FORVM, No. 337/338
Februar
1982

Breschnew darf nicht ausflippen

ln Budapest zur Jahreswende las Willy Brandt, Vorsitzender der nach ihm benannten Kommission für Entwicklungshilfe, den Russen die Leviten in Sachen Entwicklungspolitik. Er tat’s auf seine Weise, behutsam und ein bissel umständlich, aber wahrhaft deutlich. Aus seinem Vortrag vor der Ungarischen Akademie der Wissenschaften — im Rahmen der »General Conference of the European Association of Development Institutes« — hier ein Succus.

I. Rüstung bringt Hunger

Die Gegensätzlichkeit zwischen den nuklearen Großmächten und das Wettrüsten überziehen die ganze Welt mit militärisch-strategischen Netzen und verhindern, daß die Entwicklungsländer am Reichtum dieser Erde teilhaben. Anderseits sind die Industriestaaten des Nordens — im Osten wie Westen — nicht in der Lage, die Vergeudung der natürlichen Reserven der Erde und die Verwüstung unseres Planeten zu stoppen. Sie sind nicht in der Lage, den Entwicklungsländern ein Aufblühen zu ermöglichen, obwohl es ihre eigene wirtschaftliche Stabilität fördern würde.

Diese Situation wird künftigen Geschichtsschreibern — wenn wir Frieden soweit bewahren, daß über uns wird geschrieben werden können — als schlechterdings absurd erscheinen. Sie werden unsere Handlungsunfähigkeit unbegreiflich finden. Und die vielen Millionen, die unverschuldet in Not und Hunger leben, werden erkennen, daß es so nicht sein müßte; dies wird viele mit Haß erfüllen.

Gelingt es uns, die Hauptaufgabe zu lösen, die Aufgabe, einen neuen Weltkrieg abzuwenden und einen dauerhaften Frieden zu sichern, so wird das den Erdbewohnern neue großartige Perspektiven eröffnen ... Da ist z.B. die Notwendigkeit, eine Riesenzahl von Menschen mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energie zu versorgen. Denn bis Ende des Jahrhunderts wird die Bevölkerung der Erde nach vorliegenden Berechnungen von 4 auf 6 Milliarden anwachsen.

Da ist ferner die Überwindung der — so finden wir es dort formuliert — vom Kolonialismus verursachten wirtschaftlichen Rückständigkeit der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ... Da ist schließlich der Schutz des Menschen vor zahlreichen Gefahren, die ihm von einer weiteren unkontrollierten technischen Entwicklung drohen, mit anderen Worten: die Erhaltung der Natur für den Menschen.

Diese Worte stammen von Leonid Breschnew. Ich stimme hierin mit ihm weitgehend überein. Ich stimme diesen Sätzen gerade auch deshalb zu, weil sie die genannten Aufgaben in Zusammenhang setzen und als Prozeß begreifen.

II. Es gibt kein Aussteigen

Ob in Boston oder Moskau, Rio oder Bombay, Wien oder Budapest, überall gibt es Menschen, die erkennen, daß in einem atemberaubenden Tempo die ganze Menschheit betroffen ist:

  • Energieknappheit und Energiepreise;
  • Verstädterung;
  • Verschmutzung der Umwelt;
  • immer kompliziertere Technologie, bei der die menschlichen Werte sehr zu kurz kommen und welche die Menschen in mehr als einem Fall wahrscheinlich nicht mehr richtig handhaben können.
  • Und treffen uns nicht auch die Folgen der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Rezession (wenn es nicht schon mehr ist!) unabhängig vom Status unserer Länder?
  • Die objektive Bedrohung durch das Wettrüsten erreicht heute ausnahmslos sämtliche Weltgegenden.

Auch die ökologischen Wechselwirkungen werden zunehmend global. Die Abholzung der Wälder dieser Erde — um ein Beispiel zu nehmen — ist bedingt primär durch rücksichtslose ökonomische Interessen, neuderdings auch durch den Ölpreis und Brennstoffmangel, indirekt auch durch die Energievergeudung im Norden. Sie wird in mannigfacher Form auf den Norden zurückschlagen — spätestens dann, wenn durch den Kahlschlag die Absorption von Kohlendioxyd durch die tropischen Regenwälder so stark zurückgeht, daß eine globale Gefährdung eintritt.

Der Hunger in den Armutsgürteln Afrikas und Asiens — um ein anderes Beispiel zu nennen — wird die Satten des Planeten nicht unbeeinträchtigt lassen. Wo millionenfacher Hunger herrscht, kann der Frieden nicht als gesichert gelten. Es ist ja eher unwahrscheinlich, daß die Menschen auf Dauer schweigend sterben werden.

Hier auf militärische Stärke zu setzen, erschiene mir der verblendete Versuch, in der gesamten Welt bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen.

Es liegt mir fern zu bestreiten, daß die politische Ordnung, die Wirtschafts- und Gesellschaftsform eines Landes auf seine Fähigkeit zur Lösung von Problemen erheblichen Einfluß hat. Aber zahlreiche Aufgaben und Gefahren stellen sich unabhängig von den politischgesellschaftlichen Ordnungen. Rohstoffabhängigkeit, Umweltgefährdung, die Folgen technologischen Wandels — damit hat man überall zu tun, wo die Industrialisierung fortschreitet. Den Wettkampf der systemimmanenten oder auch anders motivierten Überzeugungen, wie die Probleme am besten zu lösen seien, den wird und soll es geben. Aber den ganz separaten Weg einer Weltregion, der ohne Verständigung mit anderen Teilen der Welt verlaufen könnte, den gibt es kaum noch. Aussteigen kann im Grunde kein Volk mehr.

Die These von der Einen Welt ist gelegentlich als Mythos kritisiert worden. Dies scheint durch die mangelnde Bereitschaft bestimmt, den Tatsachen ins Auge zu blicken und liebgewordene Vorstellungen, Egoismen und den defensiven Pragmatismus der Tagespolitik zu überwinden.

So hat man uns etwa den Satz eines Entwicklungsökonomen entgegengehalten: »Wenn Afrika, Asien und Lateinamerika morgen im Meer versänken, würde das den gegenwärtigen oder zukünftigen Wohlstand von Europa und Nordamerika kaum spürbar beeinträchtigen.«

Aber keine der Weltregionen versinkt ja im Meer. Sie bleiben nebeneinander bestehen, und dies zwingt sie zur Kooperation.

Auf mittlere und längere Sicht bestehen mehr gemeinsame oder parallele Interessen zwischen Nord und Süd, auch zwischen Ost und West, als die meisten bisher haben erkennen können. Ein rasches Tempo der Entwicklung im Süden kommt auch den Menschen im Norden zugute.

Die Kritik an dieser These ist scheint mir eher eine Spielart des Versuches, die drängenden Weltprobleme wegzureden und eine Form der internationalen Wirtschaftspolitik zu verteidigen, in der der Schwächere auf der Strecke bleibt und der Stärkere — noch — profitiert.

Das Treffen in Cancun, Ende 1981, beurteile ich, nachdem ich die Meinung meiner Freunde aus den Entwicklungsländern gehört habe, gedämpft positiv. Globale Verhandlungen als Prinzip sind von allen Beteiligten anerkannt worden. Schon das Treffen selbst stellte — in bisher nicht gekannter Form — ein erhebliches Maß an Globalität auf höchster politischer Ebene dar.

Zwar ist die Sowjetunion auf die Einladung der beiden, die als Ko-Vorsitzende nach Cancun einluden — des mexikanischen Präsidenten und des österreichischen Bundeskanzlers — nicht eingegangen. Ich habe das bedauert, aber ich halte auch nichts von fruchtloser Polemik. Souveräne Staaten, ganz gewiß die großen, wissen zu bestimmen, wie sie ihre Interessen wahren. Sie können sich dabei allerdings auch irren.

Ohne Zweifel hat die Nord-Süd-Problematik im Verständnis der politischen Führungen in Osteuropa wesentlich höheren Rang erlangt. Wissenschaftler in West und Ost — einschließlich Sowjetunion — sind mittlerweile, was Daten und Probleme angeht, auf der gleichen Wellenlänge.

III. Der Osten muß mittun

Wenn der KSZE-Prozeß schon bessere Fortschritte gemacht hätte, wäre es nicht unrealistisch, ihn mit der Rolle Europas in den Nord-Süd-Beziehungen zu befassen. Heute konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Verhandlungen der Weltmächte über nukleare Waffen. Wenn diese Ost-West-Verhandlungen zu positiven Ergebnissen führen, könnten sie durch eine »Konferenz über Abrüstung in Europa« ergänzt und befestigt werden.

Die Frage, wer für das Erbe des Kolonialismus verantwortlich sei, wird von Entwicklungsländern als nicht sehr hilfreich betrachtet. Sie erwarten Hilfe weniger für Fragen der Geschichtsdeutung, als für die Bewältigung ihrer Zukunft. Und diese Hilfe erwarten sie von der Industriewelt, nicht nur vom Westen des Nordens.

Sie wissen, daß Länder wie Schweden und Norwegen, statt auf ihre nicht-koloniale Vergangenheit zu verweisen, sich engagieren mit einer Öffentlichen Entwicklungshilfe, die deutlich höher ist als die international vielmals beschworenen 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Anderseits kann man sehr wohl der Meinung sein, daß offizielle Entwicklungshilfe, die ja, immer nur ein Teil von Entwicklungspolitik sein kann, besser auf die Meßlatte Verbrauch bezogen sein sollte statt auf das Bruttosozialprodukt. Hierüber und über anderes muß man sachlich reden. Mit bloßer Polemik ist es nicht getan.

Doch ist nun einmal nicht zu übersehen, daß die osteuropäischen Hilfeleistungen wenig beeindruckend sind und sich ganz überwiegend zugunsten verbündeter oder auf andere Weise verbundener Staaten niederschlagen. Die Sowjetunion entwickelte sich als außerordentlich autarkes Wirtschaftssystem, das nur sehr begrenzt auf ausländische Rohstoffzufuhren angewiesen war. Auch war sie lange in einer politischen Isolation, die ein weites Geflecht von Wirtschaftsbeziehungen nicht zuließ. Dieser Zustand ist historisch überwunden oder jedenfalls überwindbar. Die Wirtschaftsgemeinschaft der mit der Sowjetunion verbundenen Staaten ist in Zukunft viel mehr auf Rohstoffzufuhr angewiesen und hat zunehmend mit jenen Problemen zu tun, die ich als global gekennzeichnet habe.

Die osteuropäischen Staaten — so schwierig für sie unter den gegebenen Umständen ein erheblich verstärkter Kapitaltransfer sein mag — könnten wesentlich mehr zum Transfer von Know-how beitragen; dies nicht zuletzt im Bereich der Investitionsgüterindustrie. Der wichtigste Beitrag der Sowjetunion und der mit ihr verbundenen osteuropäischen Staaten könnte aber darin liegen, daß sie langfristig am Welternährungsprogramm und an der Weltenergiestrategie teilnehmen.

Ich weiß, daß viele Mißtrauensbarrieren überwunden, viele Fortschritte im Ost-West-Verhältnis erst erreicht werden müssen, bis eine solche Vision Wirklichkeit wird. Aber ich plädiere dafür, mit den Plänen für eine bessere Zukunft rasch zu beginnen. Pläne für Krieg gibt es schon zu viele.

Seit der Entwicklung strategischer Nuklearwaffen ist auch die militärische Konfrontation global, in dreifachem Sinn:

  • Diese Waffen bedrohen die beteiligten Staaten insgesamt.
  • Sie bedrohen potentiell jeden Ort auf dem Globus.
  • Sie bedrohen jeden Gegner total, das heißt in seiner schieren Existenz.

Entsprechend besteht eine eiskalte, gleichsam negative Interdependenz. Aber sie hat in den letzten drei Jahrzehnten, weil sie respektiert wurde — oder wenigstens von keiner Seite überwindbar war — den großen Krieg verhindert.

Aus der kalten Interdependenz — einer Art, einander wechselseitig in Schach zu halten — eine positive und konstruktive Interdependenz zu machen, ist die Idee von Entspannungspolitik.

Ich sehe mit großer Sorge, daß beide Teile der Friedenssicherung, Abschreckung und Entspannung, heute in Gefahr geraten. In der globalen Konfrontation besteht, ungewollt oder gewollt, die Tendenz, den Gegener gleichsam sekundär — an der Säule militärischen Potentials vorbei — gleichwohl in der Substanz zu treffen — etwa wirtschaftlich, durch eine Strategie des »Totrüstens«. Wer aber auf einen inneren Zusammenbruch des Gegeners spekuliert, spielt mit dem Gedanken an einen Sieg, der einem militärischen Sieg ähnlich wäre — und eine entsprechende Reaktion auslösen könnte.

Der technologische Fortschritt in der Rüstung hat eine Phase erreicht, in der Waffentypen absehbar sind — nach Meinung mancher auch schon vorhanden sind —, die so »klein« und zielgenau sind, daß die Neigung wachsen könnte, sie im Sinne eines begrenzten Konflikts zum Einsatz zu bringen. Die Versuchung zum Griff nach der Überlegenheit ist eine lebensgefährliche Versuchung.

Ich halte das für einen verhängnisvollen, wahrscheinlich selbstmörderischen Weg. Wir brauchen dringender denn je wirksame Beschlüsse über Rüstungsbegrenzung und realen Abrüstung, dringender denn je die Fortsetzung oder Wiederaufnahme, jedenfalls die über Europa hinausreichende Ausweitung von Entspannungspolitik.

Bisher überlagern Hochrüstung und Rivalität der Weltmächte eindeutig die entwicklungspolitischen Bedürfnisse und die globalen Zukunftsfragen. Dies wird nicht mehr lange gehen, wenn man nicht auf wirtschaftliche und ökologische Katastrophen weltweiten Ausmaßes warten will, die irreparable Schäden hervorrufen und zugleich zu internationaler Panik führen, somit erhöhter Kriegsgefahr.

Mit anderen Worten: Ich plädiere dafür, endlich konkrete Verbindungen zwischen der Ost-West-Frage und der Nord-Süd-Frage herzustellen, zwischen Entspannung und Abrüstung einerseits, Entwicklungspolitik und Umweltpolitik andererseits.

In der Welt wurden 1981 mehr als 500 Milliarden Dollar für Rüstung verschwendet: eine ungeheure Menge Kapital, Arbeitszeit und Intelligenz für die Vorbereitung der wechselseitigen Vernichtung. Mit einem Bruchteil davon wäre der Welthunger zu stillen, könnten die meisten Entwicklungsländer in absehbarer Zeit die Grundbedürfnisse ihrer Menschen befriedigen.

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