FORVM, No. 147
März
1966

Das Urteil

Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Kommunist das Urteil, das die Geschworenen im Prozeß Sinjawski-Daniel in Moskau fällten, unbeteiligt zur Kenntnis nimmt. Wir haben es hier mit einer, insbesondere für Frankreich, folgenschweren Tatsache zu tun. Strafen von 7 und 5 Jahren Arbeitslager wurden über Menschen verhängt, denen man nichts anderes zur Last legte, als daß sie Texte geschrieben und veröffentlicht haben, die vom Standpunkt der Anklage — wogegen sich die Angeklagten verwahrten — antisowjetische Propaganda darstellen.

Wir können in keiner Weise vergessen, was wir der Sowjetunion und den Völkern dieses Staates verdanken: um den Preis ihrer Arbeit und ihrer Leiden konnte der erste sozialistische Staat der Welt errichtet werden, der allein schon durch seine Existenz die Perspektiven der Geschichte tiefgreifend verändert hat. Und wie könnten wir als Franzosen den entscheidenden Anteil vergessen, den die Sowjetunion im Krieg gegen den Hitlerismus geleistet, die Opfer, die sie dabei auf sich genommen hat? Anderseits liegt das Problem keineswegs in der Person der Verurteilten, in ihrem schriftstellerischen Talent. Selbst ein mittelmäßiger Schriftsteller hat das Recht, in Freiheit zu leben. Es handelt sich um etwas ganz anderes.

Daß man mit dem, was diese Männer geschrieben haben, nicht einverstanden ist, daß man ihnen dies mitteilt, daß man sie zu einer Geldstrafe wegen Übertretung eines Gesetzes, das den unkontrollierten Export ihrer Werke verbietet, verurteilt, das mag alles noch durchaus hingehen, was immer meine persönlichen Vorbehalte gegenüber einem solchen Gesetz sein mögen.

Daß man sie aber wegen eines Romans oder einer Erzählung der Freiheit beraubt, heißt aus Meinungsäußerungen Meinungsverbrechen machen, heißt einen Präzedenzfall schaffen, der dem Interesse des Sozialismus mehr schadet, als dies die Werke Sinjawskis und Daniels je könnten. Man muß befürchten, daß solcherart die Meinung entstehen könnte, diese Art von Verfahren liege im Wesen des Kommunismus und das jüngst gefällte Urteil weise darauf hin, wie die Justiz in einem Land aussehen wird, das die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt haben wird. Es ist unsere Pflicht, öffentlich zu versichern, daß beides nicht der Fall ist und auch in Zukunft nie der Fall sein wird — zumindest nicht in Frankreich, wo wir die Verantwortung dafür tragen. Die Politik unserer Partei beruht auf einigen wenigen wesentlichen Thesen: Möglichkeit des friedlichen Überganges zum Sozialismus durch Erreichung der Mehrheit; Ablehnung des Einparteiensystems, folglich Bündnis mit der sozialistischen Partei und den anderen demokratischen Parteien zum Zweck des Überganges zum Sozialismus, seines Aufbaus und seiner Erhaltung.

Das ist nur möglich, wenn die Kommunistische Partei, wie groß auch ihr Gewicht im Lande ist, den Prinzipien der politischen Demokratie, die ein Bestandteil der französischen Tradition sind, treu bleibt, insbesondere durch die Zusicherung, daß sie in Hinkunft die Rechtsprechung nicht ermächtigen wird, gegen Meinungsäußerungen Prozeß zu führen und Urteile zu fällen.

Wir wollen hoffen, daß es zum Wohl der Sache, die uns vereint, in diesem Prozeß eine Berufung geben wird. Es steht uns nicht zu, einem großen Land, das unser Freund ist, Verhaltensvorschriften zu machen; wir würden jedoch schuldig werden, wenn wir ihm verheimlichten, was wir denken.

(„L’Humanité“, 16. Februar 1966)

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