FORVM, No. 295/296
Juli
1978

Brief an junge Sozialisten

in Fortsetzung der Briefe und Gespräche von Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme 1972-1975*
Rudi Dutschke
(vorn Mitte), Berlin 1968

Liebe Freunde!

Ihr habt an mir wie an meinen Freunden Willy Brandt und Olof Palme manches auszusetzen. Ich will nicht leugnen, daß Eure Frage berechtigt ist, ob wir alten Sozialdemokraten nicht zu viel von dem über Bord geworfen haben, was wir in unserer Jugend in der Bewegung gelernt haben.

Man kann heute nicht alles mit Marx erklären. Ihr werdet doch mit mir übereinstimmen, daß es den Marxismus als geschlossenes Gedankengebäude nicht gibt, seine Gedanken daher immer wieder der Weiterentwicklung bedurften. Schon Rudolf Hilferding mit seinem „Finanzkapital“ war ein eindrucksvoller Beweis dafür.

Ich will damit nicht sagen, daß ich die Marxsche Geschichtsauffassung ablehne; sie ist eindeutig die wirksamste analytische Methode, wenngleich auch sie einen ungelösten Rest hinterläßt. Aber selbst dann stößt man zu einer Reihe anderer Faktoren am ehesten mit Hilfe des historischen Determinismus vor. Er ist als Methode für die politische Analyse unentbehrlich.

Damit bleiben die Ideen von Karl Marx und seiner Nachfahren ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Ideengeschichte. Es bleibt ihre großartige Leistung, daß sie der Arbeiterbewegung als politisches Ziel die Verwirklichung des Sozialismus gesetzt haben.

Ihr kritisiert die „mangelnde Bereitschaft der Sozialdemokratie, mit den Kommunisten in einen sinnvollen Dialog einzutreten“.

Was die Kommunisten an Marxismus haben, ist ein staatsphilosophisches Dogmengebäude, in dem man sich kaum zurechtfindet. Marx selber würde darauf wohl so reagieren wie einem seiner Schwiegersöhne gegenüber, als er erklärte: Wenn das Marxismus ist, dann bin ich kein Marxist.

Marx hat die Diktatur des Proletariats nie definiert. Dort, wo es sie gegeben hat, wie in der Sowjetunion, begann sie als Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte, also als eine vom Proletariat geschaffene Herrschaftsform. Aus der Diktatur des Proletariats aber wurde die Diktatur über das Proletariat, zuerst ausgeübt von einer Partei, schließlich von einer wesenlosen Bürokratie.

Sozialdemokraten haben das schon sehr früh erkannt. Sie bewegte damals kein antikommunistischer „Fighting Spirit“, sondern die Erfahrung der Entartung der Revolution. Angesichts der tschechoslowakischen Ereignisse 1968 sagte Walter Ulbricht, daß der „Sozialdemokratismus“ die größte Gefahr für den Kommunismus wäre. Er hat damit wohl recht; deshalb recht, weil sich der demokratische Sozialismus immer deutlicher als eigentliche Alternative herausbildet.
Wieder zu Marx.

Kommunismus als ursprüngliche Akkumulation

Seine Erklärung der ursprünglichen Akkumulation hilft uns besser als alles andere, die Entwicklung im europäischen Osten zu verstehen. Was dort geschieht, geschieht gegen die Vorstellungen von Karl Marx, der ja die Auffassung vertreten hat, daß die Stunde des Kapitalismus dort schlägt, wo die Expropriateure expropriiert werden.
Aber in den Agrarländern Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Polen — nur die Tschechoslowakei macht eine Ausnahme — gab es ja keinen Kapitalismus. Es gab Großgrundbesitz, es gab feudale Verhältnisse, es gab Korruption und Ausbeutung, aber kaum Kapitalisten.

Was sich dort vollzogen hat und noch vollzieht — wieder mit Ausnahme der Tschechoslowakei —, ist eben der Prozeß der ursprünglichen Akkumulation.

Da sich die Menschen unter demokratischen Verhältnissen ein solches Maß an Ausbeutung nie gefallen lassen würden, bedarf es zur Verwirklichung dieser ursprünglichen Akkumulation der Diktatur und des Staatskapitalismus.

In Polen zum Beispiel wurden im Juni 1976 die Preise erhöht. Die Menschen haben protestiert, sie wollten es sich nicht gefallen lassen, sie wurden niedergeknüppelt und sogar eingesperrt.

Kommunismus in Industriestaaten

Wenn es wahr ist, daß sich die kommunistischen Parteien in demokratischen Staaten — ich denke vor allem an Frankreich, Italien und Spanien — vom Kommunismus Moskauer Prägung weg entwickeln, dann muß sich zwangsläufig die Diskussion um die Frage ergeben, welche Zielvorstellungen sie eigentlich haben.

Italien ist ein besonderer Fall, weil die Sozialisten relativ schwach, die Kommunisten stark sind und den in anderen Ländern von den demokratischen Sozialisten besetzten politischen Raum innehaben. Das aber ist eine spezifisch italienische Gegebenheit, und es kann durchaus sein, daß das, was die italienischen Kommunisten erklären, konsequent weitergedacht, nicht mehr kommunistisch ist.

Aber ich warne vor einem voreiligen Optimismus, denn Lenin hat in seiner Schrift „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ die deutschen Linken belehrt, „daß die ganze Geschichte des Bolschewismus, sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution, voll ist von Fällen des Lavierens, des Paktierens, der Kompromisse mit anderen, darunter auch mit bürgerlichen Parteien“.

Die Praxis der italienischen Kommunisten ist also durchaus nicht unleninistisch.

Die Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form scheint mir die adäquateste Form der modernen Industriegesellschaft zu sein. Ich wage aber nicht, die Frage zu beantworten, ja, ich bezweifle es sogar, ob man in Asien oder in Afrika eine neue Gesellschaft mit den Mitteln und Formen unserer Demokratie aufbauen kann.

Daher muß die Sozialdemokratie in der internationalen Politik eine neue Strategie verfolgen. Sie kann nicht sagen: Wir warten auf das Auftreten von sozialdemokratischen Parteien — oder: Wir anerkennen als Verbündete nur Parteien, die ganz bestimmte — europäische — Zielvorstellungen haben oder gewissen — westlichen — Kriterien entsprechen.

Die Demokratie hat sich auch in Europa sehr verschieden entwickelt. Die Schweizer Demokratie hat einen anderen Verlauf genommen als die Demokratie in Frankreich, und diese wieder ist anders als die Demokratie in Großbritannien oder in Skandinavien.

Ihr wendet ein, daß François Mitterrand mit meiner Haltung gegenüber den Kommunisten keine Freude haben wird. Für Frankreich verstehe ich, daß es dort keine sozialistische Partei geben kann, die antikommunistisch ist, weil eben das französische Volk von einer anderen Denkweise geprägt ist. Die französische sozialistische Partei kann nur groß werden, wenn sie nicht antikommunistisch ist. Nur so stellt sie, wie uns Mitterrand oft gesagt hat, eine Alternative zu den Kommunisten auf der Linken dar: Die Linken suchen eine Alternative, sie wollen aber keine haben, die antikommunistisch ist. An dieser Problematik ist die Partei Guy Mollets zerbrochen.

Daß ich, nebenbei gesagt, den Wandel in der Grundhaltung dieser kommunistischen Parteien zur Demokratie als eine Bestätigung der sozialistischen Politik betrachte, muß doch für Euch verständlich sein.

Die kommunistischen Führer stehen nunmehr vor der Entscheidung, entweder loyal zu Moskau zu bleiben und zu sehen, wie ihre Parteien stagnieren und auf irgendwelche außerordentliche Entwicklungen wie Krieg oder anderes warten, oder aber sich den nationalen Gegebenheiten anzupassen und eine Politik zur Lösung der Probleme des eigenen Landes zu entwerfen. In dem Maße, in dem sie dies tun, müssen sie sich von Moskau entfernen.

Der Lehrmeister in dieser Beziehung war eigentlich Tito. Dieses historische Verdienst kann ihm niemand rauben, denn er hat sich als erster auf seine nationalen Gegebenheiten besonnen. In zweiter Linie kommt China. Und nun scheint diese Bewegung auch die wichtigsten kommunistischen Parteien Westeuropas erfaßt zu haben.

Der von Euch apostrophierte Dialog bekommt von daher eine zusätzliche Facette.

Ich stelle mir den Sozialismus nicht so vor wie die Kommunisten, die glauben, daß man ihn in dem Augenblick verwirklicht hat, in dem man die Macht ergreift. Diese Vorstellung involviert schon die Gewaltanwendung.

Darin ist ja auch der Gedanke eingeschlossen, daß man ein schlechter Sozialist ist, den Sozialismus verrät, wenn man die Macht wieder abgibt. Aber hier ist die Probe aufs Exempel, die die Kommunisten erst noch bestehen müssen. Sie müssen erst zeigen, ob sie bereit sind, die Macht wieder abzutreten, falls sie bei Wahlen eine Niederlage erleiden.

Jetzt sagen die Kommunisten, daß sie es tun werden. Aber das Risiko, die Probe aufs Exempel zu machen, will natürlich niemand eingehen.

Sozialismus als dialektischer Prozeß

Für mich ist der demokratische Sozialismus ein politisches Prinzip und nicht eine konkrete Gesellschaftsform — ein dialektischer Prozeß und kein Zustand, der plötzlich da ist.

Die Demokratisierung muß immer neue gesellschaftliche Bereiche erfassen, es muß zu einer ständigen Ausweitung der Demokratie kommen, wobei immer wieder demokratisches Neuland betreten werden muß.

Es müssen Elemente der Demokratie dort eingeführt werden, wo es sie überhaupt noch nicht gibt, wo immer noch das Herrschaftsprinzip besteht. Etwa in der Wirtschaft und vor allem in der Kultur. Dort, wo die Demokratie im politischen Bereich existiert, muß sie komfortabler werden, das heißt moderner, funktionsgerechter, adäquater. Dort, wo sie noch nicht existiert, muß sie konstruktiv geschaffen werden.

Die soziale Demokratie ist eine politische Zielvorstellung, der man sich annähert, wissend, daß dies wahrscheinlich nur asymptotisch möglich ist.

Man schafft eine Reihe von Einrichtungen, die zwar in ihrer Gesamtheit den Staat nicht zu einem sozialistischen machen, aber die Politik, die betrieben wird, schafft ein höheres Maß an gerechter Gesellschaft. Reformen sind gesellschaftsverändernd, wenn ihre Quantität eine andere Qualität der Gesellschaft herbeiführt.

Die sozialdemokratische Gesellschaft muß dem Menschen mehr Entscheidungen über sein eigenes Leben einräumen, ihm die Möglichkeit geben, im Gesamtprozeß mitzuwirken. Hier sind wir noch am wenigsten weitergekommen, und das ist auch die schwierigste Aufgabe, weil die Menschen ja immer wieder und immer aufs neue darauf vorbereitet werden müssen.

Meine These lautet: Demokratischer Sozialismus oder soziale Demokratie ist ein dialektischer Prozeß, der sich an der Realität orientiert: An dem, was Marx die Produktionsverhältnisse genannt hat, am jeweiligen Stand der Produktivkräfte, aber auch am jeweiligen Stand der politischen Aufklärung, an Bildung und Reifegrad des Volkes und seiner Klassen.

Dieser Prozeß findet auch statt, wenn eine starke sozialistische Partei in der Opposition ist und von dort her ihre politischen Ideen durchsetzt.

Ungeheuer Staat

Die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat ist eine Etappe dieses Prozesses. Der Wohlfahrtsstaat ist auf seine Art ein Korrelat zur modernen Industriegesellschaft. Zur politischen Freiheit der Demokratie kommt eine gewisse Freiheit von Angst und Not, die wieder nur von der modernen Industriegesellschaft materiell realisiert werden kann.

Die primäre Funktion des Wohlfahrtsstaates für den arbeitenden Menschen ist, eine voraussehbare Notsituation zu mildern. Für den Arbeiter haben früher Krankheit und Alter Elend bedeutet, heute sind durch die Sozialversicherung diese zwei potentiellen Notsituationen gemildert oder überhaupt beseitigt.

Wenn man als starke Opposition mit starken Gewerkschaften von einer bürgerlichen Regierung dasselbe erreicht, wie wenn man selbst regiert, so ist das eine Tendenz zur sozialen Gerechtigkeit und damit zur Verwirklichung der sozialen Demokratie.

Nun machen manche den großen Fehler, zu glauben, daß wir uns in dieser Politik um mehr soziale Gerechtigkeit erschöpfen. Aber Sozialdemokraten stellen immer wieder die Frage: Was kommt nach dem Wohlfahrtsstaat?

Man hat historisch den Begriff Sozialismus von unserer Seite nicht so eindeutig definiert, weil wir von Marx/Engels die Scheu vor der Utopie mitbekommen haben.

Wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, daß der Mensch nur als vergesellschaftetes Wesen denkbar ist, dann stellt sich die Frage, welche Stellung er in der Gesellschaft haben soll.

Die große Frage, die damit beantwortet werden muß, lautet: Wieviel Gesellschaft kann es für den Menschen geben? Wieviel kann und darf überhaupt die Gesellschaft für den einzelnen tun, ohne seine Individualität zu begrenzen?

Es gibt da ein interessantes Erfahrungsbeispiel für mich. Es betrifft russische Juden, die aus Israel wieder weg sind, dabei zurück nach Österreich kamen und nun hier sitzen, weil die Sowjetunion sie nicht zurücknimmt. Sie habe ich gefragt, was sie in Israel gestört hat. Und da haben sie mir gesagt: Das Leben dort sei zu schwer für sie gewesen, viel schwerer als in der Sowjetunion. Dort kümmere sich der kommunistische Staat um die Erziehung der Kinder. Der Staat entscheide, in welche Schulen die Kinder gehen sollen, und was er entschieden hat, geschehe dann auch. Der Staat bestimme ferner, welchen Beruf die Kinder ergreifen sollen. Der Staat teile die Wohnung zu ... Man müsse nur arbeiten und sich eingliedern. Er denkt für einen, er plant für einen usw.

Hier offenbart sich für mich die ungeheure individualitätsvernichtende Kraft des Staates — dann nämlich, wenn er zu viele Aufgaben den Menschen nicht nur abnimmt, sondern sogar wegnimmt. Der Mensch ist so geschaffen, daß zu seinem Wesen ein gewisses Maß an Sorge ums Morgen gehört. Das ist ein großes, politisches Problem. Es kann sehr leicht passieren, daß ein zu hohes Maß an Sozialpolitik, an Sozialversicherung usw. bei den Menschen zur Frage nach der Notwendigkeit dieser Dinge führt.

Daher muß nun ein neuer Denkprozeß einsetzen. Ein demokratischer Sozialist darf nicht sagen: Ich nehme dem Menschen ein Maximum an Verantwortung für die Gesellschaft und für sein Leben ab. Sondern er muß sagen: Ich gebe ihm ein Maximum an Verantwortung für die Gesellschaft und damit auch für seine Existenz. Und das geschieht durch ein besonderes hohes Maß an Mitbestimmung, wie sie nur der demokratische Sozialismus herbeiführen kann.

Mit der Demokratie des 18. und 19. Jahrhunderts, den demokratischen Grundideen der Aufklärung — wir sind technisch in der Demokratie ja noch nicht sehr viel weitergekommen —, mit diesem Instrumentarium können diese Aufgaben nicht mehr sehr gut bewältigt werden werden.

Weit über Keynes hinaus

Ich stimme mit Euch vollkommen überein, daß soziale Gerechtigkeit und die Verbesserung der sozialen Verhältnisse auch von einer Strukturreform der Wirtschaft abhängen. Der Reformismus der zwanziger Jahre hingegen hat sich in sozialpolitischen Reformen erschöpft. Er ist an jenem Tag in eine Sackgasse geraten, an dem die kapitalistische Krise eine Finanzierung der bereits realisierten Reformen nicht mehr gestattete.

Der Schluß, das Recht auf Arbeit dadurch zu verbürgen, daß man es in die Verfassung einschreibt, wie es in der Weimarer Republik geschehen ist, ist nicht stichhältig.

Nach meinen Vorstellungen kann man das Recht auf Arbeit nur durch volkswirtschaftliche Maßnahmen verwirklichen, die weit über Keynes hinausgehen müssen.

Die Ideen von Keynes, daß der Staat durch Auftragspolitik und durch Unterstützungen Geld unter die Leute bringen muß, bedeuten zwar den Bankrott des manchesterliberalen Nachtwächterstaates, aber dennoch sind sie in ihren Proportionen zu klein, um eine echte Krise zu überwinden. Schon der Reformismus der Zwischenkriegszeit scheiterte an der Unfähigkeit des Staates zu Eingriffen in der Wirtschaft.

Welche Mittel stehen nun dem Staat zur Verfügung? Etwas ist sicher sinnlos: die Leute arbeiten zu lassen und Waren zu erzeugen, die niemand kauft.

Wir haben noch nicht alle Methoden erfaßt, aber eine davon ist z.B. die Inanspruchnahme des Kapitalmarktes durch die Gesellschaft, um die Infrastruktur massiv auszubauen. Etwas, was man oft in der Hochkonjunktur nicht kann und auch nicht soll. Man kann also eine Krise dazu benützen, um das Sozialkapital zu vergrößern. Verwirklichung der sozialen Demokratie bedeutet jedenfalls auch Einfluß in der Wirtschaft und auf die Wirtschaft.

Wir demokratischen Sozialisten betrachten den Staat nur als Rahmen der Gesellschaft. Was im Staate Macht ist, ist nicht immer Macht des Staates, sondern oftmals eine Folge der Wirtschaftsordnung. In der Gesellschaft bestehen große Machtzentren, die sich nur indirekt als solche des Staates manifestieren. Es gibt ja auch die Ohnmacht des Staates angesichts ökonomischer Machtballung. Darauf lautet unsere Antwort als Sozialdemokraten: Unsere Aufgabe ist die Verwirklichung der sozialen Demokratie; Demokratie soll sich nicht nur im Bannkreis der Politik entfalten, sondern muß auch die anderen Gesellschaftsbereiche erfassen.

Noch gibt es aber keine Formen und Vorbilder für die Mitbestimmung, die Demokratisierung der Wirtschaft.

Totale Planung ist total verfehlt

Die Idee der Planwirtschaft ist durch ihr totales Scheitern in den kommunistischen Staaten völlig in Mißkredit geraten. Das hat natürlich dem Planungsgedanken sehr geschadet und gezeigt, daß die Kommunisten nicht imstande sind, die Wirtschaft effizient zu organisieren. Es ist doch seltsam, daß dort die Industrieproduktion nur hundertprozentig funktioniert, wo sie dem Krieg und der Rüstung dient.

Dieses Scheitern ist die Folge einer mißverstandenen Planwirtschaft. Das System der Totalplanung ist verfehlt; auch mit modernen Berechnungsmethoden, mit den besten Computern kann man nicht total planen.

Die totale Planung macht etwas Wesentliches vollkommen sinnlos, nämlich die Initiative des einzelnen. Wenn man oben zuviel denkt, dürfen die unten überhaupt nicht mehr denken, denn dann stören sie damit die Oberen. Es entsteht ein Defizit an Denkbarkeit des Menschen in der Wirtschaft. Die eigene Initiative, die Umsetzung der Ideen muß gewährleistet sein. Jede Wirtschaft hängt auch davon ab, daß Menschen improvisieren, daß Menschen bereit sind, aus welchen Motiven immer, einen maximalen geistigen Einsatz zu leisten.

Wir versuchen unseren gesellschaftlichen Überbau der gemischten Wirtschaft anzupassen. Für die von uns überschaubare politisch-historische Phase der Gesellschaft müssen wir mit dieser spezifischen Wirtschaftsform rechnen. In ihr selbst wirken dann die Kräfte, welche die Entwicklung weit über sie hinauslenken.

Verstaatlichte Wirtschaft, verwirtschaftlichter Staat

In Österreich ist die Schwerindustrie nicht mehr in den Händen von Privaten. Und nicht nur die Schwerindustrie, auch andere große Unternehmungen Österreichs sind verstaatlicht oder gehören Banken, deren Aktienmehrheit wieder dem Staat gehörten. Es gibt also nicht jene personifizierte Form des Kapitalismus. Die große Industrie ist nicht a priori etwas anderes als der Staat, sondern gehört ihm zum größten Teil direkt oder indirekt.

Man muß den Arbeitern in den Betrieben ein immer höheres Maß an Mitbestimmung geben. Aber das setzt ein hohes Maß an Information voraus; vor der Entscheidung muß die Information kommen. Das geht nur so, wie sich Demokratie überhaupt entwickelt; nämlich schrittweise. Ich will Rückschläge vermeiden und will daher die Autogestion evolutionär verstanden wissen.

Die Wirtschaft arbeitet anders als die Politik, daher müssen dort neue Formen der Demokratie entwickelt werden, andere als in der Politik.

Es genügt nicht, daß mächtigen Männern der Gewerkschaftsbewegung die Mitbestimmung gegeben wird. Sie muß den in der Wirtschaft Wirkenden gegeben werden. Es muß also ein System des Gleichgewichtes gefunden werden, und da ist am Anfang die Parität in den Bestimmungsgremien das Sicherste.

Sozialpartnerschaft ist Klassenkampf

Die Sozialpartnerschaft ist ein Prinzip der „souplesse“: der Anpassungsfähigkeit, der Elastizität, der politischen Beweglichkeit. Es geht darum, wieviel Macht man überhaupt zeigen kann, ohne daß die Demokratie in Gefahr gerät.

Die Sozialpartnerschaft muß als eine Art „Countervailing System“ verstanden werden. Sozialpartnerschaft ist nur dort möglich, wo die Gewerkschaften sehr stark sind. Daher weiß der andere Partner, daß er große Risken auf sich nimmt, wenn er aus der Partnerschaft aussteigt.

Es wäre sehr töricht, zu empfehlen, das System des gewerkschaftlichen Kampfes in Frankreich und Italien einfach zu übernehmen. Das ginge niemals. Dort sind die Gewerkschaften viel zu sehr zersplittert, als daß sie einen einzigen, starken Partner darstellen können. Unsere Gewerkschaften sind in der Sozialpartnerschaft, weil sie sich ausrechnen, daß noch jeder Kompromiß, den sie erzielt haben, besser war als das, was sie in schwersten Kämpfen hätten erringen können. Diese hätten auch Verluste gebracht. Addieren wir die Summe der Kompromisse, die im Rahmen der Sozialpartnerschaft erzielt wurden, so hat die österreichische Arbeiterschaft mehr erreicht als andere Gruppen in anderen Ländern durch Kampfmaßnahmen.

Sozialpartnerschaft ist Sublimierung des Klassenkampfes. Der Kampf der Klassen, der Verteilungskampf, hat eine neue Form gefunden.

Ja zur klassenlosen Gesellschaft

Ihr fragt mich, ob ich für die klassenlose Gesellschaft bin. Das scheint für viele eine Gretchenfrage zu sein. Ich bin dafür, obwohl ich ganz genau weiß, daß es Klassen in der einen oder anderen Form immer geben wird.

Extreme Klassenunterschiede gibt es in den kommunistischen Staaten. Das Argument der Kommunisten mir gegenüber ist immer: Naja, aber es gibt keine Kapitalisten mehr.

Gewiß, aber es gibt Leute, die es nur deshalb besser haben, weil sie über die Produktionsmittel mitverfügen. Sie gehören ihnen zwar nicht, aber sie sind die Befehlshaber in der Wirtschaft und sind daher besser dran.

Ich bin mir der Tatsache voll bewußt, daß es auch in der sozialen Demokratie immer wieder neue privilegierte Gruppen geben wird, sei es, daß sie materiell privilegiert sind, sei es, daß sie durch ihre Position in der Gesellschaft oder aber durch ihre Ausbildung Privilegien besitzen und dadurch eine von den übrigen Schichten abgehobene Stellung haben.

Das wichtigste aber ist doch, daß in dieser mobilen Gesellschaft immer wieder gegen Privilegien gekämpft werden kann. Das macht die Gesellschaft produktiv.

Ich glaube, daß die Sozialdemokratie als Partei deshalb so stark ist, weil sie eine viel ehrlichere politische Idee vertritt als die Kommunisten. Die Kommunisten versprechen etwas; kaum aber haben sie die Macht, so tritt genau das Gegenteil dessen ein, was sie versprochen haben. Das geschieht geradezu mit Naturnotwendigkeit, denn die Diktatur produziert einfach einen derartigen Zustand der Dinge. Die Demokratie dagegen erzeugt die permanente Kritik an der Gesellschaft. Diese permanente Kritik mag zwar auch eine Schwäche sein, ist aber letzten Endes eine Stärke, weil sie der Demokratie hilft, unbefriedigende Zustände zu überwinden.

Dieser Brief ist unvollständig, unsystematisch, wenn Ihr wollt, unwissenschaftlich, für einen anderen hätte ich keine Zeit gehabt. Aber er ist geprägt von dem Wunsch, über den Tag hinauszudenken.

*) Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1975

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