FORVM, No. 465-467
November
1992

Ceterum censeo, Germaniam Magnam esse dividendam!

Ich kenne keine Deutschen mehr, sondern nur noch Europäer!

Die Debatte um die Frage einer österreichischen und deutschen Nationalität ist genau so alt wie sinnlos. Deutschnationale Kreise in Österreich bemühen sich seit langem vergebens, die Zugehörigkeit der Österreicher zur „Deutschen Nation“ rein linguistisch abzuleiten. Sie berufen sich (Anton Karl Mally, Zukunft 8/92) unter anderem auf die deutschnationalen Aussagen der Führer der sozialdemokratischen Partei der Monarchie, die die Internationalisierung der Arbeiterbewegung mit der Kenntnis der deutschen Kommandosprache Kakaniens verwechselten (zufällig auch „der Sprache von Marx und Engels, die man im Original lesen können soll“, meinte Victor Adler) und auf die Aussagen ihrer Nachfolger, die nach 1949 bei Wahlen um Nazistimmen buhlten. Das einzig Wesentliche wird ignoriert: Es gibt eine deutsche Sprache mit vielen Dialekten, genauso wie es die viel weiter verbreitete englische Sprache gibt. Ein US-Amerikaner, ein Australier, ein Neuseeländer, ein englisch sprechender Südafrikaner ist deswegen jedoch kein Engländer! Dasselbe gilt für Schweizer, Bayern, Preußen, Österreicher etc. in bezug auf Deutsch.

Gibt es für Europa einen Weg aus diesem Nationalitäten- und Sprachenchaos? Das ungelöste Nationalitätenproblem stellt heute die supranationale Einheit Europas wieder in Frage. Vielleicht helfen ein Blick auf die politische Landkarte aus der Zeit vor der französischen Revolution und eine materialistische Analyse der National- und Militärökonomie, die Entstehung der nationalistischen Bewegungen zu verstehen.

Die größte nach außen wirkende Umwälzung der französischen Revolution war die Demokratisierung des Militärdienstes durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Napoleon nützte das Potential des neu gewonnenen Kanonenfutters mit größtem Effekt für das Ziel einer europäischen Einigung unter französischer Führung. Er scheiterte daran, daß die Menschenreserven der durch seine Dominanzansprüche hervorgerufenen anti-französischen europäischen Koalition die französische Nationalarmee ausbluteten. Auch der spanische Partisanenkrieg trug zu Napoleons Mißgeschick bei und ist ein wichtiger Hinweis gegen militärische Interventionen in unserer Zeit — siehe Jugoslawien.

Die Militärs aller Staaten lernten — soweit dazu fähig — aus Napoleons Mißerfolg. Der dauernde rasante Fortschritt der Militärtechnik mit Potenzierung der Tötungskapazität erforderte mehr und besser ausgebildete Streitkräfte, deren Aufrechterhaltung immer größere Teile der Volksvermögen verschlang. Die Konsequenz war die Konglomeration kleinerer Länder zu Großstaaten. Sprachliche Homogenität erleichterte die immer wichtiger werdende Kommunikation innerhalb der größeren Kampfverbände.

Das Ziel des Supernationalismus war die Schaffung einer immer größer werdenden kritischen ökonomischen und militärischen Masse im Kampf um die Vorherrschaft in Europa. Sie begann mit der Einigung der Staaten der italienischen Halbinsel zum Königreich Italien. Die Forderung nach der Vereinigung aller „Deutschen“ ist gleichbedeutend mit dem Anspruch auf nationale Dominanz in Europa: „Am deutschen Wesen wird die Welt genesen!“ Diese Politik mußte automatisch zu Krieg führen, auf den man sich allseits mit aller Macht vorbereitete. Das Ergebnis waren die Katastrophen des 1. und 2. Weltkriegs. Auch Hitler konnte den Krieg erst riskieren, als er durch die Einverleibung der 10 Millionen Österreicher und Sudetendeutschen die kritische Masse für einen Sieg in Europa erreicht zu haben glaubte. Der Eingriff Amerikas warf sowohl im 1. wie im 2. Weltkrieg die Rechnung über den Haufen.

Der 1. Weltkrieg brachte die Abnützungsschlacht von Verdun, deren Strategie von der größeren Menschenreserve Deutschlands bestimmt war. Die rein materielle Abnutzungsschlacht zwischen Nato und Ostblock von 1950 bis 1990 endete nach 40 Jahren mit dem Konkurs des Ostblocks und der durch Währungsmanipulationen verschleierten schleichenden Insolvenz der USA.

Die Konsequenzen dieser unseligen Militärpolitik sind für uns heute in Jugoslawien am klarsten zu erkennen. Dieses relativ kleine und arme Land versuchte mitzuhalten. Es desintegrierte, weil durch den Zerfall der Militärmacht Ostblock jeder Grund für eine starke Bundesarmee, die 80% des Nationalproduktes verzehrte, wegfiel. Daß sich Berufsoffiziere und Berufssoldaten gegen den Verlust ihrer Privilegien wehren, darf niemanden wundern. Eine Einigung auf der Basis multinationaler Kleinstaaten (Kroatien mit großer serbischer Minderheit, Serbien mit großer albanischer, kroatischer, moslemisch-bosnischer und mazedonischer Minderheit, Bosnien mit überhaupt keiner Majorität), ist durch keine Militärmacht von außen zu erzwingen. Der Versuch solch einer Lösung würde unter großen Verlusten für die „Schutzmächte“ nur zu totaler Verwüstung und Entvölkerung führen. Das Geschrei nach militärischer Intervention ist rein hysterisch, es entbehrt der einzig möglichen sinnvollen Zielsetzung: Den Krieg mit einem haltbaren Frieden zu beenden. Hiefür fehlen momentan alle Voraussetzungen und Grundlagen. Seitens Österreich sollte jede Forderung nach einer militärischen Intervention unterbleiben.

Die immerwährende Neutralität und die humanitäre Unterstützung aller Nachbarn in Not, auch der serbischen, ist die ausschließlich sinnvolle Aufgabe der Republik Österreich. Noch nie war unsere moralische Kraft stärker, unsere Neutralität zielführender und unsere Fähigkeit unabhängig zu agieren wichtiger. Selbst das laute Aussprechen von Gedanken über die Aufgabe der Neutralität ist ein politischer und moralischer Selbstmord. Jegliche Berufung auf eine kollektive europäische Sicherheit ist im Hinblick auf die gegenwärtige Situation blanker Hohn!

Ein vereinigtes Europa kann nur dann auf einer soliden Basis stehen, wenn es nicht einmal einen Gedanken an eine nationale Vorherrschaft irgendwelcher Art gibt und die einzelnen kulturellen Gruppen ihre Eigenheit ohne dauernde Angst aufrechterhalten können. Ich kenne daher keine Briten, sondern nur Engländer, Schotten, Waliser, protestantische und katholische Iren, keine Italiener, sondern nur Sizilianer, Lombarden, Latiner, Florentiner, Umbrier, Venezianer etc., keine Tschechoslowaken, sondern nur Tschechen und Slowaken, keine Jugoslawen, sondern nur Kroaten, Serben, Slowenen, Mazedonier, Albaner, orthodoxe, katholische und moslemische Bürger. Ich kenne schon überhaupt keine Deutschen mehr, sondern Hessen, Thüringer, Sachsen, Rheinländer, Pfälzer, Schwaben, Preußen, Bayern, Friesen etc.: Es ist an der Zeit, die Preußen endgültig von der bayrischen Dominanz zu befreien. Genscher hat seinen alten Traum zur falschen Zeit umgesetzt und damit einen großen historischen Fehler begangen. Er ist pensioniert und seine Aspirationen könnten jetzt ruhig ignoriert werden. Wie wäre es, alle westdeutschen Kapitaliseure (nach der Übernahme Österreichs hießen sie Reichskommissare und Ariseure) aus dem Osten zurückzuziehen? Warum kann man die „neuen“ ostdeutschen Bundesländer nicht zu europäischen, statt zu deutschen Bundesstaaten machen? Man würde sich viel gegenwärtiges und zukünftiges Leid ersparen.

Wenn’s darauf ankommt, kenne ich auch keine österreichische Nation deutscher, slowenischer oder kroatischer Sprache, sondern Tiroler, die ich sprachlich manchmal kaum verstehe, Steirer, Salzburger, und „echte Österreicher“, die in Ober-Österreicher, Nieder-Österreicher sowie Wiener (ganz niedere Österreicher?) einzuteilen sind. Es handelt sich hier augenscheinlich nicht um geographische Bezeichnungen, sondern um Amtstitel.

Die Logik einer echten europäischen Konföderation setzt die Zerschlagung sprachgebundener Großstaaten voraus, die einzig dem Versuch der Dominanz dienen. Wer braucht zusätzlich zu den Landesregierungen der italienischen und deutschen Bundesländer eine zentrale Regierung, wenn es ein all-europäisches Parlament und eine all-europäische Regierung gibt? Niemand außer den eingesessenen Beamten und den Erbbürokraten (siehe englisches Königshaus)! Die billigste Lösung besteht in einer großzügigen Abfindung der großstaatlichen Zivil- und Militärbürokratie.

Die auf einem völlig überholten Romantizismus des 19. Jahrhunderts beruhende deutsche „Wiedervereingung“ hat Europa destabilisert und die Entwicklung der EG in Frage gestellt. Ich bin sicher, daß die Dänen vorbehaltlos mit Ja zur EG gestimmt hätten, wenn ihr Nachbar Schleswig-Holstein hieße und nicht Deutschland. Ich bin sicher, daß bei offenen Grenzen ein Zerfall Italiens in seine traditionellen Verwaltungsregionen zu einer für die jeweiligen Bürger besseren, überschaubareren und nationalökonomisch billigeren Verwaltung führen muß. Wer braucht zwei Lagen Korruption?

Eine Zerlegung Deutschlands in seine Länder ist eine Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden in Europa. Nur sie kann zu einer vorbehaltlosen und angstfreien Annahme der Idee der europäischen Gemeinschaft durch alle Europäer führen. Die Vereinigung Ost- und Westdeutschlands zu einem neuen Großdeutschland ist eine kleineuropäische Lösung, die der großeuropäischen Idee der Vereinigung des Kontinents schweren Schaden zugefügt hat. Es ist die Ironie der Geschichte, daß die Großdeutschen immer Kleineuropäer waren, während die Kleindeutschen in ein großes gemeinsames Europa passen!

Reinrassigkeit führt innerhalb weniger Generationen zur Degeneration und schließlich zum Aussterben, wie die Genealogie vieler Königshäuser wiederholt zeigte. Die Ideologie aller Nationalisten beruht auf falschen biologischen und genetischen Vorstellungen und wäre selbstzerstörend, wenn Völker nicht rassisch durchmischt wären. Gerade die Großdeutschen zeigten durch ihre Gründlichkeit den Wahnsinn einer konsequent durchgeführten Reinrassigkeitspolitik der versuchten Ausrottung „nicht lebenswerten Lebens = nicht blauäugig germanischen Lebens“. Nur die größtmögliche genetische Vielfalt sichert die Zukunft des Lebens und der Arten. Jeder Versuch einer auf Sprache beruhenden ökonomischen oder militärischen Dominanz zerstört die ideelle Vielfalt, die die Essenz Europas ist.

Die nationalistische Gedankenwelt zur Zeit des Ausbruchs des 1. Weltkrieges gipfelte in dem Ausspruch Kaiser Friedrich Wilhelms: „Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche“. Diese Ansicht ist überholt, ihre katastrophalen Konsequenzen sind Geschichte. Heute ist genau das Gegenteil angebracht: „Ich kenne keine Deutschen, Belgier, Jugoslawen etc. mehr, sondern nur noch europäische Parteien“, die in überschaubaren Einheiten wie z.B. der Lombardei, in Hessen, in Sizilien, im Baskenland, in Deutsch-, oder Ungarisch-Transsylvanien, in Rumänien, Tirol, Slowenien, Deutsch-Kärnten etc. kandidieren, um die ökonomischen und ökologischen Interessen der Bewohner zu vertreten.

Je größer die Masse eines Landes ist, desto schwieriger ist die Aufrechterhaltung der Stabilität und desto mehr muß auf die Interessen und Angste der einzelnen Bürger Rücksicht genommen werden. Man braucht daher eine echte Internationalisierung der politischen Interessensvertretungen durch bürgerliche und marxistische Parteien auf einer gesamteuropäischen Basis. Ein Europa der Großkonzerne ist kein dauerhaftes politisches Konzept. Es sind die sozialistischen und christ-demokratischen Parteien, die wegen ihrer gegenwärtigen totalen Entideologisierung niemanden begeistern können. Sie verlieren zunehmend Einfluß auf die Jugend, weil sie Dinge vertreten, die der ureigensten Parteiideologie, der Erhaltung der Menschenwürde, widersprechen. Auf die Dauer kann man nicht erfolgreich sein, nur weil man als kleineres Übel angesehen wird, Posten vermittelt und am Korruptionskuchen mitschneiden läßt.

Die Konzept- und Instinktlosigkeit der österreichischen Regierungskoalition im Rahmen der EG Debatte ist erschütternd. Die offiziellen Aussagen gleiten immer mehr auf die Ebene der Beschimpfung von EG Zweiflern ab, die als blöd, uneinsichtig, „Mir san mir Obskuranten“ und unbegründet „ängstliche Menschen“ abgewertet werden, die von Politik und Wirtschaft nichts verstehen. Mandatare mit anderer Meinung werden aus Führungspositionen entfernt, Personen mit anderer Meinung wird der Zugang zu den Massenmedien verwehrt. Öffentliche Schimpfkanonaden sind immer ein Zeichen fehlender Argumente. Diese Aussagen gipfeln in dem augenscheinlichen Unsinn, daß man Österreich nur erhalten kann, wenn man es aufgibt!

Diese auf völliger Entideologisierung beruhende bedingungslose Kapitulation der österreichischen Politiker als Rechtsnachfolger des Edlen Kurt von Schuschnigg („Gott schütze Österreich!“) verstört die Bürger und führt zu einer EG-negativen Einstellung. Genau so wie in Dänemark werden diejenigen Bürger abgestoßen, die es sich erlauben, aus der Geschichte gelernt zu haben und die weiter denken als bis 1995. Sie stehen einer europäischen Vereinigung prinzipiell positiv gegenüber, aber nur dann, wenn sie auf einer soliden Grundlage steht, die eine lange friedliche Zukunft garantiert. Sie lehnen eine bedingunslose Aufgabe der Eigenständigkeit und eine Kapitulation vor Konzerninteressen und eigenen, sowie fremden, nationalen Dominanzversuchen striktest ab.

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