ganzen Wahnsinn und die ganze Unmöglichkeit einer Verständigung viel deutlicher offenbart, als wenn er der Diskussion von vornherein unzugänglich gewesen wäre. (Es ist wie in der Anekdote von dem Irrsinnigen, der sich einem Besucher als Anstaltsarzt vorstellt und ihm auf ganz normale Art Auskünfte über die einzelnen Patienten erteilt — bis er mit der gleichen Sachlichkeit auf einen abseits Sitzenden deutet und sagt: „Hier sehen Sie einen besonders gefährlichen Narren. Er glaubt, daß er der liebe Gott ist. Aber der liebe Gott bin doch ich!“)

In solchen Fällen gibt es nur ein Achselzucken. Es ist Kurzschluß eingetreten infolge Gleichschaltung, es geht einfach nicht weiter, es ist aus, und mit tiefem Befremden nimmt man ein Maß von Verwirrung zur Kenntnis, das einen Menschen in die Lage setzt, seine im übrigen völlig intakt gebliebenen Qualitäten mit dem Bekenntnis zu ihrem Gegenteil zu vereinbaren. So, nur so, konnte beispielsweise ein hervorragender deutscher Schriftsteller (einer, den man ohne beleidigende Absicht „feinsinnig“ nennen kann) gesprächsweise erklären: was sich da unlängst in seinem Heimatort zugetragen habe — man hatte auf dem Marktplatz eine fingierte Hinrichtungszeremonie mit einem jüdischen Händler aufgeführt, um ihn dann unter großem Hallo laufen zu lassen —, das dürfe man doch nicht, wie es in ausländischen Blättern geschehen sei, als „Barbarei“ mißdeuten; es wäre (wörtlich) ein bloßer „Faschingsulk“ gewesen, der den Leuten „mächtig Spaß“ gemacht hätte, und wie wenig, ja wie überhaupt nicht sie Barbaren wären, ginge doch daraus hervor, daß sie den Juden in Wirklichkeit gar nicht umgebracht hätten und auch gar nicht hätten umbringen wollen.

Eine sofort zu Kontrollzwecken durchgeführte Lektüre kurz vorher erschienener Novellen dieses Dichters ergab keine Änderung ihres literarischen Wertes. Ein Albrecht Schäfer, ein Hans Carossa ist der gute Schriftsteller geblieben, der er war, auch seine persönliche Integrität hat wohl keine Einbuße erlitten, er ist nicht unter die Opportunisten gegangen und würde gewiß nichts tun, wozu er nicht schon immer imstande gewesen wäre. Er hält Hitler für einen großen Staatsmann und für den Retter Europas vor der Gefahr des Bolschewismus, er hält, was in Deutschland vorgeht, für die zwangsläufig und geordnet sich vollziehende nationale Erneuerung des deutschen, seines eigenen, von ihm geliebten Volkes, und was im Ausland darüber geschrieben wird, sind eben Greuelnachrichten. Er glaubt sie nicht, fühlt sich aber auch nicht gehalten, ihnen entgegenzutreten. Er findet es ebenso natürlich, daß Juden und Marxisten sich gegen Hitler wehren, wie er es natürlich findet, daß das deutsche Volk in ihm den Erlöser sieht.

Es sind sonderbare und fragwürdige Gestalten, die wir da umrissen haben, keine verächtlichen oder hassenswerten. Natürlich wäre es gut und schön, wenn gerade sie Einspruch erhöben gegen die Verzerrung und Verunglimpfung ihrer lauteren Ideale. Aber wir werden noch sehen, wie unbillig es wäre, das zu fordern, und haben uns vorläufig damit abzufinden, daß also Menschen bei sonst völlig unversehrt gebliebenem geistigem Mechanismus bestimmten Vorgängen gegenüber ihre klare Urteilskraft einbüßen. Sie sind darob zu bemitleiden, nicht zu verurteilen. Sie sind unzurechnungsfähig. In einem mittelbaren Effekt sind sie auch gefährlich. Aber sie sind keine Schurken. Es fehlt ihnen eine wichtige Voraussetzung aller Schurkerei: die Berechnung. Sie tun Übles, aber sie tun es bona fide.

Erst wo die Gutgläubigkeit aufhört oder nur noch vorgetäuscht wird, beginnt der Verrat. Und hier sind wir dem, was uns als „geistige Blamage“ vorschwebt, schon ziemlich nahe. Denn es ist eine Blamage des Geistes, daß die Schurken um so häufiger werden, in je höheren geistigen Regionen man sie sucht. Über die geistige Potenz der Bloem und Johst war nichts zu sagen; sie wohnen in derselben Etage wie die Courths-Mahler und schauen nur zu einem andern Fenster hinaus. Auch die zweite Kategorie durfte zur geistigen Rechenschaft nur bedingt verpflichtet werden, und jedenfalls in weit geringerem Ausmaß als zur künstlerischen (der sie sich ja mehr oder weniger gewachsen zeigt).

Nun aber kommt eine Sorte, an deren geistiger Verpflichtung gar kein Zweifel besteht und die tatsächlich geistige Aktivität eingesetzt hat zum Bezug einer Position, in der sie zu sehen auf beiden Seiten gleich große Überraschung hervorruft. Es sind jene Benn und Binding, die ohne Not und ohne Fug als Propagandachefs des Nationalsozialismus fungieren. Ohne Not: denn man hätte sie in jedem Fall ungeschoren gelassen. Ohne Fug: denn wenngleich ihre Haltung bis zum März 1933 sie keineswegs in den Verdacht gebracht hatte, Revolutionäre zu sein, so hielten sie sich doch weitab von dem, was sie „Tagesgetriebe“ nannten. Und nahmen sie schon einmal Stellung dazu, dann eine radikal ablehnende. Dann konstatierten sie vehement: der Dichter habe sich mit derlei gar nicht abzugeben. In seinem 1930 bei Kiepenheuer erschienenen Buch „Fazit der Perspektiven“ brachte Gottfried Benn am Schluß eines Rundfunkdialogs: „Können Dichter die Welt ändern?“ seine Skepsis auf eine Formel, die in ihrer kompromißlosen Eindeutigkeit beinahe schon mutig genannt werden konnte: „Ich fordere für den Dichter nur die Freiheit, sich abzuschließen gegen eine Zeitgenossenschaft, die zur Hälfte aus enterbten Kleinrentnern und Aufwertungsquerulanten, zur anderen aus lauter Hertha- und Poseidonschwimmern besteht. Er will seine eigenen Wege gehen.“

Es muß daran erinnert werden, daß um jene Zeit das literarische Klima solcher Forderung durchaus nicht günstig war, und daß Gottfried Benn, indem er sie aufstellte, zum mindesten Eigenwilligkeit bewiesen hat und, einfach gesagt, Charakter. Gewiß war der Mut, der vor drei Jahren dazu gehörte, sich gegen eine in Deutschland herrschende Strömung zu stellen, ein weitaus geringerer als der, den man zum gleichen Behuf heutigentags besitzen müßte. Gewiß ist es sehr leicht möglich, daß gerade die Differenz in der Mut-Quantität aus dem Charakter von damals den Verräter von heute macht (womit vielleicht ein zentraler Ursachenkomplex der „geistigen Blamage“ angeschnitten ist). Und gewiß würde eine dialektische Beweisführung unschwer dartun können, daß ein Autor, der 1930 gegen den literarischen Kollektivismus auftrat, sich zwangsläufig zum Hitleranhänger von 1933 entwickeln mußte.

Aber damit ist die Sache noch nicht erledigt. Auch mit dem galligen Vorhalt opportunistischer Wandlungsfähigkeit ist nichts getan. Überhaupt muß vom Beschreiten dieses gängigsten aller Auswege nachdrücklich abgeraten werden: nicht nur weil die vermeintliche „Wändlung“ oft genug eine konsequente Entwicklung ist, sondern vor allem deshalb, weil solcher Betrachtungsweise die gleiche verhängnisvolle Geringschätzigkeit zugrunde liegt, mit der man den Nationalsozialismus so lange abzutun versucht hat, bis er an der Macht war. Nun ist er’s, nun verlangt er gebieterisch und mit den Mitteln der Tatsächlichkeit, daß man sich ihm gewachsen zeige, nun ist die Schlagzeile „Hitler verhandelt mit MacDonald“, die vor einem Jahr noch ganz gut in einem Witzblatt hätte stehen können, aktuellster politischer Ernst — und nun müssen wir raschrasch die nachträglichen Beweise dafür herbeikonstruieren, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Daraus schöpft ja die politische Reaktion ein gut Teil ihrer Schlagkraft, daß wir, indessen sie schon so weit ist, erst darüber nachdenken, wie sie so weit kam. Wollen wir der geistigen Reaktion nicht ähnlichen Vorsprung ermöglichen, dann müssen wir sie ernstnehmen, solange sie uns in vieler Hinsicht noch komisch erscheint. Damit, daß man sich über einen Schriftstellerverband lustig macht, dem der Pornograph Hanns Heinz Ewers vorsteht, verbarrikadiert man noch nicht die höchst gefährlichen Wirkungsmöglichkeiten, die so ein Schriftstellerverband besitzt. Welche Verheerungen das Dritte Reich angerichtet hat und anrichtet, das sehen wir bereits. Aber welche Verheerungen seine geistigen Mitläufer anzurichten vielleicht imstande sind, davon haben wir keinen Begriff.

Gleichgültig nun, ob eine Entwicklung vorliegt, eine Wandlung oder, wie die klischierte Satirik es gerne nennt, eine „Bekehrung“ — in jedem Fall sind wir mit dem erstaunlichen Phänomen konfrontiert, daß diese Entwicklung, Wandlung oder Bekehrung durchaus innerhalb der Grenzen erfolgte, die jenen geistigen Menschen vorgeschrieben waren und von ihnen anerkannt, ja sogar ausdrücklich als die ihnen allein gemäßen und gebührenden abgesteckt wurden. Denn keineswegs verhält es sich so, daß der Arzt und Dichter Gottfried Benn auf seine alten Tage zur SA gegangen wäre und jetzt, vom Gemeinschaftserlebnis des Marschierens berauscht, niemals Geahntes als den eigentlichen Daseinskern entdeckt hätte. Nein, im Geistigen und aus dem Geistigen hervor, dort, wo er zu Hause zu sein vorgab und jedenfalls zu Hause blieb: dort war es ihm möglich, sich zum Nationalsozialismus zu bekennen. Nicht einmal an der Exklusivität dieser seiner Geistigkeit hat sich darum etwas geändert. Er vermag ihr, was da vorgeht, ohne weiteres einzufügen, alles stimmt und alles paßt, um kein Jota braucht er von ihr zu weichen, keinen Irrtum braucht er zu gestehen, kein Wort zu widerrufen — Gottfried Benn hat nicht etwa, was zu ihm allenfalls noch passen würde, den Ungeist des Nationalsozialismus vermittels kosmischer Tricks wegeskamotiert und ihn mit hocherhabenem Vaterlächeln als jugendliches Überschäumen irgendwelcher geheimnisvollen Drüsen erklärt, nein: Gottfried Benn selbst ist Nationalsozialist.

Wie konnte das geschehen? Ist denn schon jemals eine Bewegung so sehr die Angelegenheit von Kleinrentnern und Poseidonschwimmern gewesen wie der Nationalsozialismus? Wäre denn die Forderung, in Ruhe gelassen zu werden, irgendwann vorher berechtigter aufgestellt worden als von Gottfried Benn dem erwachenden Deutschland gegenüber? War nicht gerade der Typus Gottfried Benn, dessen Hauptfähigkeit doch darin bestand, sich vor den Anfragen des Tages auf die Ewigkeit weg- und auszureden; der von Eiszeit und Diluvium so sprach wie unsereins vom vergangenen Winter, der doch nur in seiner Nebulosität hätte verharren müssen, um ungefährdet zu bleiben — war nicht gerade dieser Typus berufen, sich vom Nationalsozialismus dermaßen zu distanzieren, daß die losgelassenen Tollhäusler hätten merken müssen: irgendwo gibt es eine Grenze für sie, irgendwo beginnt eine Region, zu der sie nicht hinaufreichen? Mag diese Region in Gottes Namen auch unecht sein, mag Benn sich zu den Gletscherhöhen der letzten Dinge nur emporgeschwindelt haben: es hätte nichts verschlagen. Und es hätte ihn sogar für alle Zeiten rechtfertigen können, wenn er die Horde — ach, nicht etwa in ihre Schranken zurückgewiesen, sondern bloß in die seinen nicht hineingelassen hätte. Gegen Hitler aufzutreten: das hätte man ja gar nicht von ihm verlangt. Oder man hätte sich doch damit, daß er es nicht tat, verhältnismäßig rasch abgefunden. Aber in die braune Schlammflut unterzutauchen wie nur irgendein Poseidonschwimmer: das ist weder mit einem Achselzucken noch mit der für solche Fälle vorgesehenen Portion hämischer Entrüstung abzutun.

Die fixe Erbötigkeit, mit der Gottfried Benn sich den Aufwertungsquerulanten zugesellt hat, ist bis zu einem gewissen Grad seine persönliche Blamage und sein persönlicher Defekt. Aber nicht zur Gänze. Denn er hat diese seine neue Position ja mit geistigen Gründen zu fundamentieren gesucht. Und hätte uns der Abschluß eines solchen Bündnisses durch die Person des Gottfried Benn noch gleichgültig lassen können: daß es ihm gelungen ist; daß auch der Geist sich dazu hergab; daß er den Geist herumzukriegen vermochte auf die finstere Gegenseite; daß er nach wie vor mit ihm paradieren darf und in der Tat paradiert — das erst ist der weit über Benns und Deutschlands Grenzen hinaus bedenkliche Sachverhalt. Das erst ist die Angelegenheit aller, die an den Geist glauben, immer und für alle Zeiten, und heutigentags erst recht: weil sie der Überzeugung sind, daß Geist und Geistigkeit zu dem Wenigen gehören, dessen Hitler sich nicht bemächtigen kann und nie bemächtigen können wird, ja eingestandenermaßen sich zu bemächtigen keine Absicht hat. Eine der ganz seltenen, vielleicht die einzige Selbsterkenntnis des Nationalsozialismus ist ja die vielfältig proklamierte, zumeist als hochmütiger „Verzicht“ getarnte Unfähigkeit, mit dem Geist etwas anzufangen. Nicht denken, sondern marschieren! Exakte Philosophie antreten zum Arbeitsdienst! Kein Tag vergeht, an dem das Dritte Reich nicht kundgäbe, wie wenig es mit dem Geist zu tun haben möchte, wie sehr es ihn verachtet. Und diesem Dritten Reich nähern sich die Benn und Binding, legen ein geistiges Bekenntnis zu ihm ab — und werden akzeptiert.

Was gleichfalls an beinahe jedem Tag in irgendeiner Form sich abspielt, man kommt gar nicht nach. Zwischen der letzten Abhaltung dieses Vortrags und seiner heutigen Wiederholung liegt eine solche Fülle von Ereignissen, daß sie schon wieder das Thema einer gesonderten Betrachtung abgeben könnte. Da haben 83 deutsche Schriftsteller eine Huldigungsadresse an jenen verfaßt, von dem auch sie sich führen lassen wollen, 88, unter denen manch eine Neuerscheinung sich auftut. Da fühlt eine Gruppe nach Paris emigrierter Autoren sich bemüßigt, ein „Bekenntnis zu Deutschland“ abzulegen, zu einem nicht mehr existierenden Dentschland, statt sich zu einem noch nicht existierenden dadurch zu bekennen, daß sie gegen das existierende Stellung nimmt. Da wurde Hitler für seinen Austritt aus dem Völkerbund belobt und gepriesen vom „Verband deutscher Radfahrer“ — nein, das gehört eigentlich nicht hierher (obgleich es den Tatsachen entspricht); es liegt eine Verwechslung vor mit dem Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, der ein gleiches tat ... Da wird, es ist erst wenige Tage her, allen Schriftstellern, die in welcher Form immer auf dem deutschen Markt erscheinen wollen (auch den „nichtarischen“, wie das betreffende Rundschreiben ausdrücklich vermerkt) der Beitritt zu irgendwelchen hartnäckig so bezeichneten „Kultur“Verbänden nicht etwa freigestellt, sondern kommandiert: „Die Anmeldung“, heißt es militärisch knapp und unwidersprechlich, „die Anmeldung hat bis zum 15. Dezember zu erfolgen.“ Und da passiert noch vieles, sehr vieles, was die Linie, auf der das geistige Bekenntnis der Benn und Binding von den Verächtern des Geistes entgegengenommen wurde, geradewegs fortsetzt.

Denn natürlich ist der Verzicht auf den Geist genauso lügnerisch wie alles andre, worauf die Edelmenschen ihre Erlösertätigkeit gründen. Natürlich war er nur eine Präventivmaßnahme für den (immerhin denkbar gewesenen) Fall, daß tatsächlich kein geistiger Mensch sich zum erwachten Deutschland bekannt haben würde. Aber wenn er dann doch kommt, genießt er eine Art Ausländerschutz. Man stellt ihn zwar an keinen repräsentativen Platz, doch bleibt er für den Bedarfsfall in Reserve und kann auf Verlangen vorgewiesen werden — seht her, auch das haben wir, seht her, unser Ungeist ist so stark, daß er, als Antitoxin gewissermaßen, sogar eine kleine Dosis Geist vertragen kann.

Dergestalt bietet die Situation der Benn und Binding sich dar: ein unentwirrbarer Wust aus Dummheit und Lüge, unentwirrbar bis zur Erlogenheit sogar des Ungeistes, und mittendrin, bestenfalls zum Aufputz an Feiertagen geeignet, geistige Menschen, völlig würdelos, bis auf die Knochen ihres bisherigen Drum und Dran entäußert — und dennoch geistig, es kann gar nicht oft genug darauf hingewiesen werden. Sie haben jä ihren Geist keineswegs über Bord geworfen, haben ihn nicht etwa aufgegeben um der Rasse und des Blutes willen. Sondern sie hießen ihn diesen beiden sich unterordnen, sie hießen ihn eine Synthese eingehen mit dem Ungeist, und die Synthese wurde vollzogen, ohne daß sie ihm hätten sonderlich Gewalt antun müssen, nicht Notzucht sondern Hingabe, und das Ergebnis ist obszön genug. Es liegt, wenn man das so sagen kann, ein Fall von geistiger Blutschande vor. Und die Schande wird aber dem Geist anhaften bleiben, nicht dem Blut.

Die auf das Blut pochen, gehen nämlich bei solchem Pakt keinerlei Risiko ein. Sie verfahren mit dem Partner nach Wunsch und Dünkel, und so muß es ja sein: weil der Geist, indem er auf dieses Bündnis einging, sich auch schon als sein schwächerer Teil deklariert hat. Anders hätte es ja gar nicht so weit und so tief mit ihm kommen können.

(Der zweite Teil des Textes erscheint im Dezemberheft.)

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