FORVM, No. 142
Oktober
1965
Unbestreitbare Liberalisierung

Brief aus Prag

Daß der Weg, auf dem der nachfolgende Brief zu uns gelangte, nicht geschildert werden kann, begreift man bei seiner Lektüre. Der Adressat ist ein hoher kommunistischer Funktionär der ČSSR, der Schreiber ein auch im Westen bekannter, hochbegabter junger Marxist. Die uns zugekommene Übersetzung wurde gänzlich unverändert belassen.

Prag, am 20. Juni 1965

Geehrter Genosse,

ich wende mich auf Sie als ein tschechischer Philosoph, als Hochschullehrer und Wissenschaftler, der in den letzten zwanzig Jahren die marxistische Philosophie in der Tschechoslovakei studiert und gelehrt hat. Noch vor einem Jahre war ich ein Mitglied des Philosophischen Instituts der Tschechoslovakischan Akademie der Wissenschaften. Aus diesem Institut bin ich vor einem Jahre entlassen worden, auf Grund des Beschlusses des Zentralkommittes der Partei und des Praesidiums der Akademie. Dieser Beschluss war eine repressive, administrative Antwort auf meine kritische Ansichten über die tschechische Philosophie und Kultur. Er ist vollgezogen worden ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß meine Mitarbeiter dreimal meine Entlassung und Bestrafung als unbegründet abgelehnt hatten. Der Beschluss ist erst nach den ausserordentlichen Maßnahmen des ehemaligen Vorstandes der ideologischen Kommission (Vladimir Koucky) vollgezogen worden. Die angeordnete Auflösung des Parteiausschusses im Philosophischen Institut, die Einsetzung einer außerordentlichen Untersuchungskommission, die offene Drohung mit der Auflösung des ganzen Institutes und die Atmosphäre der persönlichen Bedrohung — das alles hat endlich zu meiner Entlassung geführt.

Diese strengen administrativen Methoden in einer philosophischen Diskussion waren auch in den tschechischen Verhältnissen ganz ungewöhnlich. In den Verlägen sind alle meine Publikationen beschlagnahmt, in den Redaktionen der Kulturzeitschriften sind zehn Aufsätze konfisziert worden, alle meine Hochschulvorlesungen werden eingestellt, der Pass ist mir weggenommen worden und ich selbst bin wegen sieben Sätze in einem unveröffentlichten Brief weitgehend diffamiert worden. Jetzt bin ich schon ein Jahr arbeitslos, weil alle meine Gesuche gescheitert haben; und das auf Grund eines Verbotes, nämlich dass ich in keiner tschechischen Kulturinstitution angestellt werden darf. Der einzige — beleidigende und absichtlich provokative — Angebot vom Praesidium der Akademie war eine näher unbestimmte Arbeit in Charita, in einer katholischen Organisation, die die Kultusgegenstände fabriziert und mit der Philosophie überhaupt nichts gemeinsam hat.

Diese absurden Massnahmen gegen einen Wissenschaftler werden Ihnen besser zu verstehen, wenn Sie sich erinnern, daß es im Frühjahr 1964 in Prag zum erstenmal in der Geschichte der sozialistischen Ländern dazu kam, dass zur Maifeier die Polizeihünde massenhaft gegen die Arbeiterjugend eingesetzt worden sind. Zum erstenmal wurden hier die ruhigen, nicht demonstrierenden Menschen mit den Knüppeln aus öffentlichen Parken ausgejagt. In derselben Zeit wurde ein Karrikaturist mit einem Jahre Gefängniss wegen einer von der Zensur gebilligten Karrikatur bestraft. Es ist in einer Zeit geschehen, als in der Tschechoslovakei die Frage der Verantwortung für die unbestraften politischen Mörder von 1950-1952 immer noch ungelösst bleibt. Meine Entlassung hängt also mit einer Welle der Persekutionsakte gegen die Intelligenz zusammen, mit einer Welle, die sich in regelmässigem vierjährigen Rhythmus in dem tschechischen Kulturleben wiederholt. Im Jahre 1948 wurden die Mitglieder der Intelligenz in die Kohlgruben geschickt, im Jahre 1952 unter den Beil, 1950 sind einige der Ämter enthoben, jetzt sind sie nur diffamiert. Das ist eine unbestreitbare Liberalisierung, für die ich leider als marxistischer und humanistischer Sozialist keine Begeisterung empfinden kann.

Die Gründe meiner Entlassung standen im Widerspruch mit Recht, mit den Normen des wissenschaftlichen Lebens und sie dienten rein administrativen Lösungen des theoretischen Streites über die Orientierung der tschechischen Philosophie. Jede sachliche Verteidigung ist unmöglich geworden; durch verschiedene Mechanismen von Drohung und Druck sind alle Personen oder Organe, die mich verteidigten und die administrativen Methode verurteilten, schnell zum Schweigen gebracht. Meine Entlassung sollte als Beispiel einer exemplaren Bestrafung der „revisionistischen Orientierung“ gelten und sie war ein Ausdruck einer rein stalinistischer, unüberwundenen dogmatischen Praxis einiger führenden Kulturpolitiker, mit Vladimir Koucký auf der Spitze. Die unnatürliche Ausmündung des theoretischen Streites unter den Marxisten ist der heutigen Spannung im tschechischen politischen Leben zuzuschreiben. Ich habe die Zeitbedingtheit der Ereignisse respektiert und habe offen gezeigt, daß ich meinen Fall nicht gegen die Kommunistische Partei ausnützen will, und daß ich die tschechische Staatsangehörigkeit nicht für günstige wissenschaftliche Möglichkeiten im Ausland tauschen will. Gegen meine Erwartung hält sich leider der Druck gegen meine Person ununterbrochen an, sodass ich mir erlaube, Sie um eine gewisse Hilfe zu bitten.

Vor einer Woche hat der neue Vorsitzende der ideologischen Kommission und ein Mitglied von Politbyro, Jiři Hendrych, erklärt, dass er mich nach dem Gesetz vom Parasitentum verfolgen lässt, obzwar ich ein selbständiger Wissenschaftler, Übersetzer und Mitglied der World Federation of Scientific Workers bin. Ich stehe also vor einer möglichen Verhaftung. Einer der mächtigsten Männer im Staate kann sich schon leisten, einen Philosophen für einen Parasiten zu halten, und falls es ihm passt, ihn einsperren zu lassen. Ich stelle Ihnen alle Dokumente zur Verfügung, damit Sie wissen, mit welchen Methoden noch heute die kulturellen Dogmatiker ganz offen und ungehemmt arbeiten, und zwar noch im Jahre 1965, in Mitteleuropa. Und in einem sozialistischen Staat, der die Methoden des Personenkultes formell abgelehnt hat. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie auf eine günstige Art meinen Gesuch um einen tschechischen Pass beeinflussen könnten, weil ich gern meine philosophischen Studien im Ausland weiterführen möchte. Gegenwärtig ist es hier nicht möglich, weil mir jede wissenschaftliche Tätigkeit und jede philosophische oder literarische Publizistik verboten ist. Ich denke aber nicht daran, aus der Tschechoslowakei auszusiedeln, weil ich überzeugt bin, dass die praktische Verteidigung des sozialistischen Humanismus in der Tschechoslovakei viel wichtiger und schwieriger ist, als blosse theoretische Philosophie.

Mit herzlichen Grüssen Ihr

Ivan Sviták
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